Kunst "Trauma, Sehnsucht, Inspiration"

Der Künstler Günther Uecker über seine bewegte Kindheit auf der Halbinsel Wustrow, die Bedeutung von Heimat für seine Kunst und die Melancholie des Schweigens.

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Günther Uecker Quelle: Arne Weychardt für WirtschaftsWoche

WirtschaftsWoche: Herr Uecker, sind Sie auf Ihre alten Tage unter die Ornithologen gegangen?

Uecker: Wie kommen Sie denn darauf?

Sie haben zuletzt viel Zeit auf der Halbinsel Wustrow verbracht – einem Vogelparadies.

Wie ein Vogel habe ich mich immer gefühlt. Beschwingt in meiner Fantasie.

Sie haben in Berlin, Düsseldorf, New York gelebt, Ihre Arbeiten werden seit Jahrzehnten in Museen auf der ganzen Welt gezeigt. Warum hängen Sie so an einem Ort, an dem es heute außer verlassenen Militärbaracken und verfallenen Häusern nichts als wilde Tiere, Brombeerhecken und stachelige Distelfelder gibt?

Andere müssen bis in die Antarktis reisen, um ihren Pol zu finden. Meine Polarisierung hat hier stattgefunden. Wustrow ist bis heute unversiegbare Quelle meiner Inspiration, Ort meiner Sehnsucht. Das entdecke ich jetzt, mit ganz großer Scham. Ich kehre heim, wie der Sohn zum Vater.

Sie haben sich hier eine einfache Holzhütte gebaut, ohne Wasser und Strom. Wie verbringen Sie diese Tage der späten Heimkehr, die Sie alle paar Monate hierher führt?

Wenn ich hier bin, möchte ich alleine sein. Den Ofen anmachen, sinnieren, zeichnen, herumgehen – gern barfuß oder ganz nackt. Und manchmal einfach nur ankommen. Sitze ich hier, betrachte ich die Welt anders. Und die eigene Herkunft auch.

Viel ist ja nicht mehr übrig – Ihre alte Schule und beide Häuser, in denen Sie hier mit Ihren Eltern und Geschwistern bis Ende der Vierzigerjahre lebten, sind entweder völlig verfallen oder wurden von den russischen Besatzern dem Erdboden gleichgemacht. Enttäuscht?

Nein. Auf mich wirkt das alles verzaubert, verwunschen. Verwandelt in ein Still-Leben. Hier ist mein Pompeji. Dass ich das erleben darf, empfinde ich als besonderes Geschenk. Es ist wie mit einer alten Liebe: Man kennt sich, auch wenn man sich lange nicht gesehen hat. Ich wälze mich hier in der Natur wie im Bett der Liebe, fühle mich gewaltig angerührt, lasse mich darauf ein, was in mir erweckt wird.

Was denn?

Das Klima löst Melancholie in mir aus. Eine Stimmung, mit der ich zutiefst verbunden bin. Die so eindringlich ist, dass ich meine Gefühle am liebsten rausschreien würde, um dann zu schweigen. Das gleicht einer Vermählung mit der Seele. Wer dieses Schweigen aushält, wird reich belohnt.

Womit?

Man hört und sieht viel mehr – dass sich die Gräser aneinander reiben wie die Saiten einer Violine. Wie am Nachthimmel Lichtstreifen auftauchen. Gespenstisch. Diese Geräusche und Gerüche verbinde ich mit den Erlebnissen meiner Kindheit, die tief im Unterbewusstsein vergraben sind und nun an die Oberfläche kommen.

Woran erinnern Sie sich?

Etwa daran, wie ich schon als Kind in der Landwirtschaft anpacken musste – eggen, säen, pflügen. Die Erde verletzen, bevor sie Frucht hervorbringt. An die Pferde, die ich auf dem Feld führen musste, das Klicken ihrer Hufe an den Kieseln der Eiszeit, meine nackten Füße in der warmen Maierde. Mit sechs habe ich Schweine am Hinterbein festgehalten, damit der Schlächter sie in Ruhe abstechen konnte. Unsere Rinder habe ich durchs Sumpfland auf die Weide getrieben, dort nachts bei ihnen geschlafen, ihnen Wasser mit dem Kum gebracht – einem großen Holz, das über meiner Schulter lag und an dem rechts und links zwei volle Eimer hingen.

Was haben Sie daraus gelernt?

Eine elementare Wirklichkeit. Dass Sehen, Erkennen, Handeln eins sind. Was jetzt nicht getan wird, ist unwiederholbar. Der Zeitpunkt etwa, zu dem der Samen in die Erde muss, um sprießen zu können, liegt gewissermaßen in der Luft – das kann man riechen. Kommt man einen Tag zu spät, kann die Ernte gefährdet sein.

Was bedeutet das für Ihre Kunst?

Dass Material – Nägel, Sand, Erde, Holz, Stoff – unmittelbar künstlerischer Ausdruck ist. Gebrochenes Holz ist viel expressiver als gemaltes, wahrhaftiger als jedes illusionistische Nach- oder Abmalen. Ich will den Betrachter auf die wirkliche Welt lenken, auch auf den Stuhl, auf dem er sitzt. Ich möchte der Klage des Menschen über seine Einsamkeit Ausdruck verleihen. Der Schrei des Seins wird über » das Leben hinweg artikuliert. Das entspricht dem Eindringen der Natur in die Zivilisation. Das Poetische verzahnt sich mit dem Alltag der Menschen. Die Quellen der Kunst liegen außerhalb der Kunst. Die Kunst kann Dialoge anstoßen, retten kann sie den Menschen aber nicht.

Warum sind Sie dann nicht bei der Landwirtschaft geblieben?

Weil ich schon sehr früh gern gezeichnet habe. Mit vier Jahren habe ich aus Zeitungen Überschriften abgezeichnet, habe die 5 gemalt, die mir immer solche Angst gemacht hat mit ihrem wehenden Schopf und dem offenen Maul. Diese Art des Ausdrucks hat mich beeindruckt – obwohl wir weder Bücher noch Bilder zu Hause hatten.

Wurde Ihr Talent erkannt und gefördert?

Allenfalls später, in der Schule. Dort habe ich als Jugendlicher meine Mitschüler im Zeichnen unterrichtet. Mein Vater hat mich verprügelt, wenn ich zeichnete. Er hat das als abartig empfunden. Zeichnen musste ich immer heimlich, unterm Tisch, versteckt in einer Ecke. Weil ich nicht davon abließ, kam ich sogar für einige Zeit in ein Heim für schwer erziehbare Kinder.

Diese schlimmen Erinnerungen beflügeln Sie?

Ohne Negativ gibt es kein Foto. Hier war ja, bei aller Fron, immer was los. Es wurden Waffen getestet, nachts erhellte sich der Himmel, dagegen ist das Düsseldorfer Feuerwerk ein Witz. Und ich stand am Fenster, das war spannend. Aber ich lernte auch die Schrecken des Krieges kennen.

Wie?

Nachdem die Engländer im Mai 1945 die Cap Arcona, auf der Tausende von KZ-Häftlingen und Marinesoldaten zusammengepfercht waren, versenkt hatten, wurden hier Hunderte Leichen angeschwemmt. Die lagen wochenlang in der Sonne, mit offenen Mündern, voller Maden. Weil die Russen den Gestank nicht mehr aushielten, zwangen sie mich und zwei Freunde, die Leichen zu verscharren.

Wie haben Sie das ausgehalten?

Annähern konnten wir uns nur, indem wir mit dem Wind gingen. Wir haben Draht unter den Hals der Leichen geschoben, zu einer Schlinge zugedreht und die Körper in eine Kuhle geschleppt, die wir gegraben hatten. Ich war paralysiert. Das konnte ich nicht mal meiner Mutter erzählen. Anschließend lag ich stundenlang in der Badewanne. Diese Vernichtung des Menschen durch den Menschen...

...der Titel eines späteren Werkes...

...ist mein Thema geblieben, zeitlebens. Weil es mich so bedrängt hat, musste es wieder nach draußen.

Auch durch Ihre berühmten Nagelbilder?

Die Nägel sind zuerst einmal ein Versuch, mich zu verorten. Auch aus der Erinnerung an die Landwirtschaft. So sind schon vor gut 50 Jahren Bilder entstanden, auf denen ich eine Art eisernen Pinsel durch pastose Farbe geführt habe.

Diese Spuren erinnern an Ackerfurchen...

Ja. Aber wichtiger als das Ergebnis war mir das Werkzeug. Das Brett, durch das ich Nägel geschlagen hatte, war mir mehr Lebenswirklichkeit als das, was ich per Hand auf Leinwand oder Papier brachte. Durch den obsessiven Einsatz der Nägel in den Bildern selbst bekamen diese etwas Wehrhaftes. Sie sind Zeichen meiner Verletzungen, meiner inneren Aggression.

Klingt eher nach Trauma als nach Sehnsucht...

Wustrow ist Trauma, Sehnsuchtsort, Inspirationsquelle. Ich konnte schon damals nicht anders, als Angst, Mut, Sehnsucht, Schmerz und Freude zeichnerisch Ausdruck zu verleihen. Und mich so davon zu befreien. Das war manisch, wie ein Schrei in die Welt hinaus. Ich habe mich schon früh durch meine Kunst gestellt, die Ausdruck meines Wesens ist.

Sie hätten Ihr Leid auch in Worte fassen können.

Eben nicht. Ich war früher fast sprachunfähig. Mich über Worte auszudrücken habe ich erst später gelernt – im Rheinland, wo man ja heiter und schamlos alles verbal äußern kann. Das tut man im Norden nicht.

Das ist doch ein Klischee.

Eine typische Unterhaltung läuft hier doch so ab: „Kannst du dat seihn?“ „Jou, ick seih dat ook.“ Mehr Worte wurden nicht gemacht. Über das, was man sah, bestand schweigender Konsens. Mir lag das Zeichnen als Ausdrucksform einfach näher.

Zeichnen als Krankheit und Therapie?

Als fast krankhafter Ausdruck autistischen Handelns. Um alphabetisches Denken auszulöschen und das Imaginative, das » Ungenannte zu leben. Erst wo die Sprache versagt, beginnt das Bild. Da sind viele meiner Arbeiten durch Wustrow geprägt.

Welche meinen Sie konkret?

Nehmen Sie „Chichicastenango“: Ein kleines Holzboot, ähnlich dem, mit dem ich als kleiner Junge übers Haff gefahren bin. Ich habe es mit schwarzer Farbe bemalt, nahm Nägel, viele Nägel, und fing an zu hämmern – bis niemand mehr das Boot besteigen konnte. Ich legte den Mast um, machte ihn mit Nägeln unbrauchbar. Ein schwarzes Mahnmal mit dem weißen Segel der Barmherzigkeit. Oder meine Aschebilder, entstanden als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl. Damals wurde mein Sohn Jacob geboren, ich hatte panische Angst um ihn und seine Mutter. Die Bilder sind Ergebnis epileptischen Handelns. Ich legte mich rücklings auf die Leinwand, habe mit Kohle und Asche meine Umrisse festgehalten, mit Leim und Asche die Flächen vermalt – alles aus diesem unmittelbaren Empfinden heraus. Bis man atemlos wird und versteinert.

Waren Sie schon als Kind so besessen?

Wie oft saß ich als Kind am Ufer, habe an Bilder von Ernst Josephson gedacht. Eigenartige Zeichnungen von einer Königin mit vielen Punkten im Gesicht. Die wurde richtig lebendig, wenn ich sie anschaute und in ein Zwiegespräch geriet zwischen Gezeichnetem, Wahrnehmung und Erlebtem. Ein Dialog des inneren Erlebens.

Eine bewundernswerte Gabe...

Mich hat das damals vor allem einsam gemacht. Es gehörte zu meinem Leben, nicht verstanden zu werden. Aber ich merkte, dass das Zeichnen etwas Herausragendes, Impertinentes ist. Das zu erfassen, was ich sehe und spüre.

Und wie lange haben Sie den Wunsch in sich gespürt, zurückzukehren?

Immer. Schon als wir 1949 gehen mussten, habe ich geheult. Wir bekamen neues Land in der Nähe. Dort habe ich mich aber immer fremd gefühlt. Von Wustrow kam ich, das ist meine Heimat. Herkunft und Zukunft zugleich.

Warum dann die vielen Reisen?

Weil ich hoffte, das, was ich auf Wustrow erlebt hatte, anderswo wiederzufinden. Ob in Laos, Patagonien oder am Baikalsee. Herumstochern in der Welt, das wollte ich.

Anfang der Fünfzigerjahre war Ihre Welt der reale DDR-Sozialimus in Nordwest-Mecklenburg. Wie haben Sie das ausgehalten?

Anfangs sehr gut. Als Arbeiter- und Bauernkind kam ich auf eine Kaderschule.

Was haben Sie dort gelernt?

Dass, im Sinne des russischen Dichters Wladimir Majakowski, die Poesie mit dem Hammer gemacht wird. Wenn ich zeichnete, spürte ich die Faust. Das ist der wahre Ausdruck, nicht bloß der Schatten des Handelns. So kam ich übers Pflügen, Eggen und Säen zum plastischen Ausdruck. Das hat mein ganzes Leben geprägt.

Dass Kunst in der DDR Propagandamittel war, hat Sie nicht gestört?

Kunst im Dienste der Partei – das habe ich damals akzeptiert. Ich habe riesige Stalin-Porträts gemalt, wie Kinowerbung, für die Weltjugendspiele 1951 in Ost-Berlin eine riesige Picasso-Taube. Oder Plakate mit Propagandasprüchen, mit denen die Ostseeurlauber an die letzten Parteitagsbeschlüsse erinnert wurden. Ich war FDJ-Funktionär, hielt Bauern Schulungsvorträge über die bevorstehende Umwandlung der Gesellschaft, fuhr mit Chauffeur über die Dörfer, um zu kontrollieren, ob die Propaganda-Plakate auch richtig hingen.

Trotzdem haben Sie 1952 einen Fluchtversuch unternommen. Warum?

Weil die sozialistischen Agrartheorien nicht mit meiner Lebenserfahrung auf Wustrow übereinstimmten. Als ich feststellte, dass meine Zweifel immer geringer wurden, bekam ich panische Angst.

Wovor?

Nicht mehr zu merken, wann ich lüge. Nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 bin ich nach Westberlin geflohen. Dort wurde ich drei Monate von den Alliierten verhört und hauste in einer Kriegsruine.

Warum sind Sie nach Düsseldorf gegangen?

Das wollte ich schon zu DDR-Zeiten, als ich Zeichnungen von Otto Pankok gesehen hatte – Christus, wie er ein Gewehr über dem Knie zerbricht. Da wusste ich: Er ist mein Mann. Er war als Kommunist unter den Nazis verfolgt worden und lehrte an der Akademie in Düsseldorf. Also bin ich dorthin getrampt, habe im Freien geschlafen. Und in Düsseldorf dann in Gartenlauben oder den Geschäftseingängen der Kö.

Wo Pankok Sie mit offenen Armen empfangen hat, den Gesinnungsgenossen aus dem Osten?

Von wegen. Als er hörte, woher ich kam, riet er mir, wieder zurückzukehren. Im Westen würde ich nur verdorben. Das hat mich so geschockt, dass ich zusammenbrach. Pankok schrieb mich dann sofort an der Akademie ein und ließ mich in den Klassenräumen schlafen. Und seine Frau hat mir sonntags Kuchen gebacken.

Hatte Pankok recht – wurden Sie verdorben?

Das müssen andere beurteilen. Was ich wohl weiß: Hierher nach Wustrow zurückzukommen ist auch ein Risiko für mich.

Welches?

Mit der durch die Rückkehr provozierten Erinnerung meine Sehnsucht auszulöschen, meine Inspiration zu bannen. Und damit den Künstler in mir zu vernichten.

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