Brüssel verbietet zwei Drittel aller Tattoo-Farben Die Angst der Tattoo-Studios vor einer EU-Verordnung – und ihre mögliche Rettung

Die Tätowier-Szene schaut mit Unsicherheit ins neue Jahr. Grund ist eine EU-Verordnung, die künftig für weniger bunte Haut sorgen könnte. Quelle: imago images

Ab sofort wird es heikel für viele Tattoostudios. Mit dem 4. Januar hat die EU beinahe sämtliche bunte Tättowierfarben verboten. Studios bringt das in Existenznöte. Edding könnte die Szene retten. Doch das Unternehmen verärgert die Branche mit harten Bedingungen.

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Leise surrt die Tattoo-Nadel, als Bernd Muss einem Kunden auf der Liege hinter seinem Empfangstresen ein Motiv auf den Oberschenkel sticht. Der 48-Jährige mit markantem Seitenscheitel und großer schwarzer Brille neigt konzentriert den Kopf, während er langsam die vorgemalten Linien mit seiner Tätowiermaschine nachzeichnet. Seit 2019 ist er Inhaber des kleinen Studios „Tattoo Freestyle“ in der Hamburger Neustadt. An diesem Dezembertag kommen weitere Kunden in seinen Shop, wollen sich stechen lassen – viele von ihnen fragen nach farbigen Tattoos. Muss könnte zufrieden sein. Der Laden läuft. Trotzdem quälen ihn „Existenznöte, die auf einen zukommen“.

Wegen einer Neufassung der Chemikalienverordnung REACH hat die Europäische Union rund zwei Drittel aller Tattoofarben ab dem 4. Januar 2022 verboten. Etwa 4000 Substanzen sind betroffen, darunter auch Nagellack und Lippenstifte. Damit sind in allen deutschen Tattoostudios fast nur noch dunkle Töne verwendbar, was die Besitzer vor Probleme stellt. Eine groß angelegte Petition soll das verhindern, hat aber kaum Chancen. Stattdessen wächst die Wut auf den einzig möglichen Retter, der seine konformen Farben aber nicht hergeben will: Edding

Dass das Verbot kommt, begründet die Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) damit, dass die Farbpigmente über die Haut in verschiedene Organe wie Lymphknoten und Leber gelangen und dort langzeitig Folgen anrichten könnten. Auf der Liste an potenziellen Nebenwirkungen stehen beispielsweise Hautallergien, genetische Mutationen oder gar Krebs. „Das Ziel ist nicht, Tätowierungen zu verbieten, sondern Tätowierfarben und Permanent-Make-up sicherer zu machen“, so die Behörde. Um der Branche entgegen zu kommen, hat die ECHA für zwei in der Szene wichtige Farben eine Übergangszeit erschaffen. So sollen die beiden Pigmente „Blau15“ und „Grün7“ erst ab dem 4. Januar 2024 verboten werden.

Die Schreibwarenbranche leidet unter Digitalisierung und Homeoffice-Trend. Auch für den Filzstiftehersteller Edding wird das Umfeld schwieriger – wären da nicht neue Geschäftsmodelle, um durch die Coronakrise zu kommen.
von Maren Jensen

Für Bernd Muss ist die neue Regelung dennoch ein Tiefschlag. Etwa 40 Prozent seines Geschäfts macht er mit farbigen Tattoos. Als die EU vor fünf Monaten verkündete, ab Januar fast nur noch dunkle Töne zuzulassen, fand er das „beängstigend“, sagt Muss. Vor allem nach zwei Lockdowns und aktuellen 2G-Regelungen habe die Branche ohnehin genug finanzielle Sorgen. Die gesamte Industrie der Tätowierer befürchtet nun, dass einige Farbtattoo-Fans in das Nicht-EU-Ausland wie die Schweiz abwandern könnten, um sich dort tätowieren zu lassen. Muss konnte zuletzt noch ein paar der kleinen Fläschchen ergattern und wird so vielleicht ein paar Wochen länger stechen können, andere Studios gingen leer aus. Für sie hat sich das Geschäft mit den Farben ab Januar ausgestochen.
Das vielleicht größte Ärgernis für Muss und seine Kollegen: Der deutscher Hersteller Edding könnte alle Probleme lösen. Die Filzstiftikone aus Ahrensburg öffnete im Oktober 2020 ein eigenes Tattoo-Studio, in dem mit aus heutiger Sicht REACH-konformen Farben gearbeitet wird. Doch Edding will die eigenen Farben zunächst für sich behalten.

Im Kontrast zu dem kleinen Laden mit den schwarzen Wänden und unzähligen Zeichnungen an den Wänden bei Muss, ist der Tattooshop von Edding in weißem Hochglanz ausgestattet. Rund 1,5 Kilometer nördlicher in der Hafencity hat sich der Shop ein edles Plätzchen gesucht. Im Chilehaus hat sich das Unternehmen elegant eingerichtet. Ledercouches, Glas, viel Platz: In dem Shop sieht es eher aus wie in einer Arztpraxis für Privatpatienten als einem Hamburger Tattoo-Studio.

Vor sieben Jahren begann das Ahrensburger Unternehmen im Tattoobereich zu forschen. Unternehmenschef Per Ledermann stellte ein Expertenteam aus eigenen Farbentwicklern, Hautärzten und Tätowierern zusammen. Schon seit Jahrzehnten produziert das Unternehmen Stifte, mit denen Ärzte bei Operationen die Skalpell-Schnittlinien markieren. Tinte für Tätowierer war Ledermann zufolge ein logischer Schritt. Er wollte es aber anders machen und Tattoofarben mit möglichst wenig Inhaltsstoffen entwickeln. Da die Farben von Beginn an auf alle unnötigen Inhaltsstoffe verzichtet haben, könne Edding bedenkenlos und ohne Übergang ab Januar 2022 weiter tätowieren. „Unsere Farben sind REACH konform“, sagt Sebastian Gellwitzki, Chef des Studios von Edding.

Quelle: Presse

Es gibt also eine Lösung, nur haben die kleinen Studios davon nichts. Edding will die Farbe zunächst für sich behalten, angeblich, weil es um das eigene Image fürchte. Das Unternehmen habe sich vorerst mit der Farbe nur auf das eigene Studio fokussiert, weil die Nutzung der Tinte bestimmte Standards erfüllen soll. So sind die kleinen 4,5 Milliliter Flaschen nur zur Einmalverwendung geeignet und haben ein Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) von sechs Monaten. „Da wir unseren Kunden die maximale Sicherheit bieten wollen und die volle Verantwortung übernehmen, konnten wir bisher ausschließlich in unserem eigenen Studio gewährleisten, dass die Tinte nach unseren Anforderungen verarbeitet wird“, sagt Gellwitzki.

Bernd Muss findet das Vorgehen von Edding egoistisch. Ohnehin habe das Unternehmen in der Szene keinen guten Ruf, sagt er. Das dürfte auch an der Marketing-Kampagne liegen, mit der das Unternehmen auf den ersten Messen und bei der Eröffnung des Studios auftrat. „Tätowieren 2.0“ hieß es. „Als hätten wir vorher wie Neandertaler gearbeitet“, sagt Muss.

Er ist unsicher, ob es andere Ersatzfarben gibt. „Und selbst wenn, kann mir noch keiner garantieren, wie meine Kunden auf diese Farben reagieren werden“, sagt Muss. Der Künstler ist ohnehin verärgert über die Vorwürfe zu den Inhaltsstoffen. Er könne an einer Hand abzählen, zu wie vielen allergischen Reaktionen es in seiner Zeit als Tätowierer in den vergangenen 28 Jahren kam.

Den Ärger kann auch der Anwalt und Vorstandsvorsitzende des Bundesverband Tattoo verstehen. „Die Zahlen der ECHA fallen statistisch nicht ins Gewicht“, sagt Urban Slamal. „Es gibt auch keinen einzigen Fall einer Krebserkrankung, der auf eine Tätowierung zurückzuführen ist. Anders als bei Zigaretten. Und die kann man noch kaufen“, sagt er. Um die wirklichen Folgen von Tattoofarben herauszufinden, plädiert Slamal für Tierversuche. „Aber das ist nicht möglich, weil wir in den Kosmetikbereich fallen und es dazu strenge Regelungen gibt“, sagt Slamal.

Der Verband, in dem auch Edding Mitglied ist, unterstützt die Petition „Save the Pigments“, in der sich Tausende Tätowierer aus der ganzen EU zusammengetan haben, um gegen die Maßnahmen zu protestieren. Mehr als 170.000 Unterschriften haben sie gesammelt. Doch Slamal glaubt gegen die Neuregelung im Ganzen nicht mehr viel ausrichten zu können. „Das Ding ist durch“, sagt er und räumt ein: „Diese Situation kommt weder überraschend oder aus dem Nichts noch hat man sie ohne Gegenwehr auf sich zurollen lassen“.

Die Herstellerseite habe zu langsam reagiert, um Lösungen zu finden und konforme Farben anzubieten. Zwar könne er nicht ausschließen, dass ein Hersteller bisher still und leise an einer Lösung gearbeitet hat, die plötzlich auf den Markt kommt, doch halte er das für unwahrscheinlich. Besonders über das Stillschweigen von überwiegend US-amerikanischen Produzenten ist er verärgert. „Wenn sie wenigstens sagen würden, dass sie länger brauchen als erwartet. Aber von ihnen kommt gar nichts. Wir tappen im Dunkeln“, sagt Slamal.

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Immerhin einen Lichtblick gibt es in den für Tattoostudios dunklen Zeiten: Aktuell prüft Edding verschiedene Vertriebsmodelle, in denen externen Studios oder einzelnen Tätowierern die Farbe zugänglich gemacht wird. „Wir würden gerne jedem Interessenten unsere Farbe zur Verfügung stellen, müssen dabei aber sicher gehen können, dass unsere Farbe nicht mehrfach genutzt oder nach dem Mindesthaltbarkeitsdatum verwendet wird“, so der Studiochef.

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