Verkaufsstart von Cyberpunk 2077 CD Projekt: Vom Raubkopierermarkt zum Milliardenunternehmen

In Cyberpunk steuern Spieler ihren selbst erstellten Charakter durch eine dystopische, frei begehbare Spielwelt im Jahr 2077. Dort erfüllen sie Aufgaben, um mehr über die Geschichte der Spielwelt und des Protagonisten zu erfahren. Quelle: imago images

Der polnische Spieleentwickler CD Projekt hat es in kurzer Zeit zu Europas wertvollstem Videospielunternehmen gebracht. Nun erscheint Cyberpunk 2077. Das Spiel entscheidet über die Zukunft der Firma – auch an der Börse.

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Manche Fans hatten schon befürchtet, der Name des Science-Fiction-Videospiels „Cyberpunk 2077“ sei Programm: Das Erscheinungsdatum des Spiels verschob sich immer wieder. Vom April auf den September, dann auf den November. Jetzt erscheint das Videospiel am 10. Dezember tatsächlich für Playstation, Xbox und den Computer – deutlich vor dem Jahr 2077.

In Cyberpunk steuern Spieler ihren selbst erstellten Charakter durch eine dystopische, frei begehbare Spielwelt im Jahr 2077. Dort erfüllen sie Aufgaben, um mehr über die Geschichte der Spielwelt und des Protagonisten zu erfahren. Sie kämpfen mit Fäusten oder Waffen gegen Gegner, erkunden die futuristische „Night City“ oder versuchen in Gesprächen mit virtuellen Charakteren Informationen zu sammeln.

Gamer erhoffen sich Action und Abenteuer in nie da gewesener Spieltiefe. Kaum ein Spiel wurde in den vergangenen Jahren so sehnlich erwartet, die Erwartungen sind gigantisch. Völlig enttäuscht werden sie offenbar nicht. Die ersten Spieletester vergeben Bestnoten, loben Inszenierung, Handlung und Atmosphäre des Abenteuers. Bei all dem positiven Feedback dürfte den Verantwortlichen eine Last von den Schultern fallen. Doch der Erfolgsdruck bleibt gigantisch.

2012 hatte CD Projekt die Entwicklung von Cyberpunk 2077 angekündigt, 121 Millionen Euro sollen seitdem laut dem Finanzreport des Unternehmens in das Projekt geflossen seien. Die Erwartungen von Fans sind gigantisch, das Spiel muss sich verkaufen wie geschnitten Brot, um die Rekordentwicklungskosten wieder zu erwirtschaften.


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„Videospielentwicklungen sind enorm risikobehaftet“, weiß Odile Limpach. Sie ist Professorin für Game Economics und Entrepreneurship am Cologne Game Lab der TH Köln und hatte viele Jahre Führungspositionen beim französischen Publisher Ubisoft inne. Charakteristisch sind lange Entwicklungszeiten, bei denen viel schief gehen kann. Häufig müssen Entwickler ihre Projekte nach ein oder zwei Jahren wegen Problemen bei der technischen Umsetzung einstampfen. Bei Entwicklerstudios, die zu großen Konzernen wie Ubisoft, Electronic Arts, Sony oder Microsoft gehören, können solche Misserfolge finanziell aufgefangen werden. Für unabhängige Studios wie CD Projekt können sie tödlich sein. Jedes neue Spiel muss Erfolg haben. Auch um die Aktionäre zufriedenzustellen.

Das Unternehmen ist an der Börse mit mehr als acht Milliarden Euro bewertet. In diesem Sommer war CD Projekt zwischenzeitlich mehr wert als der französische Publishergigant Ubisoft – lange Zeit Europas unangefochtene Nummer 1. Mehr als 1100 Angestellte hat CD Projekt heute an seinen Standorten in Warschau, Krakau und Breslau. Im ersten Halbjahr 2020 hat das Unternehmen umgerechnet 81 Millionen Euro umgesetzt, der Nettogewinn lag bei etwa 33 Millionen Euro. Die Aktie von CD Projekt stieg 2009 bei rund 25 Cent ein. Mittlerweile liegt sie bei mehr als 90 Euro.

Ein Umstand, den treibenden Köpfe des Unternehmens am Anfang in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet hätten.

Start auf dem Raubkopiermarkt

Die Geschichte des polnischen Videospielunternehmens CD Projekt beginnt weit weg vom Aktienmarkt, dort, wo andere Entwickler Millionenumsätze verlieren: auf dem Schwarzmarkt für raubkopierte Spiele.

Marcin Iwiński geht noch zur Schule, als die Sowjetunion und der Sozialismus zerbrechen. Er ist riesiger Fan von Videospielen, in Geschäften gibt es die westliche Unterhaltungssoftware aber fast nirgendwo zu kaufen. Allerdings existieren in Polen kaum Kopierschutzgesetze. In vielen Städten entstehen Computermärkte, auf denen Raubkopien verkauft werden. Wirklich legal ist das nicht, wirklich illegal auch nicht. „Die Computermärkte waren unser Fenster zur Welt“, sagt der noch immer amtierende Unternehmenschef Iwiński heute. Er beginnt, sich über einen Bekannten in Griechenland Kopien der neuesten Videospiele zu besorgen. Dann verkauft er sie auf dem Warschauer Computermarkt. Durch seinen Kontakt in Griechenland hat er neue Spiele im Angebot, die zuvor niemand in Polen gesehen hat. Schnell wird er in der Szene bekannt.

Zusammen mit seinem Freund Michal Kiciński entschließt er sich, 1994 das Geschäft in die Legalität zu führen und ein Unternehmen zu gründen. Gerade ist die CD Rom auf den Markt gekommen – ein Game Changer im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre Firma nennen sie deshalb CD Projekt.

Iwiński und Kiciński importieren Spiele von kleinen US-amerikanischen Händlern. Erstens, um sie selbst vor allen anderen spielen zu können, und zweitens, um sie dann in Polen zu verkaufen. „Wir waren selbst Gamer, das hat uns von der Konkurrenz unterschieden“, sagt Iwiński. Er erinnert sich daran, teils bis 7 Uhr morgens die eigenen Produkte gespielt zu haben. „Am nächsten Tag waren wir praktisch nicht zum Arbeiten zu gebrauchen“, sagt er lachend.

Altes Geschäftsmodell geriet unter Druck

Die Idee, selbst Spiele zu entwickeln, wird eher aus der Not heraus geboren. Nach der Gründung des Unternehmens 1994 konzentriert sich das Geschäft zunächst auf den Vertrieb und die Lokalisierung der Spiele ausländischer Hersteller, also die Übersetzung von Texten und der polnischen Synchronisation der Dialoge. Damit ist das Unternehmen durchaus erfolgreich, auch weil es neue Standards einführt und einige clevere Ideen hat. „Wir haben zum Beispiel bekannte polnische Schauspieler als Synchronsprecher engagiert“, sagt Iwiński. „Wir haben niedrigere Preise eingeführt und den Markt damit für die Massen geöffnet.“ Die Erfahrung des Warschauer Computermarktes habe geholfen, die richtigen Spiele auszuwählen, meint Iwiński. „Wir wussten, was die Spieler interessiert.“

Aber das Geschäftsmodell gerät unter Druck. Der polnische Markt wächst und wird damit attraktiver für die Konkurrenz aus dem Ausland. Große Händlerketten für Videospiele formieren sich, immer mehr Publisher gründen eigene Niederlassungen in Polen. Zur gleichen Zeit bittet ein alter Geschäftspartner CD Projekt, sein Spiel in Polen zu vertreiben. Da das Spiel ausschließlich für Spielekonsolen entwickelt worden war, es in Polen damals aber nur einen Markt für PC-Spiele gibt, soll CD Projekt das Spiel auf den PC portieren. Eine ideale Möglichkeit zur Expansion: „Wir wollten sowieso schon immer selber Spiele entwickeln“, sagt Iwiński. Zum ersten Mal begibt sich das Unternehmen in die Spieleentwicklung und stellte unter anderem Adam Badowski ein. Er ist heute Chef des Entwicklerstudios CD Projekt Red, das für die Produktion der Videospiele verantwortlich ist.

„The Witcher“ bringt den Durchbruch

Mitten in der Entwicklung gerät der Auftraggeber in finanzielle Schwierigkeiten und kann CD Projekt nicht mehr bezahlen. Das Projekt wird abgebrochen, CD Projekt will aber weiter in die Entwicklung von Videospielen expandieren. Das Team entschließt sich, aus den bereits bestehenden Teilen ein eigenes Spiel zu entwickeln. Für wenig Geld kaufen die Polen die Lizenz der Witcher-Bücher von Autor Andrzej Sapkowski. „Der Mann ist Polens Tolkien“, sagt Iwiński. In Polen sind Sapkowskis Bücher berühmt, im Rest der Welt sind sie damals wohl nur sehr hart gesottenen Fantasy-Fans bekannt. Dennoch ist die Lizenz eine gute Möglichkeit, zumindest etwas weniger Risiko am Markt einzugehen.

Die fünf Jahre andauernde Entwicklung von „The Witcher“ ist durch die fehlende Erfahrung teils holprig: „Gerade in den ersten zwei Jahren haben wir jede Menge Geld verbrannt, weil wir erst lernen mussten, wie die Produktion von Videospielen zu organisieren ist“, erinnert sich Iwiński. Das Spiel erscheint 2007 dennoch und ist bei Spielern und Kritikern ein großer Erfolg. Insbesondere in Europa verkauft sich das Spiel sehr gut. Es ist der Beginn einer Aufstiegsgeschichte. Mit The Witcher 2 gelingt CD Projekt 2011 der weltweite Durchbruch. Der dritte Teil der Reihe ist 2015 das am meisten erwartete Spiel des Jahres und hat sich bis heute über 28 Millionen Mal verkauft. Im Erscheinungsjahr setzt CD Projekt knapp 180 Millionen Euro um. Cyberpunk 2077 soll diese Zahlen nun nochmal übertreffen.

Verkaufsstarker Hexer

Die „The Witcher“-Reihe ist das bekannteste Produkt des Entwicklerstudios. Die drei Spiele haben sich zusammen mehr als 50 Millionen Mal verkauft, es gibt eine erfolgreiche Serienadaption auf Netflix. „CD Projekt hat es geschafft, eine Marke aufzubauen und nicht einfach nur ein Spiel für eine bestimmte Plattform zu entwickeln“, erklärt Gameswirtschaftsexpertin Odile Limpach. „Seine Marke weltweit so zu etablieren gelingt nicht vielen.“ Spieler steuern den „Hexer“ Geralt von Rivia in einer mittelalterlichen Welt und erlegen Monster, erkunden die frei begehbare Welt oder verändern durch Entscheidungen die Geschichte des Spiels. Die Erfolgsformel der Witcher-Spiele soll auch Cyberpunk zum Bestseller machen.

Michael Bhatty ist Professor für Game Design an der Mediadesign Hochschule in Düsseldorf. Er nutzt die Spiele von CD Projekt in seinem Unterricht häufig als Anschauungsbeispiele. „CD Projekt hat früh verstanden, dass eine offene Spielwelt nicht nur eine langweilige offene Fläche sein darf, durch die sich der Spielercharakter bewegt“, sagt Bhatty. In CD Projekts „The Witcher 3“ zum Beispiel gebe es alle 30 Sekunden eine Stimulation: eine Begegnung mit Banditen, Monstern, eine geografische Besonderheit. „Die Spiele haben eine lebendige Welt, Spieler können auch einfach den Sonnenaufgang über einer wunderschönen, und gut recherchierten, Landschaft genießen oder Rehe im Wald beobachten.“ Die europäisch anmutende Spielwelt und ihre Charaktere böten zudem eine angenehme Abwechslung zu den Pendants aus den USA oder Asien.

Überstunden-Skandal belastet Image

CD Projekt versteht es dabei, sein Image als Verbündeter der Gamer zu pflegen. Zusatzinhalte, für die Spieler bei anderen Entwicklern zahlen müssten, gibt es oft kostenlos. Auch auf branchenübliche Kopierschutzmaßnahmen verzichtet das Unternehmen. „CD Projekt kommuniziert sehr offen mit seiner Fangemeinde, zum Beispiel durch Video-Making-ofs oder Entwicklertagebücher“, erklärt Bhatty. Auch Odile Limpach betont: „Es ist für Entwickler enorm wichtig, sich über die sozialen Medien möglichst früh eine Community aufzubauen.“ CD Projekt hat das verstanden und zieht die Spieler auf seine Seite. Die Fans machen auf den sozialen Medien bessere Werbung für die Produkte des Unternehmens, als es ein Marketingteam jemals könnte.

Dieses gut gepflegte Image stand Ende September zum ersten Mal unter ernsthaftem Beschuss. Das Wirtschaftsmagazin „Bloomberg“ hatte öffentlich gemacht, dass CD Projekt in den letzten Wochen vor Erscheinen des neuen Spiels Cyberpunk 2077 die Sechstagewoche eingeführt hatte, um das Spiel nach mehreren Verschiebungen am 19. November auf den Markt zu bringen. Damit ist CD Projekt in der Branche keinesfalls allein. Viele Entwickler verlangen ihren Mitarbeitern in den letzten Wochen vor Erscheinen eines Videospiels Dutzende Überstunden ab. Nach dem Erscheinen großer Titel stehen viele Mitarbeiter der Spielebranche deshalb vor dem Burnout oder verlassen die Branche.

Besonders pikant: Erst vor knapp einem Jahr hatte Marcin Iwiński versprochen, die Mitarbeiter respektvoller zu behandeln. Studiochef Adam Badowski war gezwungen, ein Statement herauszugeben. „Dies ist eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich je treffen musste, aber jeder wird für jede zusätzliche Stunde, die er investiert hat, gut entschädigt“, heißt es darin unter anderem. Die Kritik an der Entscheidung bleibt trotzdem groß. Vor allem, weil CD Projekt den Erscheinungstermin trotz Überstunden erneut verschob – eben auf den 10. Dezember.

Große Freiheit: Wohin der Spieler in Cyberpunk 2077 geht, was er macht und wie er die Geschichte erlebt, bleibt in weiten Teilen ihm überlassen. Quelle: PR

Und auch jetzt, wo weitere Verzögerungen ausgeschlossen sind, ist der Druck auf CD Projekt enorm. Zwar gilt als ausgemacht, dass Cyberpunk 2077 weiterhin sehr gute Wertungen von Spielemagazinen erhalten und sich wohl achtstellig verkaufen wird. Sollten die enormen Erwartungen der Fans aber während des Spielens enttäuscht werden, könnte das zum Problem für künftige Entwicklungen werden. Und alles unterhalb eines gigantischen Verkaufserfolgs wird zumindest die weiteren Expansionspläne des Studios verlangsamen. Bislang zehrt CD Projekt als Spieleentwickler vor allem vom Witcher-Franchise. Cyberpunk ist der erste Versuch, etwas Neues in dieser Größenordnung zu wagen. Denn dass mehr Standbeine gebraucht werden, ist eigentlich klar. Mittelfristig möchte Iwiński das Unternehmen weiter ausbauen und zwei große Projekte gleichzeitig entwickeln können.

Zu Gute kommt dem Unternehmen bis dahin aber seine duale Struktur: Das Entwicklerstudio CD Projekt Red ist für die Produktion der Videospiele verantwortlich. Auf der Website gog.com vertreibt CD Projekt außerdem digital die Spiele von mittlerweile über 500 anderen Entwicklern. Das schafft Synergien: Wer Spiele von CD Projekt spielt, erstellt sich einen Account auf GOG. „So können wir mit unseren Spielern kommunizieren und den Kundensupport organisieren“, sagt Iwiński. Das ist praktisch für Marketingzwecke, macht das Unternehmen unabhängiger von anderen Vertriebspartnern und sorgt in den vier bis fünf Jahren, die zwischen den großen Neuerscheinungen des Studios liegen, für einen netten zusätzlichen Umsatz. Das hilft CD Projekt, sich mehr Zeit für die Entwicklung ihrer Spiele nehmen zu können. Branchenüblich sind Entwicklungszyklen zwischen zwei und drei Jahren.

Mit diesem Puffer und einem Erfolg von Cyberpunk 2077 könnte CD Projekt also weiter durchstarten. Der Siegeszug des Unternehmens mit Wurzeln auf dem Warschauer Raubkopiermarkt würde weitergehen.

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