Joachim Scholtyseck im Interview "Günther Quandt war ein geschickter Opportunist"

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"Günther Quandt war ein weitsichtiger Finanzinvestor"

Günther Quandt machte in der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg ein Vermögen. War er der typische Spekulant?

Auf jeden Fall war er ein weitsichtiger, manchmal waghalsiger Finanzinvestor. Anders als sein Vater, der Tuchfabrikant Emil Quandt, drang er früh über die engen Grenzen der märkischen Provinz hinaus, suchte in der Zeit der Hyperinflation ganz neue Expansionsmöglichkeiten und eroberte durch Spekulation Unternehmen, in die er sich dann mit großer Energie einarbeitete. Man könnte ihn mit Joseph Schumpeter daher durchaus auch einen schöpferischen Unternehmer nennen. Das spekulative Moment ist bei ihm immer dabei. Aber wenn er etwas übernommen hat, wie die AFA, stößt er es nicht ab, sondern baut das Unternehmen aus, modernisiert und rationalisiert es.

Was für ein Mensch ist er gewesen?

Ganz schwer zu sagen: In der Zeit, als er mit seiner zweiten Frau Magda verheiratet ist, der späteren Frau Goebbels, kommt er abends nach Hause und studiert den Berliner Börsenkurier, anstatt sich um seine junge Frau zu kümmern. Etwas anderes gibt es nicht für ihn. Er verkörpert eine extrem einseitige, ganz auf das Wirtschaftlich-Pekuniäre reduzierte Weltsicht. Bei vielen Unternehmern weiß man ja, was sie im Innersten bewegt. Aber was diesen Mann außer Geld bewegt hat, ist mir auch nach vier Jahren Recherche nicht klar. Mein Eindruck ist tatsächlich, dass er für andere Dinge kein Herz gehabt hat.

Passt das nicht zu der von Ihnen diagnostizierten moralischen Gleichgültigkeit?

Es hat jedenfalls das Immer-so-Weitermachen unter der NS-Diktatur erleichtert. Was man in „normalen“ Zeiten die „ehrliche Kaufmannsmoral“ nennt, das galt für Quandt – und für viele andere – nicht mehr unter den Bedingungen der Diktatur. Der moralische Referenzrahmen hatte sich völlig verschoben.

Welche Verantwortung trägt die heutige vierte Generation der Quandts?

Die Familie hat nach meinem Eindruck erkannt, dass es ein Fehler war, auf eine Aufarbeitung der Vergangenheit zu verzichten, wie es sie bei vielen deutschen Großunternehmen in den Neunzigerjahren gegeben hat. Sie garantierte mir freien Aktenzugang, das Privatarchiv wurde bis in den letzten Winkel geöffnet – und wird nicht wieder verschlossen. Diese Offenheit könnte ein Indiz sein für ernsthaftes Umdenken. Wenn das Buch dazu führt, dass die Familie über Moral und unternehmerische Verantwortung neu nachdenkt, dann könnte ich das nur begrüßen.

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