Wenn es nach den jüngsten Entwicklungen und Innovationen geht, wird unsere Zukunft gespenstisch. Unsere Gehirne schreiben Social-Media-Posts, ohne dass wir sie tippen müssen. Die Werbung greift tief in unser Unterbewusstsein ein, kennt unsere Wünsche und Bedürfnisse und steuert unsere Käufe, ohne dass wir einen Finger rühren müssen. Ist das die Zukunft, von der wir träumen?
Auf seiner jüngsten F8-Entwicklerkonferenz stellte Facebook ein neues, faszinierendes Konzept vor: Das weltweit führende Online-Netzwerk will Menschen direkt aus dem Gehirn Worte in ihre Computer schreiben lassen. Nicht weniger als 60 Forscher sind auf das visionäre Projekt angesetzt. Das klingt nach Science Fiction - und bleibt es womöglich auch.
In den Adern gefriert das Blut
Facebook betont, dass man keinesfalls beabsichtige, wahllos die Gedanken der Nutzer zu lesen. Nur die Gedanken, die an das Sprachzentrum weitergeleitet würden, seien angeblich gemeint. Wie man diese von anderen Gedanken zu trennen beabsichtigt, darüber schweigt sich Facebook aus. Dennoch dürfte schon die Ankündigung Datenschützer, Politiker und User aufschrecken. Denn Facebook verdient Milliarden mit Werbung, die individuell auf die Nutzer zugeschnitten wird. Alleine die Vorstellung, dass diese Werbung künftig sogar an unsere Gedanken angepasst werden könnte, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren.
Dem Mediaexperten Ralf Schwartz hat das keine Ruhe gelassen. Er testete aus, wie das Ergebnis aussähe, wenn unser Gehirn direkt postet. Er verfasste einen lesenswerten Blogpost konsequenterweise bei Facebook („Wow! F*** this works!“) und schließt mit den Worten: „Denn wir sind alle ein bisschen Tourette.“
In eine ähnliche Kerbe schlägt eine andere Meldung, in der es ebenfalls um Facebook geht. Die australische Zeitung „The Australian“ veröffentlichte ein geheimes Dokument, in dem beschrieben wird, wie Werbungtreibende durch Facebook-Beiträge von Jugendlichen auf deren Stimmung schließen können, um dann gezielt Anzeigen zu schalten.
Facebook überschreitet den Rubikon
Dem Bericht zufolge ist es Facebook möglich, Informationen zur Psyche der Nutzer zu sammeln, um damit Geschäfte zu machen. Das Netzwerk „nutze diese Daten, um Werbekunden den passenden Rahmen für ihre Werbeschaltungen zu bieten“.
Mit dieser neuartigen Form der Überwachung mitsamt der Schlussfolgerung auf die Stimmung der User überschreitet Facebook in den Augen vieler den Rubikon des Erlaubten. In einem ersten Statement entschuldigte sich Facebook zwar. Doch es wird den Konzern wohl nicht davon abhalten, solche Datenanalysen weiter zu betreiben. In einer zweiten Erklärung bezeichnete Facebook den Artikel als „irreführend“ und stritt alles ab.
Dagegen erscheint Amazons Alexa und die Verbindung von Sprachassistent, Smart Home und Supermarkt fast wie ein Kinderspielzeug.
Der Blick ins Unterbewusstsein
Es stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Werbung in Zukunft unsere intimsten Gedanken und Gefühle für ihre Zwecke nutzen wird. Die noch junge Disziplin des Neuromarketings behauptet, genau das zu können. Es geht dabei um die Optimierung von Marketingprozessen. Unsere Kaufentscheidungen sind nun einmal erheblich stärker durch Emotionen als durch rationale Überlegungen geprägt. Da wir Konsumenten uns aber nicht all unserer Motive bewusst sind und demzufolge keine verlässliche Auskunft darüber geben können, erhofft man sich durch den Einsatz neurokognitiver Methoden den direkten Zugriff auf unser Gehirn.
Facebooks Blick in unser Gehirn
Unter dem Einsatz von EEG und MRT versprechen die Neuromarketer Einsichten in unsere Gefühlswelten, auf welche Stimuli wir reagieren und wie unser Unterbewusstsein werblich beeinflusst werden kann. Unternehmensberatungen, die in diesem Feld tätig sind, versprechen „einen Blick in das Unterbewusstsein des Kunden“ und bieten von der „synästhetischen Verankerung Ihrer Botschaften“, „gezielten Steuerung der emotionalen Wirkung Ihres Produktes“ bis zur „emotionalen Navigation für mehr Business“ an, was das Marketing-Herz begehrt.
Kritiker bezweifeln, ob die Laborsituation, in der diese Neuro-Forschung stattfindet, Rückschlüsse auf das wahre Leben zulässt, das beim Einkauf durch unzählige Ablenkungsfaktoren geprägt ist. Das gilt nicht minder für Situationen, in denen wir Werbung im Fernsehen, im Radio oder Online ausgesetzt sind. Im Fachjournal „Absatzwirtschaft“ schreibt Heiko Burrack: „Die Welt der Neuroexperten ist so einfach, aber das Hirn arbeitet leider (oder zum Glück) sehr viel komplizierter.“
Zu Ende denkt keiner
Während Agenturen wie Serviceplan mit dem heiklen Thema behutsam umgehen, steckt der Markt voller Heilsbringer, die Werbekunden geradezu phantastische Wirkungen versprechen. Was jedoch stutzig macht: Wenn Neuromarketing wirklich funktioniert, wenn dadurch unsere Kaufentscheidungen mühelos in jede gewünschte Richtung gesteuert werden können, würde es doch längst jedes Unternehmen mehr oder weniger erfolgreich einsetzen. Das ist aber nicht der Fall.
Zu Ende gedacht ist es wie beim Einsatz von Big Data: Wenn alle Werbetreibenden uns so einfach steuern könnten, würde sich die Wirkung alsbald wieder aufheben. Oder unsere Emotionen würden durch Neuro-Werbung so hin- und hergerissen, dass wir am Ende resignieren - und uns einfach für die billigste Marke entscheiden. Genau das ist schon heute das Resultat in der deutschen Werbe-Wirklichkeit: Vor lauter Werbe-Overkill schalten die Verbraucher auf Durchzug und stöbern nur noch nach Sonderangeboten. Daher sind neue Lösungen durchaus gefragt. Neuromarketing ist es vermutlich nicht.
Der Mensch: Mehr als nur Werbe-Opfer
Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass Unternehmen wie Facebook sich alle Mühe geben, in unser Gehirn zu schauen. Einsichten aus dem Umgang mit Big Data und das Beobachten unserer „Customer Journey“ sollen die Unternehmen schlauer und unser Verhalten so transparent wie ein Glashaus machen. Und Neuromarketing will selbst unser Unterbewusstsein für das Erreichen der Marketingziele dienstbar machen. Allen Mühen gemeinsam ist der unbändige Wunsch, uns in seelenlose Roboter der Werbeindustrie zu verwandeln.
Das Unternehmen Facebook in Zahlen
2016: 27.638 Mio. US-Dollar
2012: 5.089 Mio. US-Dollar
2006: 50 Mio. US-Dollar
Stand: April 2017
Quelle: statista.com
Monatlich aktive Nutzer: 1.860 Mio.
Monatlich aktive mobile Nutzer: 1.740 Mio.
5.919 Mio. US-Dollar (2016)
17.048 Mitarbeiter
28,2 Prozent
Dann wären die Verbraucher nicht mehr Herr ihrer Sinne und ihrer Entscheidungen. Aber so weit wird es nicht kommen. Alle, die derzeit an unseren Gehirnen herumfummeln, machen die Rechnung ohne den Wirt. Der Verbraucher ist mehr als Klick-Vieh und Werbe-Opfer. Er ist in erster Linie ein Mensch. Und als solcher bleibt er hoffentlich noch lange so komplex, dass sein Verhalten für die Werber undurchschaubar bleibt.
Das ist gut so. Dann blieben Marketing und Werbung ein Wettstreit um die beste Idee, die höchste Kreativität und die gelungenste Strategie.