Manager-Selbstmorde Endstation Finanzkrise

Der schwäbische Milliardär Adolf Merckle wurde zum bisher prominentesten Opfer der Finanzkrise - aber längst nicht zu ihrem Einzigen. Wenn die Kurse fallen, Banken krachen und die Insolvenzzahlen steigen, häufen sich die Selbstmorde von Top-Managern.

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Blumen stehen am Montag, 12. Quelle: AP

Es ist eine kleine, zierliche, gut lesbare Unterschrift, mit der Adolf Merckle seine Geschäftspapiere zu paraphieren pflegte.

Am Montag der vergangenen Woche setzte der Unternehmer zum letzten Mal zu dem Schriftzug an: Merckle, der sich mit Millionen verspekuliert hatte und seit Wochen mit Dutzenden Gläubigerbanken über die Rettung seines Firmenimperiums verhandelte, beschaffte mit seinen Unterschriften zwar den dringend benötigten Überbrückungskredit, willigte aber gleichzeitig in den Verkauf von Ratiopharm – und damit in die Zerschlagung seiner Firmengruppe – ein. Dann ging Adolf Merckle in den Tod, legte sich auf die Bahngleise in seiner Heimatstadt Blaubeuren.

Er wollte nicht mehr mit ansehen müssen, wie sein Lebenswerk zerstört wird. Insbesondere lag ihm Ratiopharm am Herzen – das Unternehmen, Deutschlands ersten Billigpillen-Hersteller, hatte er in den siebziger Jahren aufgebaut. „Ratiopharm ist mein Kind", hatte er einmal freudestrahlend der WirtschaftsWoche gesagt. Nun wurde ihm sein Kind genommen – so muss es Merckle empfunden haben. Ein anderer Leitspruch des Unternehmers lautete: „Etwas aufzugeben, ist mir fremd." Seine Familie teilte mit, dass sich in der „durch die Finanzkrise verursachten wirtschaftlichen Notlage nicht mehr handlungsfähig gesehen habe.

Der schwäbische Unternehmer ist nicht die einzige Wirtschaftsgröße, die keinen anderen Ausweg aus dem drohenden Ruin sah, als sich zu töten. Seit Beginn der Finanzkrise häufen sich die Selbstmorde von Börsenspekulanten, Manager und Bankern rund um die Welt.

Suizidforscher Manfred Wolfersdorf, Leiter der Psychiatrischen Klinik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, hält Manager und Unternehmer für eine selbstmordgefährdete Berufsgruppe: "Ehrverlust und "narzisstische Kränkung", der Zusammenbruch des eigenen Ideals, seien, wie bei Merckle, die Hauptursachen bei Manager-Suiziden.

Einen Tag nach Merckles Tod erschoss sich in Chicago der Immobilienmakler Steven L. Good in seinem Jaguar in einem Wald bei Chicago. Kurz zuvor hatte er noch über geschäftliche Probleme geklagt. Kurz vor Heiligabend schnitt sich in New York der Fondsmanager Rene-Thierry Magon des Villehuchet die Pulsadern auf – der von ihm gegründete Investmentfonds Access International Advisors hatte durch den Großbetrüger Bernard Madoff 1,4 Milliarden Dollar verloren.

Es werden nicht die letzten Selbstmord-Todesopfer der Finanzkrise gewesen sein. Und es trifft nicht bloß Manager in den Chefetagen. In Los Angeles erschoss ein arbeitsloser Finanzinvestor erst Frau und Kinder, dann sich selbst. In Connecticut sprang ein 82-jähriger Aktienhändler aus dem Fenster. Auch andernorts mehren sich die Hinweise. Russische Ärzte berichten aktuell etwa über zunehmende Selbstmordversuche aufgrund von Finanznot und Arbeitslosigkeit. Und auch in Südkorea steigen die Selbstmordzahlen - ein Phänomen, das sich in nahezu jeder Wirtschaftskrise bislang beobachten ließ.

In Japan kletterte die Zahl der Suizide auf dem Höhepunkt der Asienkrise 1998 beispielsweise um 35 Prozent auf 33 000. „Bitte nicht in der Hauptverkehrszeit springen", mahnte pietätlos ein Schild an den Gleisen der Tokioter U-Bahn Station Shinjuku. Wissenschaftler, die die Todeswelle untersuchten, fanden in Abschiedsbriefen und beim Gespräch mit Angehörigen vor allem ein Motiv für die Selbsttötungen: Schulden.

Gefolgt von Aussagen wie „Geschäftsmisere", „Existenznot" und „Arbeitslosigkeit". Zwar dürfte auch die japanische Kultur Anteil am damaligen Suizid-Anstieg gehabt haben. Denn anders als in christlichen Gesellschaften gilt Selbstmord in Japan nicht als Sünde, sondern wurde lange Zeit als ehrenvolle Geste interpretiert, um in einer ausweglosen Situation das Gesicht zu wahren.

Aber auch in Europa und den USA hinterließen Rezessionen, Bankrotte und Kurseinbrüche stets Spuren in den Sterbetafeln. Nach dem Schwarzen Freitag von 1929 spotteten Zyniker, an den Fenstern der oberen Stockwerke in der Wall Street hätten sich Banker in einer Warteschlange einreihen müssen. Zwar verweisen Historiker die Darstellung, dass der Aktien-Crash zu einer Selbstmordwelle unter Spekulanten führte, ins Reich der Legenden. Klar ist aber, dass es mit der steigenden Arbeitslosigkeit in den Folgejahren zu einem Anstieg der Suizidraten in vielen Ländern kam. Einer der prominentesten Fälle war damals der des schwedischen Streichholzkönigs Ivar Kreuger.

Zeitweise stammen drei Viertel aller Streichhölzer, die weltweit verkauft werden, aus seinen Fabriken. Kreuger steigt zu einem der reichsten Männer seiner Zeit auf. Die Wälder, die ihm schließlich gehören, bedecken eine Fläche von der Größe Belgiens – und er spekuliert im großen Stil. Mitten in der Weltwirtschaftskrise verleiht er gewaltige Summen an klamme Staaten wie das Deutsche Reich. Er investiert alles, was er hat und übernimmt sich letztlich. Im März 1932 werden Kreugers Banken nervös, sein Imperium steht vor dem Zerfall. Kurz vor dem Bankrott kauft er eine Pistole und erschießt sich in einem Pariser Hotel. Am nächsten Handelstag brechen weltweit die Kurse an den Börsen ein. Schnell bekommt die Krise einen Namen: „Kreuger-Crash".

77 Jahre später häufen sich die Selbsttötungen in den Finanzmetropolen New York und London. Einer der spektakulärsten Fälle war der Selbstmord des 47jährigen Neuseeländers Kirk Stephenson, der sich im September letzten Jahres vor einen Zug warf. Stephenson war Partner und Mitbegründer des Privat-Equity-Hauses Olivant, verdiente 330.000 Pfund im Jahr und residierte im Londoner Edelviertel Chelsea in einem Stadthaus im Wert von 3,6 Millionen Pfund. Warum sich der verheiratete Vater eines achtjährigen Sohnes zu dieser Verzweiflungstat entschloss, weiß niemand genau, denn er hinterließ keinen Abschiedsbrief.

Dennoch erklärte der zuständige Gerichtsmediziner später, es sei Selbstmord gewesen. Olivant war in den Strudel der Finanzkrise geraten, doch das persönliche Vermögen Stephensons galt nicht als gefährdet. Er war ein Erfolgsmensch: zwanzig Jahre war es mit seiner Karriere stets nach oben gegangen. Ein Freund sagte: „Er war immer sehr beschäftigt, kam abends spät nach Hause und reiste viel. Der Donnerstag, an dem er sich umbrachte, war ein Tag wie jeder andere: er frühstückte mit seiner Familie, gab Frau und Sohn einen Abschiedskuss, verließ das Haus. Dann ward er sich auf die Gleise.

Stephenson ist nicht der einzige: am 17. Dezember erhängte sich der Däne Christen Schnor in einem Londoner Hotelzimmer. Der 49jährige Vater von zwei Kindern leitete beim Finanzriesen HSBC das Versicherungsgeschäft in Großbritannien, Nahost und der Türkei und pflegte einen aufwendigen Lebensstil. Ins Büro nach Canary Wharf fuhr er täglich mit seinem Aston Martin, nach seinem Tod berichtete die Boulevardpresse über Exzesse mit Kokain und Prostituierten. Obwohl er einen Abschiedsbrief hinterließ, erfuhr die Öffentlichkeit nicht, warum sich Schnor das Leben nahm.

Ärzte und Suizid-Forscher sind sich sicher, dass bei Selbsttötungen die wirtschaftliche Situation nur ein auslösendes Moment ist. Das Entscheidende sei vielmehr "der wahrgenommene Ehrverlust", sagt der Bayreuther Experte Wolfersdorf. "Es gibt Hartz-IV-Empfänger, die sich töten, weil sie keine Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder kaufen konnten", so Wolfersdorf. "Auch bei ihnen spielt nicht der akute Geldmangel die zentrale Rolle, sondern das Gefühl persönlichen Versagens."

Bei Misserfolgen stürzt die ganze Welt ein

Psychotherapeut Ralph Holtom vom Londoner Institut Counselling in Companies (CiC) meint, wer sein Selbstwertgefühl und seine Identität überwiegend oder sogar ausschließlich aus Beruf und Karriereerfolg beziehe sei besonders gefährdet. Denn die einseitige Abhängigkeit von beruflicher Anerkennung führe zu einer Tunnelperspektive. „Bei diesen Leuten fehlt es an der gesunden Balance: Familie, Kinder, Freunde, Hobbies – alles ist zweitrangig.

Kommt es zu beruflichen Misserfolgen oder Jobverlust, stürzt dann die ganze Welt ein, es bleibt nichts anderes mehr übrig". Mit Misserfolgen konfrontiert glauben diese Menschen oft, sie seien nun auch für ihre Familie oder Kinder nichts anderes mehr als eine peinliche Belastung. Denn ihr Wertesystem ist nur auf das eigene Unternehmen oder den hochkarätigen Job gepolt. Sie brauchen oft Statussymbole wie schnelle Autos und große Häuser um ihr Selbstbewusstsein zu stützen. Kann der Status nicht gehalten werden, wird das oft als massive Entwertung der eigenen Persönlichkeit wahrgenommen.

Dies gilt insbesondere dann, wenn der Ehrverlust – etwa im Zusammenhang mit Korruptions- und Betrugsvergehen – auch noch öffentlich wird. So wie bei dem chinesischen Unternehmer Zhang Shuhong, dem ehemaligen Chef des chinesischen Spielzeugunternehmens Lee Der Toy. Als die US-Firma Mattel, für die Zhang Shuhong Spielzeug produzierte, eine Million gefertigter Spielwaren wegen eines zu hohen Bleigehalts zurückrufen musste, sah Shuhong für sich keinen Ausweg mehr. Seine Leiche fand man in einem Lager der Spielzeugfabrik in der Provinz Guangdong.

Doch auch in Deutschland finden sich aus solcher Ursache etliche Todesfälle: Vor zweieinhalb Jahren erhängte sich der Hauptbeschuldigte im Münchner Gammelfleischskandal, ein 74-Jähriger Fleischhändler, an einem Treppengeländer. Ein Ikea-Manager, der für den bundesweiten Schmiergeldskandal beim schwedischen Möbelhaus verantwortlich gemacht wurde, hatte sich kurz zuvor in seiner Gefängniszelle ebenfalls erhängt. Wegen Bestechung, Untreue und Steuerhinterziehung wurde gegen den früheren Bonner Oberstadtdirektor und Veba-Manager Dieter Diekmann ermittelt – kurz vor der Jahrtausendwende schied Diekmann freiwillig aus dem Leben.

Bei Merckles Freitod hingegen dürften Korruptions- und Betrugsvergehen kaum eine Rolle gespielt haben. Zwar sind bei der Staatsanwaltschaft in Ulm derzeit rund 2000 Verfahren im Zusammenhang mit Ratiopharm anhängig – es geht um Barschecks und andere geldwerte Aufmerksamkeiten, die Ratiopharm-Mitarbeiter angeblich Ärzten zukommen ließen. In einem Prozess wäre wahrscheinlich auch untersucht worden, ob und wie viel Adolf Merckle davon wusste.

Doch das war in den vergangenen Wochen wohl Merckles geringste Sorge. Er arbeitete daran, die Existenz seiner Firmengruppe zu retten. Sich selbst wollte er anschließend nicht mehr retten.

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