Michael Thiel im Interview „Kontrolle gewinnen“

Der Psychologe Michael Thiel im Interview über die Scheu, sich mit der eigenen Altersvorsorge zu befassen.

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WirtschaftsWoche: Herr Thiel, warum scheuen sich so viele, ihre Altersvorsorge grundlegend zu planen – weil wir zu wenig wissen oder weil wir die Fakten nicht wahrhaben wollen? Michael Thiel: Wer sich belügt, der lebt vergnügt: Solange wir uns nicht mit dem Alter beschäftigen, ist man jung. Das Problem ist nicht das Geld, das wird vom Abtauchen auch nicht mehr, sondern das Alter. Das ist ein ganz gesunder Verdrängungsmechanismus. Denkt man ständig an den eigenen Verfall, wird man depressiv. Das dürfte mahnenden Politikern und munter für andere planenden Bankern auch nicht anders gehen. Dazu kommt: Wer möchte schon jetzt gerne auf Konsum oder einen schönen Urlaub verzichten, um für eine ohnehin unklare Zukunft vorzusorgen? Danach müssten es Vermögende trotz komplexerer Finanzen leichter haben. Grundsätzlich ja, aber erfahrungsgemäß hängt es davon ab, warum sie reich sind. Wer mit dem goldenen Löffel geboren ist, denkt sich entspannt: Für mich ist ohnehin gesorgt. Wer die gleiche Summe selbst verdient hat, weiß auch, wie schnell es wieder weg sein kann. Diese Leute agieren klüger. Das Dumme ist nur für alle Nichtreichen: Irgendwann müssen sie halt doch mal planen – oder man ist im Alter wirklich arm. Da scheinen Frauen klüger zu sein als Männer. Gerade verheiratete Frauen machen eher Druck, das gemeinsame Alter abzusichern – sie sind schließlich abhängiger als ihr Gatte. Männer nehmen das lockerer. Oder sie verdrängen besser. Die Lust auf Verdrängung schlägt den Wunsch, die eigene Familie abzusichern? Sagen wir es so, viele denken: „Na klar, ich werde doch immer für euch da sein.“ Würden sie darüber nachdenken, dass es zu Unfällen oder Krankheiten kommen kann, müssten viele Männer erkennen, dass sie nicht alles kontrollieren können. Und das macht unsicher, was wiederum schädlich für Beruf und Karriere ist Laut Umfragen scheut sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung, ihre finanzielle Lage einem Versicherungsverkäufer offenzulegen. Warum? Meist ist das nicht die Sorge, derjenige könnte zu viel über einen erfahren, sondern die – meist männliche – Angst, man könnte vor einem Berater inkompetent aussehen. Aber bitte: Der Berater wird schließlich von mir als Kunden direkt über ein Honorar oder indirekt durch seine Provision dafür bezahlt, dass er sich mit der Materie besser auskennt als ich. Hilft der heilsame Schreck, die eigenen Eltern altern zu sehen? Realistisch betrachtet, wird es spätestens dann höchste Zeit. Aber es ist zunächst hart, sich einzugestehen, bei mir wird es auch mal so sein. Wir nehmen es dem Leben ja schon übel, wenn wir irgendwann zum Lesen Gleitsichtgläser brauchen. Und was rät der Psychologe: Wie lässt sich der innere Schweinehund überwinden? Der Psychologe sagt wie immer: Kommt darauf an, wie Sie gestrickt sind. Für die meisten dürfte gelten: Wir wollen Kontrolle über unser Leben. Uns erschreckt, wie wenig wir beeinflussen können, wie wir alt werden. Aber wir haben die Kontrolle darüber, ob unsere Finanzen uns absichern werden – auch ohne dass wir uns zwecks Altersvorsorge schon heute jedes Kinoticket verkneifen. Wer sich jetzt mit dem Thema beschäftigt, der gewinnt Kontrolle und Entspannung.

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