Ajay Bhargava sieht beinahe täglich, wie Indien wächst. Noch vor wenigen Jahren lag seine Fabrik alleine auf einem freien Feld, unweit der südindischen Acht-Millionen-Metropole Bangalore. Heute umgibt ein großes Industriegebiet sein Gelände, von Grund auf aus dem Boden gestampft.
Bhargava leitet die Indien-Tochter des Herborner Mittelständlers Rittal, spezialisiert auf Schaltschränke. Seine Kunden sind die Industrieunternehmen der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens. Ein großer Markt, der weiter wachsen wird. „Die Regierung hat hier mit ihrer „Make in India“-Kampagne viel vor“, sagt Bhargava. „Selbst wenn nur die Hälfte der Ankündigungen umgesetzt wird, sind wir immer noch sehr gut aufgestellt.“
Indien in Zahlen
Indien gehört mit einem BIP von 1,877 Milliarden US-Dollar neben Russland und China zu den drei größten und am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2013/2014 laut Auswärtigem Amt bei 1.229 US-Dollar.
Die Wirtschaft ist weitgehend liberalisiert und das Wachstum seit Jahren auf recht hohem Niveau. 2014 waren es 6,8 Prozent. Der Export stieg im Jahr 2012 um 20 Prozent.
Die Bundesrepublik ist mit einem Volumen von 16,1 Milliarden Euro der wichtigste Handelspartner Indiens innerhalb der EU. Der deutsche Handelsüberschuss lag 2012/13 bei 3,4 Milliarden Euro. Der Warenwert der Exporte nach Deutschland lag bei gut 9 Milliarden.
Eine Milliarde Euro Kredit kamen im Jahr 2013 allein aus Deutschland. Vorgesehen sind sie für Investitionen in erneuerbare Energien und andere nachhaltige Projekte der Energieeffizienz.
Laut Auswärtigem Amt sind ca. 3.000 Deutsche in Indien ansässig, arbeiten in der Wirtschaft, im Bildungswesen, in Kultur und Missionen. Deutlich mehr Inder zieht es nach Deutschland; rund 45.000 leben in der BRD.
1,2 Milliarden Menschen leben in Indien. Die Gesellschaft ist dabei höchst gegensätzlich: fortschrittsorientiert und traditionell, arm und reich.
820 Millionen Inder leben in Armut. Davon gelten laut Weltbank fast 35 Prozent als absolut arm. Armuts- und Wirtschaftswachstum scheinen in Indien Hand in Hand zu gehen. In keinem anderen Land leben mehr Menschen in absoluter Armut, es sind mehr als in ganz Afrika. Sozialprogramme der Regierung greifen nur bedingt.
Mit 3.287.000 Quadratkilometern ist Indien flächenmäßig rund neunmal so groß wie Deutschland.
Die Regierung, das ist in den Augen vieler Inder vor allem Premierminister Narendra Modi. Seit rund einem Jahr leitet Modi die politischen Geschäfte auf dem Subkontinent – und gilt als Hoffnungsträger für das Land. Mit Investitionen in die Infrastruktur und niedrigeren Unternehmenssteuern will er ausländische Investoren anlocken, lieber in Indien zu fertigen als ihre Produkte zu importieren. Auch auf der Hannover Messe (13.-17. April) wird der Premier für seine „Make in India“-Kampagne werben.
„Make in India“ soll Industrie ankurbeln
Mit dieser Kampagne will die Regierung die Wahrnehmung Indiens als fast ausschließlicher Dienstleistungs- und IT-Standort korrigieren. Aus Sicht des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) sind die konkreten Reformvorhaben für ausländische Investoren vielversprechend. „Neben der schrittweisen Öffnung von bislang geschützten Branchen, der Reform der Regeln beim Landerwerb und der Reduzierung der Körperschaftsteuer soll für mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung gesorgt werden“, sagt Volker Treier, Außenhandelschef des DIHK. „Teil des „Make in India“-Konzeptes sind die Realisierung stagnierender Infrastrukturprojekte, der Aufbau von Sonderwirtschaftszonen und die Modernisierung der Industrie. Die Wahl Modis hat insgesamt zu einer Aufbruchstimmung im Land geführt.“
Ein riesiger Markt, viele Arbeitskräfte und zum Teil zweistellige Wachstumsraten: Indien klingt verlockend. Doch wer das Abenteuer wagen will, muss einiges beachten – denn auch in dem Boomland Indien läuft nicht alles wie geschmiert.
Fakten und Hintergründe zu Indien
Mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von zehn Prozent im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre und mehr als sieben Prozent im laufenden wie voraussichtlich auch im kommenden Jahr gehört Indien zu den am stärksten wachsenden Volkswirtschaften der Welt.
Quelle: DIHK
Infrastrukturausbau sowie Auf- und Ausbau von industriellen Strukturen sind zwei Bereiche von vielen, die für den gewaltigen Entwicklungsprozess in Indien stehen. Weitere Bereiche: Erneuerbare Energien, Automobil und Zulieferer, Dienstleistungen (Logistik, Finanzen)
Für Deutschland ist Indien das 25. wichtigste Handelspartnerland. Hinsichtlich der im Ausland getätigten deutschen Direktinvestitionen liegt Indien auf dem 10. Platz außerhalb der EU.
Der deutschen Ausfuhren nach Indien in Höhe von 8,92 Milliarden Euro (2014) zeugen von der hohen indischen Nachfrage insbesondere nach Investitionsgütern. In erster Linie nach Maschinen (vor allem nicht-elektronische), die etwa ein Drittel der Gesamtexporte nach Indien ausmachen (danach folgen chemische Erzeugnisse und Elektronik). Angesichts der Größe und Dynamik des indischen Marktes ist das Potenzial des deutsch-indischen Handels längst nicht ausgeschöpft.
Deutsche Hauptimportprodukte aus Indien (3,59 Milliarden Euro in 2014) sind chemische Erzeugnisse, Bekleidung und Maschinen.
Über 1.000 deutsche Firmen sind in Indien registriert, darunter über 40 Prozent in der industriestarken Region Mumbai/Pune. Etwa 20 Prozent der deutschen Unternehmen sind als Joint Ventures mit indischen Partnern organisiert. Zu den größten deutschen Investoren in Indien gehören Siemens, Bharat-Benz, Volkswagen und Allianz.
Der komplizierte Staatsapparat mit den mächtigen Bundesstaaten gilt als schwer reformierbar. Ein undurchsichtiges Steuersystem und der Regulierungswahn der zahlreichen Behörden machen es nicht einfach, in Indien Fuß zu fassen.
Der Ausbau der Infrastruktur stockt, Straßen entstehen zu langsam. Bereits heute hat Indien das zweitgrößte Straßennetz der Welt. Dennoch geht auf Indiens Straßen während der Rushhour kaum etwas voran. Ein großes Hemmnis für die Wirtschaft, denn rund 60 Prozent der Waren werden über die Straße befördert. Und die für den Transport wichtigen Schnellstraßen machen noch nicht einmal zwei Prozent des Straßennetzes aus.
Dazu kommt: Güterzüge sind keine echte Alternative. Das Schienennetz stammt zum Teil noch aus der britischen Kolonialzeit. Auch See- und Flughäfen sind vielerorts dem Boom noch nicht gewachsen, genauso die Kraftwerke. Ausfälle und Verzögerungen bei Waren- und Stromversorgung bremsen die Wirtschaft. Die Wahl des Standorts kann für Erfolg oder Misserfolg in Indien entscheidend sein.
„Wenn uns etwas aufhält, dann ist es die Infrastruktur“, sagt Rittal-Manager Bhargava. „Transportschäden wegen der schlechten Straßen sind einer der Hauptgründe für Kundenbeschwerden – aber bei Weitem nicht mehr so stark wie noch vor 15 Jahren.“ Zudem falle regelmäßig für zwei Stunden am Tag der Strom aus. „Insgesamt ist der Energiesektor entscheidend für den Erfolg des Landes. Momentan kann es noch ein Grund für einen Investor sein, eher nach China zu gehen.“
750 Milliarden Euro für die Infrastruktur
Um das zu verhindern, will Modi die Verkehrs- und vor allem Versorgungswege deutlich verbessern. Noch haben mehr als 400 Millionen Inder keinen Strom, vor allem auf dem Land. Bei der Stromversorgung setzt die Regierung aber auf einen Klimakiller: Kohle. Indien fördert aktuell rund 550 Millionen Tonnen Kohle jährlich, 2019 soll es eine Milliarde Tonnen sein.
Indische Kohle ist billig, macht die Kraftwerke und den Strom erschwinglich. Das Problem der Versorgung kann zwar so gelöst werden, schaffen aber ein anderes: Bereits heute gelten Indiens Großstädte als diejenigen mit der schlechtesten Luftqualität. Ein Zustand, der sich mit dem Kohleboom kaum verbessern dürfte. Gegen diese Kritik wiegelt Indiens Energieminister Piyush Goyal aber ab: „Indiens Zwang zur Entwicklung kann nicht auf dem Altar eines eventuellen Klimawandels in ferner Zukunft geopfert werden.“
750 Milliarden Euro will die Regierung bis 2017 in die Infrastruktur stecken. „Der Großteil der Infrastruktur, der 2050 gebraucht wird, existiert heute noch nicht“, sagt Bazmi Husain, Chef der Indien-Tochter des Schweizer Mischkonzerns ABB. „Das ist eine große Chance für die Wirtschaft.“ Gerade in den Städten muss die Versorgung kräftig zulegen: Heute leben „nur“ 30 Prozent der 1,3 Milliarden Inder in Städten, 2030 werden es aber bereits 40 Prozent sein – Tendenz steigend. Dazu kommt der Nachholbedarf, denn in den vergangenen Jahrzehnten ist die Infrastruktur nicht im selben Tempo wie die Bevölkerung gewachsen. Die chaotisch verlegten Stromkabel an jeder Straßenecke sind nur ein Beispiel.
Champagner zu Bier-Preisen
Die Infrastrukturprojekte gehen zwar meist an internationale Großunternehmen wie Siemens, ABB oder Mitsubishi aus Japan, aber auch deutsche Mittelständler können davon profitieren – als Zulieferer. Denn Teile wie Schaltschränke, Steckverbindungen oder Klemmen werden weiterhin zugekauft. Und das am liebsten in der gewohnten internationalen Qualität.
Aus diesem Grund hat sich der Klemmen-Spezialist Phoenix Contact aus dem ostwestfälischen Blomberg bereits in den 1990er Jahren nach Indien aufgemacht. „Unsere Produkte werden in der Industrie oder der Infrastruktur eingesetzt“, sagt Geschäftsführer Frank Stührenberg. „Wo es viele Menschen gibt, muss irgendwann eine Industrie und Versorgungskette entstehen – um ausreichend Güter zu produzieren, damit die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Geräten versorgt wird.“
Seit über 20 Jahren fertigt Phoenix Contact vor den Toren von Delhi seine Produkte für den indischen Markt. In dieser Zeit haben sich, so Stührenberg, nicht nur die Rahmenbedingungen wie Infrastruktur und Korruptionsbekämpfung verbessert, sondern das Unternehmen hat auch die Eigenheiten des Landes kennen gelernt – und verstanden. „Heute wissen wir viel genauer, welche Ansprüche es an ein Produkt gibt und wie der Preis aussehen muss. Und in Indien wird sehr viel Wettbewerb über den Preis ausgetragen.“ Anders ausgedrückt: „Der Inder will oft Champagner zu Bier-Preisen.“
Wegen diesen Anforderungen betreibt das Blomberger Unternehmen seit einem Jahr eine eigene Entwicklungsabteilung. Da zahlreiche EU-Standards in Indien nicht gefordert sind, können diese Funktionen ohne Probleme weggelassen werden. Zudem sind oft nicht alle Werkstoffe verfügbar – und schon muss das Bauteil geändert oder von Grund auf umgeplant werden.
Trotz des schwierigen Umfelds ist es Phoenix Contact gelungen, sich als Premium-Anbieter auf dem preissensitiven Markt zu etablieren. Das offene Geheimnis: Kunden aus Europa kommen auch in Indien als Kunden infrage. „Ein nicht unerheblicher Teil unserer Kundenklientel in Indien rekrutiert sich aus multinational agierenden Unternehmen“, sagt Stührenberg. „Solche Konzerne orientieren sich an internationalen Standards und wollen die gewohnte Qualität auch in Indien beziehen. Das andere Extrem, der indische Installateur weitab der Metropolen, ist für uns nur sehr schwer erreichbar.“
Nachholbedarf bei der Ausbildung
Ein weiterer Tipp des international erfahrenen Unternehmenslenkers: In einem Emerging Market kann ein lokales Management eine große Hilfe sein. „Für uns ist es sehr schwer, ein Land mit 29 relativ unabhängig agierenden Bundesstaaten und 21 Amtssprachen zu koordinieren“, sagt der Phoenix Contact-Geschäftsführer. „Die unterschiedlichen Steuersysteme, Handels- und Vertriebsstrukturen kennt ein indischer Manager viel besser.“
Soll heißen: Jeder der Bundesstaaten erhebt andere Steuersätze, beim Transport zwischen den Staaten fallen zum Teil Zölle an. Deshalb kommt auch hier der Standortwahl eine große Bedeutung zu: Potenzielle Kunden können nah sein, die Geschäfte werden aber von Zollgrenzen gehemmt.
Weiter gute Nerven gefragt
Klaus John, Leiter International Trade & Future Markets beim Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI), sieht aus diesem Grund in der Logistik eine der größten Herausforderungen. „Zum Teil gibt es zwischen den Bundesstaaten immer noch Mautstationen, die – zumindest in früheren Jahren – an den Wochenenden noch nicht einmal besetzt waren“, so John. „Die Folge waren lange Lastwagenkolonnen von Freitagnachmittag bis Montagmorgen, weil die Fahrer nicht in der Lage waren, die notwendigen Mautbescheinigungen zu erwerben.“
Alle Hürden wird Modi nicht beseitigen können, es sind also weiter gute Nerven gefragt. Das Steuersystem zu vereinfachen wird immerhin ein Anfang sein. Neben der Infrastruktur und der Korruptionsbekämpfung steht noch die Bildung auf dem ehrgeizigen Plan des Premiers – nicht nur für die Manager ein äußerst wichtiger Punkt.
Pro Jahr drängen 15 Millionen junge Inder auf den Arbeitsmarkt. Alleine um für sie ausreichend Jobs zu schaffen, ist ein Wachstum von mindestens acht Prozent nötig. Doch diese Nachwuchskräfte müssen auch entsprechend gebildet sein, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. „Wir sagen immer, dass wir in Indien mehr als genug Arbeitskräfte haben. Es kommt aber auf deren Qualität an“, sagt Rashmikant Joshi, Geschäftsführer von Festo Indien. „In diesem Punkt liegt China vor uns, denn die Chinesen haben früh mit europäischen Unternehmen und Forschungsinstituten zusammengearbeitet.“
Der Spezialist für Steuerung- und Automatisierungstechnik aus Esslingen am Neckar brachte sein Konzept für die industrielle Aus- und Weiterbildung „Festo Didactic“ bereits 1995 nach Indien. Neben der Zentrale in Bangalore unterhält Festo auf dem Subkontinent sechs weitere Trainings-Center. „Der Markt für Bildungsprogramme entwickelt sich positiv“, sagt Joshi.
Auch Rittal hat seit 2014 ein eigenes Trainingszentrum am Standort Bangalore. „An der Universität bekommen die Studenten keine Praxiserfahrung. Deshalb gibt es eine Differenz zwischen der Lehre und dem, was wir im Unternehmen benötigen“, sagt Ajay Bhargava. „Wir müssen die Leute von verschiedenen Levels auf ein Niveau bringen.“
Von der mangelnden Ausbildung sind nicht nur die Töchter mittelständischer Unternehmen betroffen, auch Siemens bleibt vom Fachkräftemangel nicht verschont. „Weil uns qualifizierte Mitarbeiter fehlen, können wir nicht 100 Prozent aus den Maschinen herausholen“, sagt Niederlassungsleiter Vijay Pratap Singh. „Im CNC-Werkzeugbau brauchen wir mehr als 50.000 Programmierer. Pro Jahr bilden wir 2.500 Programmierer aus, der Bedarf ist aber deutlich größer.“
So groß die kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen dem Westen und Europa zum Teil noch sein mögen, in einem Punkt seien sie gleich, sagt Festo-Manager Joshi: „Qualifizierte Menschen sind der Schlüssel zum Erfolg.“