Lafontaine: "Eine neue Politik muss her!"

Der alte Flick pflegte mit Blick auf schlechte Unternehmensbilanzen zu sagen: „Entweder es ändern sich die Zahlen, oder es ändern sich die Gesichter.“ Er ging selbstverständlich davon aus, dass eine neue Unternehmensleitung eine andere und erfolgreichere Geschäftspolitik machen würde. Es wäre fatal, wenn die SPD-Führung glaubte, nach dem Wechsel an der Parteispitze sei alles in Butter.

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Schröder und Müntefering versichern unaufhörlich, die Reformpolitik werde fortgesetzt. Bei solchen Ankündigungen fasst man sich an den Kopf. Ein „Weiter so“ stoppt die Wählerverluste und Parteiaustritte nicht. Eine neue Politik muss her.

Was aber ist eigentlich eine Reform? Im Duden lesen wir, sie sei eine Umgestaltung, eine Verbesserung des Bestehenden. Offensichtlich verbindet die Mehrheit der Deutschen mit der Reformpolitik der rot-grünen Koalition eine Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse. Viele unserer Mitbürger und Mitbürgerinnen können das Wort Reform nicht mehr hören. Der neoliberale „Mainstream“ geht davon aus, die Kürzung der Renten, des Arbeitslosengelds und der Arbeitslosenhilfe, der Abbau des Kündigungsschutzes, eine zurückhaltende Lohnpolitik, die Aufgabe der paritätischen Finanzierung der Renten- und Krankenversicherung, die Streichung des Urlaubs- und Weihnachtsgelds, die Minderung der Entfernungspauschale sowie die Streichung des Arbeitnehmerfreibetrags seien Maßnahmen, die einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung zur Folge hätten. Damit wird behauptet, die Volkswirtschaft wachse, wenn es dem Volk schlechter geht.

Wirtschaftswachstum ist aber nur möglich, wenn die Leute Geld in der Tasche haben und nicht täglich verunsichert werden. Solange die Politiker das nicht begreifen, wird die deutsche Volkswirtschaft sich nicht erholen.

Unabhängig von den negativen wirtschaftspolitischen Auswirkungen der so genannten Reformen sind diese den Menschen nicht zu vermitteln. Wenn es nicht gerecht zugeht, werden auch notwendige unpopuläre Maßnahmen nicht akzeptiert. Solange nur die Mageren den Gürtel enger schnallen müssen, während die Dicken sich ein immer größeres Stück vom Kuchen genehmigen, so lange macht die Politik beim kleinen Mann keinen Stich.

Was aber sind im ursprünglichen Sinn des Wortes Reformen, also Verbesserungen des Bestehenden?

Sicher ein einfacheres und gerechteres Steuerrecht. Vor allem aber muss der Sozialstaat auf eine neue Grundlage gestellt werden. Alle Staatsbürger müssen sich an seiner Finanzierung beteiligen. Das war aber bisher nicht so. Beamte, Selbstständige und Besserverdienende klinkten sich ganz oder teilweise aus dieser Gemeinschaftsaufgabe aus. Zudem ist die überwiegende Finanzierung des Sozialstaats über die Löhne nicht mehr zeitgemäß. In der Shareholder-Value- und Erbengesellschaft spielen Vermögenseinkommen eine immer größere Rolle. Eine Verbesserung des Bestehenden wäre es, wenn alle Bezieher von Einkommen in die Sozialkassen zahlen und alle Einkunftsarten herangezogen werden.

Ein Blick in die Schweiz zeigt: So kann man verlässlich eine Rente finanzieren, die im Alter eine ausreichende Lebensgrundlage ist. Dazu kommen dann Betriebsrenten und die private Altersversicherung für diejenigen, die am Monatsende Geld übrig haben. Eine solche Jahrhundertreform des Sozialstaats stünde der SPD gut zu Gesicht. Sie wäre ein überzeugendes Kontrastprogramm zur Kopfpauschale der CDU/CSU und zur Privatisierungsideologie der FDP.

Wie aber überwinden wir die wirtschaftliche Stagnation? In Europa spricht sich langsam herum: Die amerikanische Geldpolitik ist weitaus erfolgreicher als die der EZB. Und der Stabilitätspakt ist eine Fehlkonstruktion, die das Wirtschaftswachstum abwürgt. Die EZB braucht ein neues Statut, das sie auch auf Wachstum und Beschäftigung verpflichtet. Der Stabilitätspakt muss einer wirtschaftlich vernünftigen Vereinbarung weichen: Wenn die Wirtschaft brummt, wird gespart, wenn sie lahmt, wird Geld ausgegeben.

Angesichts der jüngsten Erfahrungen in den USA ist es an der Zeit, das ideologische Vorurteil deutscher Ökonomen aufzugeben, in Zeiten der Globalisierung könne eine expansive Geld- und Fiskalpolitik nichts mehr bewirken. Sie wirkt noch zuverlässiger, wenn sie durch eine Lohnentwicklung ergänzt wird, die der Produktivität und Preissteigerung folgt. Die Irrlehre der Lohnzurückhaltung hat große wirtschaftliche Schäden angerichtet. Zwischen den Volkswirtschaften gilt: Wenn Lohndumping betrieben wird, verlieren alle. Ein einzelner Betrieb kann sich durch Lohnsenkungen Vorteile verschaffen, alle aber nicht. Im Kino kann ein Besucher seine Sicht verbessern, wenn er aufsteht. Wenn alle auf diese Weise besser sehen wollen, steht am Ende der ganze Saal.

Das Bestreben des Einzelnen, einen Vorteil zu erlangen, führt dazu, dass es allen am Ende schlechter geht. Der Trugschluss der Verallgemeinerung, der einzelwirtschaftlich vernünftiges Verhalten auf die ganze Volkswirtschaft überträgt, ist der Grundirrtum der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Deshalb kann sie nicht funktionieren.

Und daher würde auch ein Regierungswechsel von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb die deutsche Krankheit nur verschlimmern. Die SPD hat jetzt die Chance, einen radikalen Kurswechsel einzuleiten und die Synthese aus angelsächsischer Makropolitik und europäischer Sozialpolitik zu vollziehen. Wenn sie den Irrweg des Neoliberalismus verlässt und eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik macht, dann wird sie Vertrauen, Mitglieder und Wähler zurückgewinnen.

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