Angriff mit GOA-Schweinen Wie antibiotika-freie Wurst den Fleischmarkt in Rage bringt

GOA: Wurstherstellung aus antibiotikafreier Aufzucht Quelle: PR

Der westfälische Unternehmer Hans-Ewald Reinert verwurstet Fleisch von Schweinen, die ohne Antibiotika aufwachsen (GOA). Damit bringt er eine milliardenschwere Branche gegen sich auf, die ihm Etikettenschwindel vorwirft.

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Seit wenigen Monaten hat der westfälische Fleischfabrikant Reinert, bekannt für seine Sommer- und Bärchenwurst, eine neue Produktlinie im Lebensmittelhandel: Wurstwaren unter dem Label „Herzenssache“. Die acht verschiedenen Produkte – davon vier für die Selbstbedienung – reichen vom Kochschinken über Salami bis zum Kern- und Garschinken und sollen aus 100 Prozent antibiotikafreier Aufzucht stammen.

Aufgrund von Marktforschungsdaten habe sich gezeigt, dass das Thema Antibiotikaeinsatz in der Nutztierhaltung die Verbraucher stark verunsichere, sagt Firmenchef Hans-Ewald Reinert. Für dieses Problem habe er schon seit längerem nach einer Lösung gesucht. Im Oktober 2016 habe er dann mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Danish Crown, dem weltgrößten Exporteur von Schweinefleisch, Kontakt aufgenommen. „Der ist Landwirt. Es gab dann mehrere Besuche. Es ging auch darum, Vertrauen aufzubauen“, so Reinert. Die dänischen Schweinehalter gelten in Europa als Vorreiter für die Reduzierung von Antibiotika, schon seit 2006 liefen hier entsprechende Programme mit offiziellen Fördermitteln. Intern spricht die Branche dabei von GOA-Tieren, die Abkürzung steht für „gezüchtet ohne Antibiotika“. Zurzeit wachsen etwa 200.000 Tiere im GOA-Programm auf, schon 2021 soll die Zahl auf 1,3 Millionen steigen.

Das Vertrauen zwischen den Dänen und Westfalen entstand, die Lieferverträge sind unterzeichnet. „Wir haben mit Danish Crown ein Projekt vereinbart, wonach wir für eine gewisse Zeit exklusiv Fleisch von Schweinen aus garantiert antibiotikafreier Aufzucht bekommen“, schildert Reinert. Zurzeit arbeiten drei Dutzend Landwirte an dem Projekt in Dänemark, weitere stünden in der Warteschlange. „Damit sind wir Vorreiter in der Produktion von Wurstwaren aus 100 Prozent antibiotikafreier Aufzucht in Deutschland und gehen den ersten Schritt zur Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes in der Nutztierhaltung.“

Laut Reinert gebe es „unzweifelhaft und von der WHO bestätigt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung und der Tatsache, dass multiresistente Keime zum Problem für Menschen geworden sind“. Alle Experten seien sich einig, dass der Einsatz von Antibiotika deutlich reduziert werden muss, um künftig noch wirkungsvolle Medikamente zu haben. Das betreffe auch die Nutztierhaltung. Die Politik habe das ebenfalls erkannt und versuche den Einsatz zu reduzieren. Aber es gebe in Europa ein großes Gefälle. Während Deutschland beim Antibiotika-Einsatz etwa in der Mitte rangiere, sei Dänemark ganz weit vorne.

Die Aufzucht der GOA-Tiere ist teurer als die in herkömmlichen Ställen, weil die Tiere etwas mehr Platz bekommen, von mehr Personal betreut und etwa eine Woche länger gemästet werden, bevor sie ihr Schlachtgewicht erreicht haben. Dafür wird der teilnehmende Landwirt besser bezahlt, er erhält derzeit 20 Cent mehr pro Kilo Schweinefleisch. Auch im GOA-Programm werden immer mal wieder Schweine krank und müssen mit Antibiotika behandelt werden. Sie bleiben dann zwar beim jeweiligen Mäster, werden aber räumlich getrennt und bekommen die Ohrmarke entfernt. Das Fleisch dieser Schweine geht in die konventionelle Herstellung. Der Kunde hingegen muss rund ein Viertel mehr für die Antibiotika-freie Wurst berappen, als für konventionelle Ware, aber weniger als für Bioprodukte.

Die 1931 gegründete Westfälische Privatfleischerei Reinert in Versmold ist das Herzstück der Reinert-Gruppe mit 1200 festangestellten Beschäftigten und bis zu 200 Leiharbeitern an sechs Standorten. Das vom 54-jährigen Hans-Ewald Reinert in dritter Generation geführte Unternehmen ist die Nummer vier der deutschen Wurstwarenhersteller hinter dem Tönnies-Konzern mit der Zur-Mühlen-Gruppe mit Marken wie Böklunder, Könecke und Gutfried, der Deutschlandtochter der Schweizer Bell-Gruppe (Abraham-Schinken, Zimbo) sowie dem niedersächsischen Familienunternehmen Kemper. Der Umsatz betrug zuletzt rund 350 Millionen Euro.

Viele in der Branche ärgern sich

Kaum hatte Reinert sein Antibiotika-freies Projekt zum Jahresbeginn auf der Grünen Woche in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt, wurde ihm von den deutschen Schweinezüchtern vorgeworfen, damit Fleisch aus der Aufzucht mit Antibiotikaeinsatz zu diskriminieren. Die Kritiker attestiertem dem Projekt es sei nur ein Marketing-Gag, ein riesiger Etikettenschwindel. Denn wenn Reinert seine Marke mit dem Zusatz „ohne Antibiotika“ bewirbt, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Aufzucht der Tiere bei den Wettbewerbern mit den unerwünschten Medikamenten erfolgt sind.

Daher ärgern sich viele in der Branche über das Vorpreschen des Familienunternehmens. Reinert kontert: „Grundsätzlich gilt, dass alle Wurstprodukte keine Antibiotikarückstände enthalten. Das ist Gesetzeslage in Deutschland. Wir loben dies für Herzenssache auch nicht aus, sondern die Tatsache, dass die Tiere aus dem Programm garantiert nie mit Antibiotika behandelt worden sind.“ Das habe nichts mit heiler Welt zu tun, sondern mit Aufzucht und Mastbedingungen. „Naturgemäß haben wir mit unserem Vorgehen und der Partnerschaft mit einem dänischen Unternehmen nicht unbedingt die Sympathie der deutschen Mastbetriebe auf unserer Seite gehabt, aber der Handel sieht das Potenzial.“

Reinert sucht das Gespräch, stellt sich den Kritikern – so wie in einem Gespräch beim Haller Kreisblatt mit Versmolder Schweinemästern. Dort machte Reinert noch einmal deutlich, dass das Fleisch, das er verarbeite, noch nie Antibiotika gesehen habe. Bei anderem Fleisch, selbst bei Bio-Fleisch, „ist das nicht ausgeschlossen. Je nach Biolabel darf man zwischen ein und drei Mal – bei wenigen auch gar nicht – Antibiotika pro Schwein geben und dann die Wartefristen beachten. Und dann ist es immer noch Bio.“ 

Fleisch-Sonderangebote empören Tausende - und locken noch mehr Kunden in Supermärkte und Discounter. Die Qualität der Schnäppchen-Ware muss nicht unbedingt schlechter sein. Aber dem Tierschutz dient sie nicht.

Es sei wichtig zwischen der Aufzucht und dem Produkt zu unterscheiden, das bei den Kunden im Kühlschrank lande. „Fleisch, was heute verkehrsüblich ist, ist antibiotikafrei, weil die Wartefristen bis zur Schlachtung gehalten werden.“ Das Entscheidende seien die Multiresistenzen, die gebildet werden können. Je mehr Nutztiere mit Antibiotika versorgt würden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich multiresistente Keime bilden, die auch auf Menschen übertragbar seien, bei denen nachher Antibiotika nicht mehr anschlage.

Auf die Frage, warum Reinert denn nicht mit deutschen Schweinzüchtern zusammenarbeite, sagte der Firmenchef, das er das selbstverständlich versucht hätte, „aber das war sowas von schwierig. Einzelne wollen das. Aber ein Programm aufzuziehen wie in Dänemark, mit einem ganzen Kollektiv von Landwirten, die nach unseren Kriterien produzieren, das hat bislang nicht funktioniert.“ Der Versmolder Landwirt Hans-Joachim Klack räumt denn auch ein, dass bei ihm und den deutschen Kollegen dafür die Unterstützung fehle. Außerdem sei Dänemark ein absolut isoliertes Land. „Die bauen jetzt an der deutsch-dänischen Grenze noch einen Zaun gegen Wildschweine zur Verhütung der afrikanischen Schweinepest. Die wollen ihren Schweinebestand sauber halten, was bei uns fast nicht möglich ist. Wir sind ein Transitland. Hier fährt alles kreuz und quer durch. Da ist isolierte Schweinehaltung, ohne Infektionen hereinzubekommen, nicht möglich.“ Reinert würde es begrüßen, wenn deutsche Landwirte künftig für das antibiotikafreie Konzept produzieren würden.

Die Resonanz im Lebensmittelhandel bezeichnet Reinert als „außerordentlich gut“, das zeige sich auch in einer breiten nationalen Listung. Mittlerweile liegt die Ware bei Edeka, Lidl, Rewe, Kaufland, Real Famila, Combi und Netto in den Kühlregalen und Bedientheken. Vorbehalte habe es nur grundsätzlicher Natur gegeben, also leichte Zweifel, ob es schnell gelingen könne, eine gänzlich neue Marke beim Verbraucher zu etablieren. Die Absatzzahlen „entwickeln sich sehr gut und auch die Verkäufe pro Laden sind positiv, insbesondere seit wir national mit unserer Werbung präsent sind“, sagt Reinert. Seit wenigen Tagen läuft nun auch eine TV-Werbung.

Und die Wettbewerber, allen voran der größte deutsche Fleischkonzern, die Tönnies-Gruppe? Der Wettbewerb habe zuerst abwartend reagiert und versucht, das Problem klein zu reden, sagt Reinert. „Wir haben in den vergangenen Monaten mit vielen Bauern und Verbandsleuten geredet. Angesichts des Erfolgs im Handel scheint ein Umdenken einzusetzen und an ähnlichen Projekten gearbeitet zu werden.“

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