Marseille Kliniken Der Rückzug des weißen Hais

Warum der Rückzug von Ulrich Marseille aus der Geschäftsführung die Lösung für die Probleme des Pflegekonzerns sein könnte.

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„Ich brauche jetzt mehr Freiräume und vor allem mehr Zeit, um mich stärker mit der juristischen Kampagne gegen mich auseinanderzusetzen“, erklärte der Manager in einer Firmenmitteilung. Mit der „juristischen Kampagne“ meint Marseille das bereits ergangene Urteil und noch zu entscheidendes Verfahren gegen ihn. Anfang Juli wurde der Bremerhavener in letzter Instanz vor dem Oberlandesgericht Naumburg wegen Bestechung zu einer einjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Aktie war zu diesem Zeitpunkt bereits um 20 Prozent gefallen, nach dem Urteil fiel sie um weitere zehn Prozent und erreichte schließlich ein historisches Tief von knapp zwei Euro pro Stück.

Doch der große Einschlag kommt womöglich erst noch: Denn ebenfalls zur Revision steht vor demselben Oberlandesgericht eine Entscheidung der Vorinstanz. Die hatte Marseille 2009 wegen Anstiftung zur uneidlichen Falschaussage und versuchter Nötigung eine einjährige Haftstrafe kassierte, die vier Jahre auf Bewährung ausgesetzt wurde. Als Bewährungsauflage wurde ihm aufgegeben, sechs Millionen Euro an die Staatskasse zu zahlen.

Ein solides Sündenregister für den Chef eines Sozialkonzerns.

Ulrich Marseille hatte erst im vergangenen Jahr noch einmal den Vorstandschefposten im Unternehmen übernommen. Seit 1994 führte er als  Firmengründer, Mehrheitseigentümer und Vorstandsvorsitzender, den deutschlandweiten Pflegekonzern Marseille Kliniken AG.

Börsianer strafen ab

Vom 1. September an soll nun der ehemalige Karstadt-Chef Stefan Herzberg (46) den Klinikkonzern leiten. Im Unternehmen hatte er seit Februar als stellvertretender Vorstandschef im Führungsgremium die Ressorts Pflege und Marketing geleitet.

Die Entscheidung Marseilles sich aus der Konzernleitung zurückzuziehen, dürfte bei den Aktionären durchaus auf Zustimmungen stoßen. Burkhard Götz von der Nürnberger Beteiligungsgesellschaft Nabag, die Aktien der Kliniken hält: „Diese Strafen schaden dem Ansehen des gesamten Unternehmens.“

Die Lage des Unternehmens können die Aktionäre börsentäglich ihrem Depot entnehmen. Der Aktienkurs fiel seit Sommer 2007 von mehr als 17 Euro auf 2,30 Euro. Die Dividende fällt 2010 aus, der Gewinn je Aktie wird mit 0,0261 Euro ausgewiesen, die Rendite mit 0,2343 Prozent. In fünf Monaten muss das Unternehmen eine 15-Millionen-Euro-Anleihe zurückzahlen – mit ungewöhnlich hohem Zinssatz von 7,9 Prozent bei nur einem Jahr Laufzeit. Woher das Geld kommen soll, ist vielen Aktionären noch unklar.

Aktien-Info Marseille Kliniken Quelle: Unternehmensangaben, Thomson Reuters

Silke Stegemann, Analystin von UniCredit Research, äußerte schon im Dezember Bedenken zur Finanzlage. Es bestehe das Risiko, dass der Unternehmensausblick zu ambitioniert sei und das geplante Restrukturierungsprogramm 2011 nicht seine vollen Effekte zeigen werde.

Denn das Geschäft der Marseille Kliniken läuft nicht optimal. Der aktuelle Bericht zum 3. Quartal des Geschäftsjahres 2010/11 weist mit 141,6 Millionen Euro einen Konzernumsatz unter Vorjahresniveau aus, das Konzernergebnis wird mit 0,0 Euro angegeben. Schon zum Geschäftsjahr 2008/09 hatte der damalige Vorstandschef Axel Hölzer die Aktionäre auf schwierige Zeiten eingestellt: „Wir müssen einräumen, dass das ausgewiesene Ergebnis schlecht ist.“ Die Krux: Das Unternehmen profitiert seit Jahren von hohen außerordentlichen Erträgen wie dem Verkauf der Reha-Sparte oder von Pflegeimmobilien, sogenannten Sale-and-Lease-Back-Geschäfte. Sondereffekte und außerplanmäßige Abschreibungen finden sich in der Bilanz zuhauf. Aktionären und Analysten sind solche Transaktionen suspekt, weil sie befürchten, das Unternehmen könnte sich auf Dauer nur so über Wasser halten.

Dabei müsste es um das Unternehmen besser bestellt sein. Kaum einer Branche attestieren Analysten solch sicheres Wachstum wie der Pflege, die Deutschen werden immer älter, die geburtenstarken Jahrgänge aus den Sechzigerjahren sichern die Nachfrage auf Jahrzehnte. Marseille erkannte diese Chancen früh. Selbst Kritiker attestieren ihm Instinkt fürs Geschäft, charakterisieren ihn als leidenschaftlichen Überzeugungstäter, der ins eigene Risiko geht. Die Familie Marseille hält rund 60 Prozent der Aktien, der Rest ist Streubesitz. Er ist offen für innovative Ideen und setzte früh auf betreutes Wohnen zu machbaren Preisen.

Handverlesene Kontrolleure

Doch der Heißsporn – intern „der weiße Hai“ genannt – steht sich selbst im Weg. „Er akzeptiert keinen Widerspruch von Leuten unterhalb seiner Augenhöhe“, beschreibt ein Mitarbeiter das raue Klima in der Hamburger Zentrale.

Auf die Aufsichtsräte konnten die Aktionäre bisher nicht zählen, wenn es darum ging, Marseille zu bremsen. Als Oberkontrolleur fungiert der in der Telekommunikationsbranche erfahrene Uwe Bergheim. Als Stellvertreter dient der ehemalige „Bild“-Chefredakteur und PR-Berater Hans-Hermann Tiedje, Marseille sitzt als stellvertretender Aufsichtsratschef in Tiedjes Firma. Expertise auch in Sale-and-Lease-Back-Geschäften bietet der Kaufmann ohne Fortune Thomas Middelhoff. Ihnen zur Seite sitzen die Rechtsanwältin und Ehefrau Estella-Maria Marseille und der Gesellschafter einer Firmengruppe für Reiseveranstaltungen und Bustouristik, Matthias Kampmann. Medizinischen Sachverstand im Klinikkonzern vertritt Matthias Schönermark, Professor für Medizinmanagement.

Marseilles freie Aktionäre fühlen sich oft nicht ernst genommen. Zuletzt auf der Hauptversammlung (HV) im Januar 2011 im Hamburger Hotel Radisson Blu. Die dauerte bis in die Nacht und war ein Schlagabtausch bis unter die Gürtellinie. Zudem schlug der Aufsichtsrat den Aktionären vor, den Akut-Kliniken-Vorstand Peter-Paul Gardosch von Krosigk, der bereits das Haus verlassen hatte, sowie den bis März 2010 amtierenden Vorstandsvorsitzenden Axel Hölzer nicht zu entlasten.

Marseille bezeichnet auf Nachfrage der WirtschaftsWoche die Nichtentlastung von Gardosch „als Vorsichtsmaßnahme, um Zeit für die weitere Aufklärung von Unregelmäßigkeiten zu gewinnen“. Hölzer dagegen habe „eine ganze Reihe schwerer Managementfehler begangen, die dem Unternehmen in der Vergangenheit Schaden zugefügt haben“. Von ihm respektive dessen Versicherung fordert er 12,5 Millionen Euro Schadensersatz. Dank des stimmberechtigten Großaktionärs Marseille ging der Antrag glatt durch.

Dafür wurde es für ihn selbst eng. Im Gegenzug stellten die freien Aktionäre den Antrag, auch Marseille als Vorstandschef nicht zu entlasten. Da der als Betroffener nicht mitstimmen dürfte, kam auch dieser Antrag durch. Peinlich, aber noch folgenlos.

Marseille sieht seine Glaubwürdigkeit nicht belastet, denn „ die Hauptversammlung war davon geprägt, dass eine Gruppe professioneller Hauptversammlungsstörer, die als Aktionäre in den vielen Jahren vorher nie in Erscheinung getreten sind, aus ganz offensichtlich ,sachfremden Erwägungen‘ die HV besucht haben“.

Marseille muss immer das Ruder in der Hand haben. Als im März 2010 der damalige Vorstandschef Axel Hölzer offiziell aus gesundheitlichen Gründen das Handtuch warf, wechselte er vom Aufsichtsrat auf den Vorstandsvorsitz. Insider sagen, Hölzer kam seinem Rauswurf zuvor.

Aufsichtsrat muss entscheiden

Kein Wunder, dass Marseille die ausgesprochene und die drohende Haftstrafe nicht kampflos hinnehmen will. Im bereits entschiedenen Verfahren soll er sich der Bestechung einer Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen schuldig gemacht haben, die im Gegenzug Patienten seiner Kliniken schneller als andere in die teurere Pflegestufe 2 eingeordnet haben soll. Im zweiten Urteil, das noch zur Revision ansteht, hatte das Landgericht Halle Marseille verurteilt, weil er im Streit um eine Schadensersatzklage um eine von ihm betriebene Wohnungs-KG in Halle Zeugen der Gegenseite mit anonymen Briefen bedroht haben lassen soll.

Jedem Vorstand einer Bank oder Versicherung würde die Finanzaufsicht BaFin in dieser Situation die charakterliche Eignung für den Posten aberkennen, wie sie das strengere Kreditwesengesetz aufgrund der Systemrelevanz von Finanzdienstleistern vorsieht. Für die Marseille Kliniken gilt jedoch wie für alle anderen börsennotierten Unternehmen das mildere Aktiengesetz. Marcus Lutter, Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Bonn, sieht in Fällen gravierender Vorwürfe generell den Aufsichtsrat in der Pflicht: „Bei solchen Verurteilungen muss er sich die Frage stellen, ob der Vorstandsvorsitzende noch tragbar ist.“

Was für ein Glück, dass Marseille sich da auf seinen Oberaufseher Bergheim und dessen Optimismus verlassen kann. Im Fragebogen des Magazins „Focus“ antwortete Bergheim auf die Frage, was er besonders an sich mag: „Dass ich auch in schwierigen Zeiten das Lachen nicht vergesse.“

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