Falls Henning Strauss mal die Ideen ausgehen sollten, muss er nur nach oben schauen. Über dem Tisch, an dem er seine Gäste empfängt, prangt eine große Hängelampe. Oder genauer: ein umgedrehter Werkzeugkasten, in dem eine Neonröhre befestigt ist. Als wollte sie sagen: Selbst aus den trivialsten Alltagsgegenständen lässt sich so viel mehr machen, wenn man sich nur auf den Kopf stellt. „Es ist uns gelungen, eine Kultur zu entwickeln, bei der wir uns ständig selbst infrage stellen“, sagt Strauss selbst und meint damit nicht nur den Werkzeugkasten. Sondern eigentlich alles um ihn herum. Sein Büro. Sein Unternehmen. Seine Familie?
Zusammen mit seinem Bruder Steffen führt er das Unternehmen Engelbert Strauss in der dritten Generation. Seit die Geschwister an der Spitze des Berufsbekleidungshauses stehen, das ihr Großvater einst aus einer Besenhandlung formte, hat das Unternehmen eine Wandlung durchgemacht, wie man sie in der Welt der Wirtschaft nur ganz selten erlebt. Um die Jahrtausendwende hatte sie ihr Vater in die Geschäftsführung des Unternehmens aufgenommen, sie fanden das Haus in sehr geordnetem Zustand vor. Engelbert Strauss konnte sich Marktführer unter den Händlern für Berufsbekleidung nennen, Umsätze und Gewinne wuchsen beständig. Es sprach also alles dafür, so weiterzumachen, wie der Vater es vorgemacht hatte. Erbe verpflichtet, aber nicht zum Risiko. Doch genau an dieser Stelle entschlossen sich die Brüder, alles zu verändern: Aus dem Textilhändler mit kleiner eigener Kollektion sollte ein Modehersteller mit eigener Identität werden. Neues Logo, neue Marken, eine neue Idee. Sie krempelten damit nicht nur das Familienunternehmen um. Sondern erschufen am Ende gleich einen neuen Markt. Und damit ein Lehrstück über die Kraft der Disruption und den Mut, den man dafür braucht.
Frage den Kunden!
An den Tag, der später als Beginn der Revolution gelten wird, erinnert sich Henning Strauss noch sehr genau. „Das mit der Studentengruppe war eine unserer ersten eigenen Ideen“, sagt er heute. Er und sein Bruder hatten gerade ein paar Monate lang im Unternehmen des Vaters mitgearbeitet und ihn schließlich davon überzeugt, einmal dem Image des eigenen Hauses auf den Grund zu gehen. Also wurde eine Gruppe von Studenten einer Fachhochschule beauftragt, sich mal bei den Kunden zu erkundigen. Die Studenten würden ein bisschen Marktforschung lernen, und wir bekommen ein bisschen Honig um den Mund geschmiert, so die Erwartung. Schließlich liefen die Geschäfte ausgezeichnet. Engelbert Strauss war mit seinem Katalog nationaler Marktführer im kleinen Bereich der Berufsbekleidung.
Und die Studenten lieferten. Das Image des Handelshauses, so referierten sie, sei unter den Kunden, vor allem kleinen Handwerksbetrieben, gut. Engelbert Strauss war in seinem Feld bekannt, die Qualität der Produkte wurde durchweg gelobt. Wer einmal aus dem Katalog der Firma bestellt hatte, der kam regelmäßig wieder. Fast wie eine Randnotiz wirkte dagegen das kleine Aber: Emotional oder begehrt sei die Marke leider überhaupt nicht.
Das Lehrbuch der behäbigen Betriebsführung hätte nun einen klaren Ablauf vorgesehen. Einmal nicken, den Studenten für die Arbeit danken und ab damit in die Schublade. „Uns hat dieser Gegensatz damals total aufgerüttelt“, erinnert sich Strauss. „Wir sind bei den Kunden sehr beliebt und ihnen als Marke trotzdem ziemlich egal.“
In der Klassifikation der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist die Berufsbekleidung eine Unterbranche der Textilindustrie und damit im weiteren Sinne: Mode. Doch haben die Gesetzmäßigkeiten, die in den beiden Feldern gelten, herzlich wenig miteinander zu tun. Sie widersprechen sich eher. In der Mode hat nur das Erfolg, was neu ist. Je häufiger sich eine Kollektion verändert, je deutlicher sie saisonale Farben und Trends aufnimmt, umso besser. In der Arbeitsbekleidung ist hingegen Beständigkeit Trumpf.
Auch das Denken in Jahreszeiten ist bei Arbeitsbekleidung weitestgehend hinfällig. Bestellt wird, wenn Geld da ist. Einmal im Jahr kommt der Katalog, dann gibt es einen neuen Satz Sicherheitsschuhe. Wenn der Katalog mal ein paar Monate später einträfe, würde eben später bestellt. Stahlkappen braucht man sowieso, ob im Sommer oder Winter. Und dann ist da noch die Sache mit der Individualität: Während für modische Bekleidung gilt, dass sie den Träger möglichst hervorheben sollte, bestellt der seine Arbeitsbekleidung meist noch nicht mal selbst. Gut ist, womit alle leben können. Zu viel Individualität schadet.
„Alle Gesetzmäßigkeiten der Branche schienen zu suggerieren: Ändert bloß nichts“, sagt Strauss, der zu diesem Zeitpunkt gerade eine aufregende Zeit an der US-Westküste hinter sich hatte, das Studium dort hatte er mit einem Ausflug in die Unterhaltungsindustrie verbunden, bevor der Ernst des Familienunternehmertums beginnen sollte. Beeindruckt hatte ihn in Los Angeles der Puma-Store, das deutsche Sportlabel hatte sich zu dieser Zeit gerade erfolgreich zur popkulturellen Marke umdefiniert. „Ich habe das bewundert, als ich dort lebte“, erinnert sich Strauss. „An Engelbert Strauss habe ich zunächst nicht gedacht.“