Merck Völlig unterschätzt

Wie das Familienunternehmen Merck den Weltkonzern Bayer vorführen konnte. Eine Posse über clevere Börsenzockerei und verletzten Stolz.

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Jon Baumhauer glaubt an die Stärke von Familienunternehmen. Der 62-jährige Kinderpsychologe gehört zur verschwiegenen Familie Merck, die rund 73 Prozent an dem Darmstädter Pharma- und Chemiekonzern Merck hält. Gerne referiert der gebürtige Freiburger in Vorträgen über die „langfristige und nachhaltige Strategieentwicklung in Familienunternehmen“. Darin ist er Experte: Die Familie besitzt Merck seit 338 Jahren. „Wir denken in Generationen und nicht in Quartalen“, lautet das Credo der Sippe. Seit dem 9. Juni 2006 denken die Merck-Eigentümer – wenn es sein muss – auch in Tagen. Denn was die elfte Merck-Generation in der vergangenen Woche ablieferte, hatte mit Langfristig- und Nachhaltigkeit nicht viel zu tun. Im Gegenteil: Ausgerechnet das älteste Pharmaunternehmen der Welt, das immer etwas verschlafen und langweilig wirkte, verhielt sich wie ein Hedgefonds, der auf den schnellen Gewinn aus ist – und brach innerhalb von drei Monaten mit zwei Tabus in der deutschen Wirtschaft. Tabubruch Nummer eins: Merck hatte im März versucht, den Rivalen Schering – gegen dessen Willen, also feindlich – zu übernehmen. Tabubruch Nummer zwei: Nachdem der Weltkonzern Bayer (27,4 Milliarden Euro Umsatz) das Familienunternehmen mit einem höheren Angebot für Schering ausgestochen hatte, zockte Merck auf einen höheren Preis. Merck kaufte während der laufenden Bayer-Offerte kräftig Schering-Aktien zu. Am Ende strich Merck rund 400 Millionen Euro Spekulationsgewinn ein. Das entspricht rund der Hälfte des operativen Merck-Gewinns. „Klasse gemacht“, sagen neutrale Beobachter. Ein schöner Erfolg für Baumhauer und den gelernten Investmentbanker Frank Stangenberg-Haverkamp, die im Merck-Gesellschafterrat die Interessen der rund 130 Familienmitglieder vertreten. Der Coup der Darmstädter könnte zudem auch andere Unternehmen und Anleger auf den Geschmack bringen: „Das wird künftig noch häufiger passieren, bald werden auch immer mehr Finanzinvestoren Gefallen daran finden, bei großen deutschen Unternehmen Aktien einzusammeln und Druck auszuüben“, sagt Jochen Duelli, Partner und Pharmaexperte bei der Beratung Bain & Company. Freilich: Bayer, insbesondere Finanzvorstand Klaus Kühn, machte es dem kleineren Konkurrenten (5,9 Milliarden Euro Umsatz) auch einfach, den großen Coup zu landen. Denn zunächst war es Merck nur darum gegangen, mehr als fünf Prozent an Schering zu halten – für den neuen Schering-Eigentümer Bayer wäre es dann schwieriger geworden, Merck herauszudrängen; die Abfindung wäre entsprechend hoch ausgefallen. So wie vor drei Jahren beim Henkel-Konzern, der seinen etwa siebenprozentigen Anteil am Konkurrenten Wella an Procter & Gamble verkaufte und dabei 81 Millionen Euro verdiente. Also gaben Stangenberg-Haverkamp und Merck-Finanzchef Michael Becker am 30. Mai ihre Kauforders aus – an jenem Tag hatte Bayer noch einmal die Frist für Schering-Aktionäre verlängert, den Leverkusenern ihre Papiere zum Preis von 86 Euro je Stück zu verkaufen. Die Merck-Eigentümer erwarben erst mal 35.000 zusätzliche Aktien. Bald merkten sie, dass am Markt noch reichlich Schering-Aktien zu haben waren – und kauften munter weiter: am 6. Juni zwei Millionen Aktien, am 7. Juni drei Millionen, am 8. Juni 4,5 Millionen. Die Bayer-Manager hatten offensichtlich nicht vorgesorgt. Intern vermittelten etwa Bayer-Vorstand Richard Pott und die Strategen von der Abteilung für Fusionen und Übernahmen den Eindruck, die Schering-Aktien bereits sicher zu haben. Für Bayer sei es „weder sinnvoll noch notwendig gewesen“, sich vorzeitig mit Schering-Papieren einzudecken, heißt es im Unternehmen. Denn kein weiterer Bieter war in Sicht, und Merck hatte sich offiziell aus dem Übernahmekampf zurückgezogen. Und durch Aktienkäufe hätte Bayer den Investoren nur signalisiert, dass es sein eigenes Angebot nicht ernst nehme. Selbstgefällig sei Bayer, so sagt man in der Branche. „So dilettantisch kann man doch so was nicht durchziehen“, sagt Erhard Gipperich, der bis Januar 2006 bei Bayer als stellvertretender Aufsichtsratschef wirkte und viele Jahre lang den Betriebsrat führte. Drei Arbeitstage vor Ablauf der zweiten Annahmefrist, am 9. Juni, verbreitete Bayer-Finanzvorstand Klaus Kühn in einem Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ auch ganz offiziell Optimismus, dass alles klargehen werde: „Wir sind zuversichtlich, dass der Markt die Attraktivität unseres Angebots erkennt und dass die Mindestannahmeschwelle von 75 Prozent bis zum 14. Juni 2006 erreicht wird.“

„Kühn hat die Initiative von Merck völlig unterschätzt“, sagt Gipperich dazu. Finanzvorstand Kühn, der zuvor bei Schering gearbeitet hatte und bei Bayer gelegentlich als Nachfolger von Konzernchef Werner Wenning gehandelt wird, knöpfte sich in dem Interview auch noch Merck vor – zu dem Zeitpunkt hielten die Darmstädter etwa sechs Prozent der Schering-Aktien. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass Merck uns ihre Aktien möglicherweise nicht andienen wird“, sagte Kühn. Jetzt fühlten sich die Merck-Gesellschafter provoziert. Von einer „Publikumsbeschimpfung durch Kühn“ ist im Kreise der Familie die Rede. Die Merck-Eigentümer waren ohnehin gekränkt, da Bayer ihnen im März die feindliche Übernahme von Schering vereitelt hatte. Umso empfindlicher reagierten sie auf Kühns harsche Worte. Noch am gleichen Tag handelten sie: Am 9. Juni, dem Erscheinungstag des Interviews, kaufte Merck für 1,4 Milliarden Euro über 16 Millionen Schering-Aktien am Markt ein – damit startete die Zockerei dann richtig. Für die Finanzmärkte und die Bayer-Manager begann ein tagelanges Rätselraten: Was hatte Merck vor? Wollte Merck doch noch wenigstens einen Teil von Schering abbekommen? Es musste hinter den Aktienkäufen doch etwas anderes stecken als pure Zockereien und verletzter Familienstolz. Weit gefehlt. Bis zum Mittwoch der vergangenen Woche hatten die Darmstädter 21,8 Prozent des Schering-Kapitals zusammen und verkauften sie schließlich für 89 Euro je Aktie an Bayer – statt für 86 Euro, wie die Leverkusener ursprünglich geplant hatten. Die Übernahme von Schering verteuert sich damit für Bayer um rund 400 Millionen Euro. Statt 16,5 Milliarden Euro, ohnehin schon ein stolzer Preis, können es nun fast 17 Milliarden werden. Stangenberg-Haverkamp hielt zusammen mit Familienvertreter Baumhauer die Fäden bei dem Spiel in der Hand. Merck-Chef Michael Römer hatte nur die Rolle des ausführenden Organs. Stangenberg-Haverkamp nutzte seine Expertise als ehemaliger Investmentbanker. Der Volkswirt arbeitete mehr als 20 Jahre lang bei Instituten wie Commerzbank, Baring Brothers oder Hambros Bank. Baumhauer und Stangenberg-Haverkamp mischen sich aktiv in die Geschäfte des Unternehmens ein. Doch die graue Eminenz im Hause Merck ist nach wie vor Hans Joachim Langmann. Der 81-Jährige, ehemaliger Merck-Chef und langjähriges Mitglied des Gesellschafterrates, fungiert heute als Berater der Familie und hat immer noch ein Büro in der Firmenzentrale. Der Physiker gab den Anstoß für die Schering-Offerte – und ließ seit Mai 2005 die Gesprächsbereitschaft beim Berliner Wettbewerber sondieren. Die Darmstädter wollten den Zusammenschluss mit Schering, weil ihre eigene Pharmasparte mit rund 3,5 Milliarden Euro Umsatz zu klein ist, um dauerhaft gegen die Branchengiganten bestehen zu können. Und auch die Gewinne im lukrativen Geschäft mit Flüssigkristallen, die zur Produktion von Flachbildschirmen eingesetzt werden, sind vom Vormarsch neuer Bildschirmtechnologien und einsetzendem Preisverfall bedroht. Merck steht unter Handlungsdruck. Zwar vereinbarte das Unternehmen mit Bayer, „bereits laufende und weitere Kooperationsmöglichkeiten zu prüfen“. Doch das wird nicht reichen. Wahrscheinlich werden die Darmstädter im Pharmageschäft auch noch zukaufen müssen – Geld für die Kasse haben sie ja gerade eingesammelt.

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