Aufholbedarf Wer Weltmarktführer bleiben will, braucht Künstliche Intelligenz

Harald Christ, 47, ist Unternehmer und Mittelstandsbeauftragter der SPD. Er hat das Wirtschaftsforum der Sozialdemokratie mitgegründet und ist dort geschäftsführendes Präsidiumsmitglied. Quelle: imago images

Viele deutsche Unternehmer fremdeln noch mit Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Wenn sie sich aber nicht schleunigst modernisieren, werden sie nicht bleiben, was sie sind: weltweit führend.

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Ist Deutschland nicht in einer Hinsicht besonders schizophren? Wir wissen, dass wir unseren Wohlstand – und damit unser Sozialsystem – nur verteidigen können, wenn unsere Wirtschaft international wettbewerbsfähig ist. Dazu muss sie innovativ sein, doch vor dem derzeit größten Innovationstreiber, der Künstlichen Intelligenz (KI), haben wir in vielerlei Hinsicht Angst.

Immerhin 41 Prozent der Deutschen sehen in technischen KI-Anwendungen eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit, 25 Prozent fürchten, dass intelligente Computer ihren Job übernehmen, 17 Prozent sehen ihre Privatsphäre gefährdet. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Dabei beruht die Furcht vor der Weltherrschaft der Roboter und einem digitalen Prekariat vor allem auf der Ungewissheit vor allem Neuen. Vor einer Technologie, die besser ist als der Mensch. Doch eigentlich trifft das auf jede Innovation zu – vom Faustkeil über Auto, Mähdrescher und Mondrakete bis hin zum Internet.

Er hat den Begriff „Hidden Champion“ erfunden: Mittelstands-Experte Hermann Simon erklärt, warum so viele Weltmarktführer erfolgreich in der Nische sind – aber auch, welche Gefahren sie dort erwarten.
von Lin Freitag

Mit einem spitzen Stein lassen sich Materialien besser bearbeiten als mit bloßen Händen. Der Faustkeil ermöglichte es unseren Vorfahren bereits vor Tausenden von Jahren, über die eigenen Fähigkeiten hinauszuwachsen. Mit einem Pflug lässt sich der Boden besser bearbeiten, als mit einem Spaten – und Autos sind schneller und bequemer als Pferdekutschen.

Innovationen aber schüren Angst. Als die Eisenbahn erfunden wurde, glaubten Wissenschaftler, dass dem Menschen bei Geschwindigkeiten von mehr als 30 Stundenkilometern zumindest Geistesstörungen drohen, wenn nicht Schlimmeres. Selbst das Automobil, Zentrum und Rückgrat unserer Wirtschaft, wurde zunächst angefeindet. Verängstigte Bürger gruben Ende des 19. Jahrhunderts Straßen auf oder spannten Seile darüber, um die neuen „Motorkutschen“ zu stoppen, was auch zu Todesfällen führte.

Rückblickend aber ist noch keine Innovation in einer Katastrophe geendet. Keine hat je unseren Wohlstand verringert. Auch zu Massenarbeitslosigkeit ist es nie gekommen. Letzteres wurde schon in den 1980er Jahren befürchtet, als Roboter in deutschen Fertigungshallen Einzug hielten. Heute haben wir die höchste Beschäftigung seit vielen Jahrzehnten.

Allein mit rationalen Argumenten aber ist der Angst nicht zu begegnen. Sie beruht vor allem auf der Unwissenheit darüber, was Künstliche Intelligenz heute kann. Und was nicht.

Intelligente Algorithmen schlagen inzwischen jeden Schach- und Go-Weltmeister, sie diagnostizieren bestimmte Krankheiten präziser als die besten Spezialisten – und sie identifizieren Gegenstände oder auch Gesichter auf Bildern genauer, als wir Menschen es können. Dennoch: Der weitaus größte Teil der Anwendungen basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die viele Jahrzehnte zurückliegen.

Neuronale Netze – sie sind für die spektakulären Erfolge der KI maßgeblich verantwortlich – sind bereits in den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erdacht worden. Das bis heute maßgebliche Verfahren, diese Algorithmen effektiv zu trainieren, stammt aus den frühen 1960er Jahren. Bereits damals schlug übrigens ein Dame-Programm die Nummer 4 der USA bei diesem Brettspiel. Den Durchbruch schaffte die Künstliche Intelligenz jedoch erst nach 2011, zum einen auf Grund der Verfügbarkeit riesiger Datenmengen. Vor allem aber dank der Erfindung der Grafikkarten, also von Prozessoren, die Millionen von Berechnungen binnen Sekunden bewältigen können.

Seither hat sich viel getan – an neuen Entwicklungen in der Architektur und anderen Teilbereichen der komplexen Algorithmen. Jedoch nicht an dem zu Grunde liegenden Verfahren.

Die Zukunft von „Made in Germany“
Joe Kaeser Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Anschließend folgte er der Einladung zum Gespräch mit WirtschaftsWoche-Chefredakteur Beat Balzli.
Ariane Reinhart Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Angelique Renkhoff-Mücke Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Rudolf Pütz Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Sebastian Betz Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Diskussion mit Sebastian Betz und Rudolf Pütz Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche

Neue Technologien unterliegen Innovationszyklen, die sich stets ähneln. Ein, zwei Jahrzehnte lang gibt es eine wahre Flut von Erfindungen in Teilbereichen, danach folgt eine lange Phase der Konsolidierung. So war es auch beim Automobil. Zunächst ein skeptisch beäugtes Nischenprodukt, gelang der Durchbruch erst 1913 mit dem Beginn der Massenproduktion. Mit der Erfindung des Roots-Kompressors im Jahr 1923, der den „Roaring Twenties“ seinen Namen gab, war der Zyklus beendet. Bis zur Erfindung des Bremskraftverstärkers in die 1970er Jahren gab es beim Auto keine bahnbrechende Erfindung mehr, sondern lediglich Verbesserungen und Optimierungen bestehender Komponenten.  

Wir verlieren den Anschluss

Bezogen auf die Künstliche Intelligenz heißt das: Wir befinden uns etwa im Jahr 1918. Die Technologie ist zum Massenprodukt geworden, die Phase der Konsolidierung beginnt gerade. Möglicherweise erleben wir noch einige echte Neuerungen in Teilbereichen, vermutlich jedoch vor allem Verbesserungen und Optimierungen bestehender Komponenten. Und so spektakulär die Erfolge der neuen Technologie scheinen mögen: Derzeit ist die Künstliche Intelligenz meilenweit davon entfernt, Modelle zu schaffen, die ein eigenes Bewusstsein haben, die also eigenständig denken können. Und wenn die KI dem üblichen Zyklus folgt, wird das noch Jahrzehnte so bleiben.

In dieser Zeit wird die Technologie einen Siegeszug antreten, wie einst das Auto: „Nimm irgendwas und füge KI dazu“ – so hat der Gründer und Herausgeber des Magazins „Wired“, Kevin Kelly, den Businessplan für Zehntausende Start-ups umschrieben. Dabei kann es nicht unser Ziel sein, Künstliche Intelligenz neu gegründeten Unternehmen zu überlassen. Auch die etablierten Unternehmen und insbesondere der Mittelstand müssen sich mit der Technologie auseinandersetzen, sie anwenden.

Und es geht längst nicht nur um Künstliche Intelligenz. Laut einer McKinsey-Studie schätzt nur jedes zweite mittelständische Unternehmen den eigenen Digitalisierungsgrad – eine wichtige Voraussetzung für den Einsatz von KI - als hoch ein. Viele sehen die Digitalisierung zudem als IT-Thema, ein Mittel zur Produktivitätssteigerung – was ein fataler Irrtum ist. Mit Hilfe digitaler Anwendungen und insbesondere mit Künstlicher Intelligenz gilt es, neue Geschäftsfelder zu erschließen, die Organisationsstruktur anzupassen und die Firmenkultur zu verändern. Nur so bleiben die Unternehmen konkurrenzfähig.

Doch bislang setzen nur fünf Prozent der deutschen Unternehmen KI-Algorithmen ein. Selbst vergleichsweise junge Unternehmen haben Nachholbedarf. Viele vor zehn, 15 Jahren gegründete IT-Firmen bieten KI weder als Service für ihre Kunden an – noch nutzen sie die Technologie selbst. Und wenn sie nicht schnell damit beginnen, wird es sie in fünf Jahren nicht mehr geben.

Die eigentliche Gefahr, die von der Künstlichen Intelligenz ausgeht, ist zumindest für Deutschland und andere hochentwickelte Industrienationen, den Anschluss zu verlieren. Genau danach aber sieht es gerade aus. Fast alle Neuerungen in der Technologie kommen aus den USA oder aus China. Die beiden Nationen bilden ein geopolitisches KI-Oligopol, das uns zwei bis drei Jahre voraus ist. Und nur noch schwer einzuholen. Ein ähnlicher zeitlicher Vorsprung wird etwa Googles Suchmaschine unterstellt – und viele Experten sind sich sicher, dass es keinen ernstzunehmenden Angriff mehr geben wird, die Marktmacht des Suchmaschinen-Giganten zu brechen. Trotz aller Bemühungen um eine europäische Antwort.

Wer Märkte beherrscht, kann Standards setzen – und sich so weitere Wettbewerbsvorteile sichern. Den beiden KI-Weltmächten ist ihre Chance durchaus bewusst – und Deutschland hat die Gefahr erkannt. Drei Milliarden Euro will die Bundesregierung deshalb bis 2025 in die Technologie investieren. Das ist viel Geld, doch ob es reicht, um Deutschland das Aufschließen zu den führenden KI-Nationen zu ermöglichen, darf bezweifelt werden. Nur zum Vergleich: Allein die Provinzregierung von Shanghai will Künstliche Intelligenz in den kommenden Jahren mit 15 Milliarden Dollar fördern.

Doch Geld alleine wird nicht reichen, um Deutschland zu einer führenden KI-Nation zu machen. Das Thema muss in den Köpfen der Menschen und der Politiker aus der IT-Nische und dem Dunstkreis von Nerds verschwinden. Künstliche Intelligenz wird alle Lebensbereiche und alle Branchen verändern – und deshalb muss sie an allen Schulen gelehrt werden und zwar nicht nur in Mathematik oder Informatik, sie muss in allen Fächern mitgedacht werden.

Die Bilder des CEO-Abends
Gipfeltreffen der Weltmarktführer in Schwäbisch Hall Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Bereits am Vorabend trafen sich Inhaber und CEOs mittelständischer Unternehmen in der Kunsthalle Würth. Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Reinhold Würth, Stiftungsaufsichtsratsvorsitzender der Würth-Gruppe Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Beat Balzli, Chefredakteur der WirtschaftsWoche, und Walter Döring eröffnen den CEO-Abend offiziell. Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Die Evening Keynote hielt Hans Bühler, CEO der Optima Packaging Group. Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Hier posieren Walter Döring (links) und Robert Friedmann, Sprecher der Konzernführung der Würth-Gruppe, mit ada-Gründungsverlegerin Miriam Meckel. Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche
Durch den Abend führte Daniel Rettig, Ressortleiter Erfolg/Kultur & Stil der WirtschaftsWoche. Quelle: Sebastian Muth für WirtschaftsWoche

Am wichtigsten aber ist es, dass wir unsere inhärente Ablehnung gegenüber allem Neuen ablegen – unsere Schizophrenie bezüglich technischer Entwicklungen. Was diesem Land fehlt, ist die Euphorie, mit der andere Nationen den Möglichkeiten der KI begegnen. Warum sehen wir nicht die positiven Aspekte der Technologie?

Etwa in der Medizin – und damit in Entwicklungsländern, wo Patienten zu spezialisierten Ärzten oft Hunderte von Kilometern zurücklegen müssen. Die cloud-basierte Diagnose eines mit einem portablen Gerät aufgenommenen Röntgenbildes ist dort enorm hilfreich. KI vernichtet dabei keine Jobs – aber sie ermöglicht es Ärzten, egal wo auf der Welt, mehr Zeit mit ihren Patienten zu verbringen. Oder im Umweltschutz: Mit Hilfe intelligenter Algorithmen lassen sich individuelle Wale im Nordatlantik mittlerweile mit fast 90-prozentiger Genauigkeit erkennen, was für die Bemühungen, die vom Aussterben bedrohten Arten zu retten, enorm hilfreich ist. Vor allem aber in der Wirtschaft. Mit Hilfe von KI wird es möglich sein, viele der einst in Billiglohnländer abgewanderten Firmen zurückzuholen.  

Wenn Deutschland die gleiche Begeisterung für Künstliche Intelligenz und digitalen Fortschritt aufbrächte, wie für den Fußball, müssten wir uns wesentlich weniger Sorgen um unsere Zukunft machen.

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