Es wird ungemütlicher in den Chefetagen der Exportunternehmen, da ist sich Christoph Müller sicher. Der Ökonomie-Professor der Universität Sankt Gallen erstellt jedes Jahr das Ranking der Weltmarktführer – und in diesem Jahr gibt es „so viel Geheimniskrämerei wie nie“. Zahlreiche Firmen hätten ihre Geschäftszahlen nur unvollständig oder gar nicht mehr veröffentlicht. Oder sind aufgekauft worden. Für Müller „ein Indiz, dass die Firmen möglicherweise unter wirtschaftlichen Problemen leiden“. Coronapandemie, Gaspreisexplosion, Lieferengpässe, Inflation – die Multikrisensituation gehe an Unternehmen nicht spurlos vorbei. „Wir werden in den kommenden Monaten weitere Übernahmen oder sogar Insolvenzen erleben“, sagt Müller. Allein 20 Unternehmen seien wegen Intransparenz aus dem diesjährigen Ranking gefallen. „Eine seriöse Bewertung ihrer Exportstärke war so nicht möglich.“
Die Gruppe der Weltmarktführer im deutschsprachigen Raum ist damit auf unter 500 geschmolzen. Gleichwohl gibt es auch Auf- und Neueinsteiger: Firmen aus den Pharma- und Chemiebranchen etwa, die 2021 von einer Sonderkonjunktur profitierten. Der Impfstoffhersteller Biontech ist das bekannteste Beispiel. Mit dem Coronavakzin haben die Mainzer 2021 knapp 19 Milliarden Euro Umsatz und einen Exportanteil von 88 Prozent erzielt. Die Erfolgsstory ist beispiellos. Es gibt auch unbekannte Einsteiger: Der Anlagenbauer Exyte etwa geht auf die Ausgründung eines Unternehmens von 1912 zurück, sieht sich „als Pionier im Bereich der Reinraumtechnik“. Exyte produziert Fabrikteile für Hightechsektoren – und setzt fast fünf Milliarden Euro um.
Ausschläge bis 50 Prozent
Eine hohe Volatilität beobachtet Müller auch bei den Umsatzzahlen der Unternehmen. „Üblich sind jährliche Abweichungen von bis zu zehn Prozent“, sagt der Ökonom. Doch in den Coronajahren 2020 und 2021 hätten „die Ausschläge bis zu 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr betragen“, sagt Müller – „nach unten wie nach oben“. Bei kaum einem Unternehmen ging es so turbulent zu wie beim Spezialmaschinenbauer Wafios aus Reutlingen. 2020 brach der Umsatz um fast 30 Prozent ein. Mit einem fulminanten Turnaround kehrte die Firma 2021 fast auf das Vor-Corona-Krisenniveau zurück. Wafios produziert unter anderem Maschinen, die Kunststoffrohre für die Heizsysteme in E-Autos biegen.
Weltmarktführer 2023
Die Liste der Weltmarktführer wird jährlich von der Universität Sankt Gallen im Zeitraum von Mitte Juni bis Ende August erstellt. Um als Weltmarktführer zu gelten, muss ein Unternehmen beim Umsatz die Nummer eins oder zwei in mindestens einem relevanten Marktsegment sein (nicht in allen Geschäftsbereichen). Gibt es keine Daten über ein Marktsegment, befragt Studienautor Christoph Müller die Unternehmen nach möglichen Rivalen und vergleicht sie mit diesen. Der Jahresumsatz – mindestens 50 Millionen Euro – muss mindestens zu 50 Prozent im Ausland und auf drei Kontinenten erzielt werden. Die Eigentümer müssen zumindest zum Teil ihren Sitz in Deutschland haben, entsprechend gilt dies für Österreich und die Schweiz.
Müller zieht offizielle Zahlen heran: Bei börsennotierten Unternehmen die neuesten Jahresabschlüsse, bei allen anderen in der Regel die Jahresabschlüsse aus dem Bundesanzeiger. In Einzelfällen findet eine Direkterhebung beim Unternehmen statt. Einige Unternehmen veröffentlichen im Bundesanzeiger statt eines Konzernabschlusses nur Einzelabschlüsse. In solchen Fällen werden die Daten aus dem zentralen GmbH-Abschluss herangezogen. Die Zahlen in der Tabelle umfassen dann nicht alle Tochtergesellschaften. So können Differenzen zu den von Unternehmen auf ihren Webseiten veröffentlichten Daten zustande kommen.
Die Stärken Deutschlands bleiben auch in diesem Jahr über die klassischen Industrien wie Auto, Chemie und Maschinenbau verteilt. Digital-Start-ups sucht man vergebens, obwohl es sie gibt. Zahlreiche Jungunternehmen werden mit zig Milliarden Euro bewertet. Der Essenslieferant Delivery Hero hat es sogar kurzzeitig in den Dax der 40 größten Börsenunternehmen geschafft. Doch in Sachen Marktposition kommt der Lieferdienst weltweit oft nicht auf die beiden vorderen Plätze, ein Platz im Ranking der Weltmarktführer ist ihm nicht vergönnt.
Anders HelloFresh: Der Kochboxenversender ist in eine einzigartige Lücke gestoßen – und gehört laut Experte Müller mit einem Auslandsanteil von mehr als 50 Prozent und führenden Positionen in Deutschland und den USA zu den neuen deutschen Weltmarktführern.