Joachim Scholtyseck im Interview "Günther Quandt war ein geschickter Opportunist"

Der Historiker Scholtyseck hat die Rolle der Quandt-Familie im Dritten Reich erforscht - und verlangt 2011 im Interview der WirtschaftsWoche eine Aufarbeitung ihrer braunen Vergangenheit.

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Joachim Scholtyseck Quelle: Picture-Alliance/DPA

WirtschaftsWoche: Die 2007 ausgestrahlte Fernsehdokumentation „Das Schweigen der Quandts“ löste eine hitzige Diskussion zum Thema Zwangsarbeit aus. Die Familie Quandt hat Sie daraufhin mit der Aufarbeitung der Familiengeschichte beauftragt. 850 Seiten Text legen Sie vor, nur 80 davon befassen sich mit Zwangsarbeit bei den Quandt-Firmen. War die Aufregung vor vier Jahren übertrieben?

Scholtyseck: Nein, das Buch geht ja in mancher Hinsicht auf den im Film erhobenen Vorwurf zurück, die Familie verdanke ihren Reichtum vor allem der Zwangsarbeit während des Dritten Reichs. Deshalb ist es wichtig, den Aufstieg der Quandts im Überblick zu beschreiben, von der Gründung des Unternehmens Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Tod Günther Quandts 1954. Von 850 Seiten befassen sich 600 mit dem „Tausendjährigen Reich“. Dazu gehören die Rüstungsinvestitionen, die „Arisierungen“ und die Expansion des Unternehmens im Zweiten Weltkrieg. Die Zwangsarbeit ist eine wichtige Facette im Gesamtkomplex Quandt.

Zur Person

Stimmt der Vorwurf der Dokumentation, der Reichtum der Quandts beruhe auf der Ausbeutung von Zwangsarbeitern?

In dieser Zuspitzung stimmt er sicher nicht. Die Familie war schon vorher reich, vor allem durch die Beteiligungen an der Akkumulatorenfabrik AG (AFA), also der späteren Varta, und den Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken DWM. Aber es ist natürlich im Dritten Reich weiter Vermögen akkumuliert worden aufgrund der forcierten Rüstungspolitik des NS-Regimes in den Dreißigerjahren und im Zweiten Weltkrieg. In diesem Zeitraum sind in hohem Maß Zwangsarbeiter eingesetzt worden, erst Zivilarbeiter aus den westlichen Ländern, von 1940 an Kriegsgefangene, dann zusätzlich KZ-Häftlinge.

Um weiter gute Gewinne zu machen.

Sicher, moralische Bedenken spielten keine Rolle, es galten allein arbeitsökonomische Gesichtspunkte. Die Quandt-Unternehmen haben zwar versucht, ihre eigenen Arbeiter zu halten, aber als das kriegsbedingt nicht mehr ging, haben die Betriebsleitungen nicht gezögert, Zwangsarbeiter beim Arbeitsamt anzufordern. Die Initiative ging letztlich von den Unternehmen aus. Ob sich das für sie immer rentiert hat, ist allerdings heute kaum noch zu klären. Die Zwangsarbeiter sprachen kein Deutsch, mussten angelernt werden, waren nicht motiviert...

...aber sie waren billig.

Richtig, wobei Westarbeiter in der Regel besser bezahlt und behandelt wurden als Ostarbeiter. Diese standen ganz unten in der Hierarchie, aber immer noch über den KZ-Häftlingen, die gar nicht bezahlt wurden. Für sie zahlten die Unternehmen pro Kopf und Tag rund vier Reichsmark an die SS.

Die Geschichte der Quandts
Die Anfänge Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
Erster Weltkrieg Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
Luftrüstung Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
NS-Regime Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
Zwangsarbeit Quelle: Privat, aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
Nachkriegszeit Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts
Eine Generation weiter Quelle: Aus: Joachim Scholtyseck: Der Aufstieg der Quandts

Wie viele der bis zu 57.500 Quandt-Zwangsarbeiter waren KZ-Häftlinge?

Wenn man die in Hannover-Stöcken, in Berlin-Niederschöneweide, Sagan, Wien und Holleischen eingesetzten KZ-Häftlinge zusammennimmt, kommt man auf eine Zahl von wahrscheinlich über 3700, hinzu kommt noch eine schwer zu kalkulierende dreistellige Zahl von Häftlingen bei der Wintershall AG, an der Günther Quandt eine bedeutende Minderheitsbeteiligung hielt. Eine Besonderheit sind zweifellos die in der DWM-Fabrik in Posen eingesetzten polnischen Arbeiter, über 20.000, die unter zwangsarbeiterähnlichen Bedingungen beschäftigt waren.

Wie viele Zwangsarbeiter sind gestorben?

Gesamtzahlen gibt es nicht. Für das Lager des Batterieherstellers AFA in Hannover-Stöcken, das 1943 eingerichtet wurde und als Außenlager des KZ Neuengamme geführt wurde, ist der Tod von mindestens 403 Lagerinsassen dokumentiert. Die Arbeitsbedingungen waren lebensgefährlich. Die Häftlinge arbeiteten, getrennt vom Werkpersonal, zwölf Stunden am Tag, sie waren schutzlos giftigen Dämpfen ausgesetzt, Unfälle an den rotierenden Pressen führten nicht selten zum Tod.

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