China Unter Kommunarden

Um das Geschäftsrisiko zu mindern, bilden deutsche Unternehmen bei Shanghai eine Wohngemeinschaft.

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Bernd Reitmeier Quelle: Egill Bjarke für WirtschaftsWoche

Jochen Ott wuchtet eine schwere Holzkiste aus dem Regal und öffnet die Verschlüsse. Dann hievt er ein glänzendes Metallteil von der Größe einer Bierflasche heraus. „Unser deutscher Kunde hier schickt die Spindeln immer in solchen Kisten“, sagt er in breitestem Schwäbisch. „Ich schau dann, wo der Fehler liegt.“

Der Mittvierziger ist der einzige deutsche Mitarbeiter der Firma Kern in China. Das Familienunternehmen aus Burladingen südlich von Stuttgart ist Deutschlands größter unabhängiger Reparateur von Schleif-, Fräs- und Drehspindeln. Die hoch spezialisierten Teile stecken in vielen Maschinen etwa der Autoindustrie. Ist eine Spindel defekt, kostet die Reparatur vor Ort nur halb so viel wie der Ersatz aus Deutschland. Deshalb hat Kern seinen Service-Mann Ott nicht zu Hause belassen, sondern in Kunshan, einer Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt gut eine Autostunde von Shanghai entfernt, stationiert.

Die größten deutschen Arbeitgeber in China
Knorr-Bremse Quelle: Screenshot
Heraeus Quelle: Foto: Heraeus
Henkel Quelle: Pressebild
Evonik Quelle: Pressebild
Bertelsmann Quelle: dapd
Schenker Quelle: dapd
Freudenberg Quelle: Pressebild

Teak und tropische Gärten

Dazu haben sich die Schwaben etwas einfallen lassen, was bisher in der Regel eher Studenten praktizierten. Sie gründeten mit elf deutschen Mittelständlern eine Wohngemeinschaft. Startup-Factory heißt die ungewöhnliche Kommune in Kunshan. Mit von der Partie sind Arku, ein Maschinenbauer aus Baden-Baden mit zuletzt 38 Millionen Jahresumsatz, und der Zahnradpumpenhersteller Scherzinger aus Furtwangen im Schwarzwald. Auf rund 15.000 Quadratmetern teilt sich das deutsche Dutzend Produktionsflächen, Büros, IT und Verwaltung. Keiner beschäftigt selber mehr als 20, viele gerade mal vier Leute.

Die Idee zur Fabrik-WG stammt von Bernd Reitmeier, einem 42-jährigen Bayern aus Freising im Norden von München. Seine Schuhsohlen hallen wider auf frischem Parkettboden. Die weißen Wände in seinem Domizil sind nackt, manches wirkt improvisiert. Draußen gedeihen tropische Pflanzen in kleinen Gärtchen. Die Terrasse, die von allen Büros aus zugänglich ist, zieren Teakholz-Möbel aus Bali und dekorative Buddha-Köpfe, die Reitmeier im Urlaub erstanden hat.

Start in China in der WG

Elf Jahre lang begleitete der Bayer für die deutsche Auslandshandelskammer in Shanghai Unternehmen beim Start in China. „Weil gerade kleine und mittelständische Unternehmen den Markteintritt wegen der sehr hohen Kosten scheuen“, sagt er, „lag die WG-Idee auf der Hand.“

Reitmeier nimmt nun als Vermieter den Mitgliedern der WG einen Teil der Kosten ab. In den zwei Jahren von der Idee bis zur Eröffnung Anfang 2012 trug die Stadt Kunshan die Ausgaben für das Gebäude, indem sie den Bau finanzierte. Jetzt kassiert Reitmeier zwischen 4000 und 5000 Euro monatlich von den Kommunarden für seine ständigen Dienste. Dafür übernimmt sein 25-köpfiges Team unter anderen Buchführung und Controlling, vor allem aber die Einstellung neuer Mitarbeiter.

Besser ausgebildet

Reparaturwerkstatt der Firma Kern Quelle: Egill Bjarke für WirtschaftsWoche

Gerade mit der Rekrutierung des Personals hilft der Bayer den WG-Mitgliedern. Denn überall im Reich der Mitte steigen die Löhne, zugleich schrumpft infolge der Westwanderung der Unternehmen die Zahl qualifizierter Arbeitskräfte in östlichen Küstenregionen wie Shanghai und Kunshan. 2011 nannten neun von zehn deutschen Unternehmen dies als ihre größte Herausforderung in China.

Ganz anders Reitmeier: „Wir haben kaum Probleme, qualifiziertes Personal zu finden.“ Arbeiter in Kunshan verdienten zwar mehr als ihre Kollegen 1000 Kilometer weiter westlich. Aber dafür seien sie auch deutlich besser ausgebildet. Ohnehin fielen für die hoch spezialisierten Mittelständler aus Deutschland die Lohnkosten nur gering ins Gewicht. Viel wichtiger seien gut ausgebildete Fachkräfte und eine funktionierende Infrastruktur vor Ort.

Die deutsche Startup-Factory liegt perfekt unweit der Metropolen Shanghai und Nanjing. Mit einem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von 20.000 US-Dollar pro Kopf gehört Kunshan zu den reichsten Städten Chinas, der Landesdurchschnitt liegt bei gut 5000 US-Dollar. Die Stadt rühmt sich guter Lebens- und Arbeitsbedingungen. Das Ambiente prägen wie in nahezu allen chinesischen Großstädten gewaltige Hochhäuser, mehrspurige Straßen und Luxusboutiquen in der City.

Was Deutschland mit China verbindet
Das kommunistisch regierte China ist mit gut 1,3 Milliarden Menschen das bevölkerungsreichste Land der Erde. Quelle: dapd
Mit einer Fläche von knapp 9,6 Millionen Quadratkilometern ist es etwa 27 Mal so groß wie Deutschland. Quelle: Reuters
Trotz eines Bruttoinlandsprodukts von 5,88 Billionen US-Dollar (2010) und einem Wachstum von 9,2 Prozent im vergangenen Jahr ist besonders die Landbevölkerung von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen . Quelle: dpa
2010 exportierten deutsche Unternehmen Waren für 53,6 Milliarden Euro nach China. Im Vergleich zum Jahr zuvor entsprach das einem Plus von 43,9 Prozent. Die Einfuhren lagen 2010 bei 76,5 Milliarden Euro (35,0 Prozent mehr als 2010). Quelle: dpa
Aus der Bundesrepublik werden besonders Maschinen, Anlagen, elektrotechnische Produkte und Autos nach China verkauft. Quelle: dapd
Von dort kommen vor allem Elektrotechnik und Kleidung. Quelle: dpa
Die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen beliefen sich 2010 auf 697 Millionen Euro nach 857 Millionen im Jahr zuvor. Quelle: REUTERS

Avantgarde Chinas

„Früher stand hier ein landwirtschaftlich geprägtes Dorf. Dann kamen die großen Fabriken und die Wanderarbeiter. Heute setzen wir auf Forschung und Entwicklung und Umweltfreundlichkeit“, sagt Wang Wen aus der Bezirksregierung. Wang trinkt Kaffee, für einen Chinesen in etwa so ungewöhnlich wie für einen Deutschen, an Hühnerfüßen herumzukauen. Doch es passt – Kunshan gilt in China schließlich als Avantgarde.

So gründete die Stadt im Jahr 2000 eine „Export Processing Zone“. Auf dem Gelände konnten alle Waren – ähnlich einer Freihandelszone – zollfrei eingeführt, in Kunshan verarbeitet und anschließend wieder exportiert werden. So versucht Kunshan, sich von der Schwerindustrie weg zum High-Tech-Standort zu entwickeln. Funktionär Wang reiste kürzlich gar nach Dortmund, um Strukturwandel zu studieren.

Hoch spezialisierte deutsche Mittelständler

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Qian ming Quelle: AP
Shang wu can

Klar, dass solch ein Funktionär offen war für Reitmeiers Idee, eine Fabrik-WG für hoch spezialisierte deutsche Mittelständler aufzuziehen. Denn solche Neubürger passen in Wangs Konzept des Strukturwandels. Sechs Millionen Euro machte die Stadt locker, um statt eines 08/15-Gewerbebaus ein hochmodernes Gebäude hinzustellen.

Das Münchner Architekturbüro Mudi entwarf den schlichten und klaren Bau, das Stuttgarter Ingenieurbüro Energydesign sorgte für Energieeffizienz. Die Außenwand etwa trägt eine zusätzliche Schicht aus Polykarbonat – zur Wärmedämmung. Im Sommer kühlt die Zugluft, im Winter wärmt sie. Tageslicht dringt in möglichst viele Räume.

Zwar geriet die WG-Herberge durch solche Vorzüge am Ende fünf Mal teurer als eine Billigbude. Dafür erspart die Konstruktion im Vergleich zu herkömmlichen Gebäuden 60 Prozent der Energie, was die laufenden Kosten der WG-Mitglieder senkt.

Produktionshallen

Für Scherzinger aus Furtwangen ist all das ideal. Deren Zahnradpumpen gehen zum Beispiel an GEA Bock, eine Tochter des Düsseldorfer Maschinen- und Anlagenbauers GEA, die solche Teile in ihre Kompressoren und Klimageräte montiert. „80 Prozent der Pumpen gehen aktuell an deutsche Kunden – aber die sitzen alle in China“, sagt Reitmeier.

Dem ein oder anderem Fabrik-WG-Mitglied wurde es sogar schon zu eng in der gemeinsamen Unterkunft. Die Firma Sturm aus dem niederbayrischen Salching zum Beispiel, ein Hersteller von Förderbändern für Flughäfen, zählt zu den ersten Mietern der Startup-Factory. Weil die Geschäfte immer besser laufen, hat das Unternehmen Produktionshallen in Sichtweite angemietet. Bis der Mittelständler komplett auf eigenen Füßen steht und ein lokales Management installiert hat, bedient er sich weiter der Dienstleistungen der Wohn- und Arbeitsgemeinschaft.

Der Gedanke, das Kushan-Modell auch in viele andere Länder zu exportieren, liegt nahe. Für Reitmeier ist das keine Neuigkeit mehr: „Kosten senken, Erfahrungen teilen, Kontakte nutzen – darum geht es doch überall.“

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