Kolumne Der Rhythmus zählt

Der Jazzpianist Herbie Hancock über seine Entdeckung der Worte als Musik.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Herbie Hancock, AP

Okay, Sie wollen wissen, welche Musik ich für essenziell halte, welche Songs eine Art Quintessenz für mich sind. Ganz ehrlich: Ich kann es Ihnen nicht sagen. Oder besser: Ich kann es Ihnen zwar sagen, aber morgen würde ich Ihnen vielleicht schon was ganz anderes sagen. Die Musik von Joni Mitchell etwa. Ich habe sie vor sieben, acht Jahren kennen- und schätzen gelernt; erst seither kann ich die Bedeutung von Text als klangliches Stilmittel ermessen. Worte waren für mich bis dahin kein musikalisches Ausdrucksmittel, ich habe ihnen nie Aufmerksamkeit geschenkt, ganz egal, was die Leute gesungen haben, es hat mich nicht interessiert. Seit ich Joni Mitchell kenne, ist das anders. Ihre vollendet poetischen Songs sind eine einzigartige Text-Klang-Symbiose, ein multimediales Gesamtkunstwerk, in das je nach Bedarf auch fotografische, bildnerische und tänzerische Elemente montiert werden. Ist es nicht das, worum es im Leben geht? Immer wieder an seine Grenzen gehen, stets nach vorne blicken, beständig seine Möglichkeiten erweitern? Miles Davis hat mich gelehrt, keine Angst davor zu haben, Schwächen zu benennen, an ihnen zu arbeiten, sie schließlich auszumerzen. Er wusste, wie man an Herausforderungen wächst, wie man sich unter Spannung hält, seine Neugier konzentriert, seine Könnerschaft erweitert. Es gab nichts, was ihn nicht interessierte, nichts, was er nicht als Anregung empfand. Miles Davis blieb immer in Bewegung – und ich habe gemerkt, dass diese produktive Unrast auch meiner Natur entspricht. Vielleicht bin ich deshalb nie Konzertpianist geworden. Ich stand schon 1952 mit noch elf Jahren auf dem Podium und habe Mozart aufgeführt. Aber letztlich hat es mich nicht interessiert, ein Virtuose alter Musik zu sein. Ich habe stets andere, unendlich viele musikalische Ausdrucksmöglichkeiten gesucht. Wayne Shorterm, der große Meister ist auch so ein Musiker: immer unterwegs, nie am Ziel – und deshalb stets jung und reif zugleich; bei ihm treffen sich alte Qualitäten und neue Impulse. Die CD seines neuen Quartetts – „Beyond the Sound Barrier“ – ist eine Sensation, Brian Blade am Schlagzeug ein geistreiches Genie, Danilo Perez ein absolut furchtloser Pianist und John Patitucci am Bass so klassisch geschult wie herrlich gedankenfrei. Das Beste aber ist, dass die vier nicht nur individuelle Spitzenkönner sind, sondern zusammen das beste Ensemble der Welt formen. Brian, Danilo und John kreieren einen gewaltigen Klangraum, in dem Wayne seine farbigen Saxofon-Melodien wunderbar entfalten, jeden Ton zum Statement veredeln kann. Michael Brecker ist neben Wayne der zweite Saxofonist von großem Format. Seine letzte CD „Pilgrimage“, posthum erschienen, ist absolut brillant: gesunde, komplikationslose Musik, die nichts glättet und nichts aufraut – ein beeindruckendes Testament. Joe Zawinul hat sein Testament sicher schon früher geschrieben: Die Musik von Weather Report, die er entscheidend mitprägte, gehört zu den künstlerisch bedeutsamsten Entwicklungen im Jazz. Und bitte: Vergessen wir nicht, dass Miles Davis’ „Bitches Brew“ ohne Joe Zawinul nie das Licht der Welt erblickt hätte. Es war Joe, der an der Seite von Miles dem elektronischen Keyboard im Jazz zum Durchbruch verhalf – und der ein Jahr zuvor die Geburtsstunde des Fusion Jazz mit „In a silent way“ eingeläutet hatte. Joe war die Brücke in die Zukunft, über die Miles Davis gegangen ist. Er war ein phänomenaler Musiker, sein „Mercy, Mercy, Mercy“ ist ein anerkannt schwarzes Stück Jazz. Ich muss zugeben, dass ich mich im Europäischen Jazz nicht sonderlich gut auskenne. Ich weiß nur, dass es phänomenale junge Musiker gibt, von denen wir in Zukunft viel hören werden. Einer von ihnen ist der in Armenien geborene Tigran Hamasyan. Er hat im vergangenen Jahr den Thelonius-Monk-Jazz-Piano-Wettbewerb gewonnen – und ich sage Ihnen: Wow, was für ein sagenhafter Pianist. Tigran bringt seine kulturellen Wurzeln mit in die Musik, er hat eine brillante Technik, aber vor allem hat er den Swing und den Rhythmus drauf. Ohne Rhythmus ist alle Musik nichts, auch die Klassik – das hat Schlagzeuger Tony Williams mir beigebracht: Er lehrte mich, der Freiheit von Karlheinz Stockhausen zuzuhören, eine musikalische Vitalität, die mich auch bei Igor Strawinskys „Sacre du printemps“ und „Rite of Spring“ oder bei Béla Bartóks „Konzert für Orchester“ immer wieder vom Hocker reißt.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%