Kunstoase The Next Big Thing: Marfa

Das 2000-Seelen-Dorf Marfa in Texas ist zu einem Pilgerort der internationalen Kunstszene geworden. Die Einheimischen würden auf diesen Ruhm allerdings lieber verzichten.

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Bei Nacht sieht das hellbraune Gebäude aus wie ein Edward-Hopper-Gemälde. Sanftes gelbes Licht strahlt aus den Schaufenstern, in den Regalen stehen die Edelschuhe in Reih und Glied, auf den Markisen prangen zweimal fünf Buchstaben: „Prada“, in groß, darunter, kleiner, „Marfa“. Aber die schicke Glastür hat keine Klinke, und der Laden wird nie einen Kunden zu sehen bekommen. Denn „Prada Marfa“ steht einsam in der texanischen Wüste, weil das Schuhgeschäft kein Schuhgeschäft ist, sondern Kunst. Für 100.000 Dollar haben die Berliner Installationskünstler Ingar Dragset und Michael Elmgreen das Geschäft ohne Verkäufer im texanischen Marfa aufgestellt. Ihr Motto: „Ist es nicht phantastisch, dass es immer noch einige Dinge auf der Welt gibt, die man nicht mit Geld kaufen kann?“ Direkt nebenan grast eine Herde Rinder mit gewaltigen Hörnern. Der Schein-Laden ist nur ein Beispiel, mit dem sich das 2000-Seelen-Nest Marfa einen Namen in der internationalen Kunstszene gemacht hat. Jahrzehntelang gab es hier nur schönste Texas-Klischees: endlose Weite mit gelbem Stoppelgras, Kühe und Präriehasen, zwei Straßen, eine Eisenbahnlinie, ein Highway. Bis El Paso sind es dreieinhalb Autostunden – und selbst diese 600.000-Einwohner-Stadt an der Grenze zu Mexiko halten die meisten Texaner für den Inbegriff der Einöde. Von Zeit zu Zeit verirrten sich mal ein paar Filmenthusiasten in die Gegend von Marfa. Vor mehr als 50 Jahren wurde hier der James-Dean-Film „Giganten“ gedreht. In einer Einöde zu leben war den meisten Einheimischen ganz recht: Echte Cowboys sprechen eben nicht sonderlich viel. Und Kunst? Kunst brauchen sie ganz, ganz sicher überhaupt nicht. Dann kam Donald Judd. Der Bildhauer hatte die New Yorker Szene satt und suchte so viel Abstand wie möglich. In Marfa fand der vollbärtige Minimalist 1971 die ersehnte Öde – und unbegrenzten Platz für seine Kreationen. Er kaufte ein paar Grundstücke, ließ sich von der Prärie inspirieren und verfeinerte seine Kunstphilosophie entsprechend, nach der nun „die Kunst und die sie umgebende Landschaft unauflöslich miteinander verbunden sind“. Wie ein Bilderrahmen legen sich seine Skulpturen seitdem um den endlos blauen Himmel und die wehenden Wiesen von Westtexas. Über die Jahre pilgerten noch andere großstadtmüde Künstler ihrem Idol hinterher. Heute gilt Marfa unter Kennern nicht mal mehr als Geheimtipp, sondern als The Next Big Thing. Zu den Stars der Szene zählen die beiden Mäzene Fairfax Dorn und Virginia Leberman. Sie gründeten etwa die Kunsthalle „Ballroom Marfa“ und heimsten dafür zahllose Preise ein. „Marfa ist inzwischen ein überaus wichtiger Kunst-Standort in den USA geworden“, sagt Dana Friis-Hansen, Direktor des Austin Museum of Art, der selbst mehrmals im Jahr den neunstündigen Treck in die Pampa unternimmt, um die Wüsten-Szene zu sondieren. Die lange Anfahrt ist für Friis-Hansen kein Übel, sondern eine Verstärkung des Kunstgenusses: „Wer diese Schöpfungen sehen will, muss eben den weiten Weg in die Wüste auf sich nehmen, das ist wie bei den Pyramiden in Ägypten. Dafür wird er damit belohnt, die Kunstwerke in genau der Umgebung zu erleben, die die Künstler dafür vorgesehen haben. Für das richtige Verständnis der Werke ist das unbedingt nötig.“ Donald Judd ist seit zwölf Jahren tot, doch die von ihm gegründete Chinati-Stiftung hält in Marfa die Fahne der Kunst weiter hoch. Zu ihrem Tag der offenen Tür reisten kürzlich Tausende Besucher an, die durch die Galerien wanderten und den Blick über die Prärie schweifen ließen. Die Autos trugen Nummernschilder aus Kalifornien oder Kanada. Nicht jeder in Marfa ist indes glücklich über den neuen Status als Kunstmekka. Viele Einheimische betrachten mit Misstrauen das Künstlervölkchen, das sich in ihrer Kleinstadt niedergelassen hat und Bio-Sojachips knabbert. Den Namen von Judds Stiftung Chinati verhohnepipeln manche gern zu „Chi-Nazi“. „Unsere Stadt füllt sich mit Künstlern, Arschlöchern und Anwälten“, knurrte kürzlich ein Viehzüchter aus Marfa in der Zeitschrift „Salon“, der seinen Namen nicht nennen mochte. Denn gleichzeitig mit dem Kultfaktor explodierten im Steppenörtchen Marfa auch die Mieten – wenn Lifestyle-Magazine wie „Vanity Fair“ den Flair der örtlichen Farmhäuser lobpreisen. Mehr als ein Drittel der Bürger im Landkreis Presidio, in dem Marfa liegt, lebt unterhalb der Armutsgrenze; 70 Prozent der Einwohner von Marfa sind aus Lateinamerika eingewandert. Wegen der Spannungen zwischen klammen Einheimischen und künstlerischen Paradiesvögeln ernten Journalisten, die im Gefolge der Kunstszene nach Marfa kommen, meist nur Schweigen. Dabei sollte sich Marfa an den Einfluss großer Kunst längst gewöhnt haben: Seinen Namen erhielt das Dorf 1883 nach einer Figur aus Dostojewskis Monumentalroman „Schuld und Sühne“.

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