Im ersten Stock einer Jugendstilvilla im Berliner Stadtteil Grunewald. Zwischen iMac und Eames Chair reihen sich auf zwei Kleiderstangen edelste Abendroben: in Feuerrot, Tiefschwarz und Nachtblau, dekoriert mit viel Spitze, noch mehr Tüll, unzähligen Pailletten und Glasschmuck von Swarovski. "Anna Karenina goes Versailles" heißt die ausgefallene Kollektion, mit der Tolstois gleichnamige Romanfigur Ende des 19. Jahrhunderts in die barocke Residenz der einstigen französischen Könige verpflanzt werden soll.
Präsentiert wurde die Kollektion im Januar von dem gleichnamigen Label der Designerin Frida Weyer in einem alten Berliner Theater. "Es sollte aussehen wie in einem russischen Märchen, gepaart mit der Romantik der Marie Antoinette", sagt Weyer.
Stoff und Strass, ein bisschen wahnsinnige Fürstentochter, ein bisschen Frankreichs letzte Königin – viel abgedrehter könnte auch die nächste Mission der 35-Jährigen nicht sein. Seit April ist Weyer die Chefdesignerin des neuen Modelabels "Meissen Couture". Schon im September soll die Debütkollektion erstmals auf der Mailänder Modewoche präsentiert werden. Das ambitionierte Zeil: Die Roben sollen die einstige Porzellanmanufaktur Meissen in neue Umsatzsphären katapultieren.
Die Krise der Kaffeetasse
Seit über 300 Jahren stellt das Traditionsunternehmen mal mehr, mal weniger Barockes her, vom Kaffeeservice mit Zwiebelmuster über Kerzenständer im Rosendesign bis zum Tässchen mit Goldrand. Gegründet wurde die Manufaktur 1710 vom Sachsenkönig August dem Starken. In den folgenden Jahrhunderten überlebte sie elf Kriege und sieben politische Systeme, seit 1991 gehört sie dem Freistaat Sachsen.
Doch jetzt steht Meissen wahrscheinlich vor der größten Herausforderung seiner Geschichte. Denn allein mit edlem Porzellan lässt sich im Zeitalter von Singlehaushalten und Take-away-Kultur kaum noch Geld verdienen. Christian Kurtzke kam als Sanierer nach Meissen, er löste 2008 den langjährigen Geschäftsführer Hannes Walter ab. In den ersten drei Jahren unter Kurtzkes Leitung schrieb der sächsische Staatsbetrieb noch immer rote Zahlen. Nach eigenen Angaben konnte Meissen erst 2011 wieder den Umsatz steigern, im vergangenen Jahr auf 39,3 Millionen Euro. Das Unternehmen mache Gewinn, versichert Kurtzke, wie viel, sagt er nicht.
Um die Zukunft zu gewinnen, soll möglichst immer mehr teurer Tand die bisherige Porzellan- zur generellen Luxusmarke umwerten. Porsche gibt es schließlich schon lange nicht mehr nur als Auto, sondern - von einer Tochterfirma - auch als Anzug, Brille oder Handtasche. Nur dass sich bei Meissen zum Dekoschwan der Diamantring, zur Sauciere das Sofakissen oder zur Tasse nun Tüll gesellt. "Wir wollen eine international bedeutende Luxusgruppe aufbauen - ein sächsisches Hermès oder Chanel", sagt Christian Kurtzke.
Feminin, blumig und opulent
Kurtzke steht bei Meissen für den Kulturbruch total. Der 44-Jährige hat Elektrotechnik und Betriebswirtschaftslehre studiert und danach im Management unterschiedlicher Unternehmen gearbeitet: bei Siemens, der Unternehmensberatung Boston Consulting und dem Küchenhersteller Rieber in Reutlingen südöstlich von Stuttgart, um nur einige zu nennen. Gleich nach seinem Amtsantritt gründete er die Tochterfirma Meissen Italia, unter deren Dach er seitdem alles Neue bündelt. 2011 legte er die erste Schmucklinie auf, es folgten Möbel und Accessoires. Absoluter Höhepunkt soll nun die Modekollektion von Chefdesignerin Weyer werden.
Der Wandel vom Label für reiche Omas zur Luxusmarke ist aus der Not geboren. Seit Jahren kämpfen die Porzellanhersteller gegen schwindenden Absatz. Billiganbieter wie Ikea machen den traditionellen Anbietern Konkurrenz. Kaum jemand ist noch bereit, mehrere Tausend Euro für ein Service zu bezahlen, das es auch für knapp 100 Euro zu kaufen gibt. Die Berliner Königliche Porzellan-Manufaktur, im Jahr 1763 von Friedrich dem Großen gegründet, stand 2006 kurz vor der Pleite und überlebte nur aufgrund der Porzellanaffinität des Berliner Bankiers Jörg Woltmann, der das Unternehmen kaufte. Drei Jahre später meldete Rosenthal aus dem oberpfälzischen Selb Insolvenz an, Arzberg aus dem benachbarten Schirnding kämpft aktuell gegen den Konkurs.
Handbemalte Kissen und der Brilli am Finger, wenn er die Kaffeetasse umfasst, das mag noch irgendwie zur Wohnkultur à la Meissen passen. Mit der Mode betritt Manufakturchef Kurtzke aber völliges Neuland. "Bei mir zu Hause wurde das Meissener Service nur für ganz besondere Anlässe aus der Vitrine geholt", sagt Designerin Weyer. Wie die stoffgewordene Interpretation des Porzellans letztendlich aussehen wird, mögen Weyer und Kurtzke noch nicht verraten. Sicher ist nur, die beiden teilen den gleichen Geschmack: Die Abend- und Brautmode von Meissen soll feminin, blumig und opulent sein.
Die Käuferschaft für den neuen Pomp, wohne eher in Hollywood als in Hattingen, deutet das Duo an, Schauspielerinnen wie Diane Krüger oder die Oscar-Gewinnerin Jennifer Lawrence wären die Traumkundinnen. Auf Geld jedenfalls soll es nicht ankommen. "Ich habe keine Budgetvorgabe, muss nicht bei den Stoffen geizen oder daran denken, ob es tragbar ist oder nicht", sagt Modeschöpferin Weyer. Dafür sollen die Käuferinnen tief in die Tasche greifen, bis zu 100.000 Euro kann ein Stück von Meissen Couture kosten.
Kurtzke liebt schönes Design, zeitweise kümmerte er sich persönlich um die Neuschöpfungen der Manufaktur, und das als Elektrotechniker und Betriebswirt. Fast neun Monate lang musste der gebürtige Berliner Intelligenz-, Persönlichkeits- und psychologische Tests über sich ergehen lassen, um endlich zum Chef des weißen Goldes gekürt zu werden. Er stellte einer Jury seine Unternehmensstrategie für die nächsten zehn Jahre vor. Das Gremium unter Leitung des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf war von der Radikalität der Ideen begeistert.
Schnell unglaubwürdig
"Alle Jobs, die ich vorher hatte, dienten nur einem Zweck: als Vorbereitung für Meissen", sagt Kurtzke. An seinen Handgelenken blitzen unter den Ärmeln des dunkelblauen Anzugs goldene Manschettenknöpfe mit dem Meissen-Emblem hervor. Auch die orangefarbene Seidenkrawatte ist von Meissen, Kurtzke hat sie selbst entworfen. Das schuppenartige Muster zierte einmal den Rand einer Meissen-Porzellan-Vase. Er entdeckte das Motiv zufällig im Firmenarchiv mit seinen 60.000 Dekoren, vergrößerte einen Ausschnitt und druckte es auf eine Krawatte.
Kurtzke hat die Porzellanmanufaktur verändert wie keiner vor ihm. Er verlässt sich nicht mehr auf den klassischen Einzelhandel, sondern betreibt neben dem Geschäft in Meissen seit 2008 neu konzipierte Boutiquen in Köln, Hamburg, Berlin, Stuttgart. Die Flagship-Stores offerieren die gesamte glitzernde Meissen-Welt: viel Gold, kristallene Lüster, gediegenes Interieur.
Der Strategie ist nicht ohne Risiko. Weder die Opulenz noch die neue Produktpalette trifft jedermanns Geschmack. Kurtzke schätzt, dass er mit den Boutiquen rund 90 Prozent seiner Kunden verloren, aber mindestens ebenso viele gewonnen hat. Um den klassischen Porzellankäufer nicht komplett zu verschrecken, erweiterte er das Programm nur langsam. Auf den Schmuck folgten Lampen und Seidenteppiche, im Herbst kommt die Mode. Gegen Ende des Jahres will er Ledergürtel, Taschen und eine Serie mit Füllfederhaltern dazubringen. Allerdings erhält Kurtzke auch Filialen im alten Stil. Die ebenfalls von Meissen betriebenen Shops führen weiterhin ausschließlich Porzellan.
Cassidy Morgan, Europa-Chef der Markenagentur Interbrand, sieht die Spreizung der jahrhundertealten Marke kritisch: "Wenn die Entfernung zu groß wird, dann macht sich Meissen, vor allem bei der deutschen Klientel, schnell unglaubwürdig."
Kritik ganz anderer Art schlägt Kurtzke am Firmensitz in Meißen entgegen, wo sich viele Einwohner um die Zukunft "ihrer" Porzellanmanufaktur sorgen. Zu DDR-Zeiten brachte die Manufaktur harte Westwährung, noch immer ist sie mit 600 Stellen der wichtigste Arbeitgeber der 28.000-Einwohner-Stadt. Das Weiße Gold war die ganze Zeit der Stolz der strukturschwachen Region an der Elbe, und da kommt einer wie Kurtzke, streicht das "Porzellan" aus dem Firmennamen und nennt Meissen nur noch Manufaktur.
Drum sammeln sich einmal im Monat Kurtzke-Gegner in einer Meißener Gaststätte. 2011 gründeten vier ehemalige Mitarbeiter unter Leitung von Reinhard Fichte die Initiative "Manu in Gefahr". Fichte war zu DDR-Zeiten Generaldirektor in Meissen und hatte sich 1989 während eines Messebesuches in die Bundesrepublik abgesetzt. Hätte er das nicht getan, wäre er nach der Wende möglicherweise Manufakturchef geblieben. Kurt Biedenkopf als erster Ministerpräsident Sachsens scherte sich nicht darum, dass die Manufaktur von Ex-SED-Größen und Mitarbeitern der Staatssicherheit durchsetzt war. Also beließ er Hannes Walter, Absolvent der Dresdner Bezirksparteischule und Ex-SED-Funktionär, auf dem Chefposten, von dem Fichte geflohen war.
Aufstand der Alten
Das hat der Republikflüchtling von einst offenbar bis heute nicht verwunden. Die Widerstandsgruppe gegen Kurtzke zählt ungefähr 30 aktive Mitglieder. Zwei von ihnen sind Jochen und Rosemarie Drubig, die seit Ende der Sechzigerjahre in Meißen leben, er vor seiner Pensionierung als Kinderarzt, seine Frau unter anderem als Betriebsärztin in der Manufaktur. "Die Meißner sehen das so", sagt Jochen Drubig, "unter der Marke der gekreuzten blauen Schwerter sollte das Porzellan absoluten Vorrang haben."
Den großen Zulauf erhielt die Bürgerinitiative, als Kurtzke begann, den Staatsbetrieb umzubauen. Innerhalb der ersten zwei Jahre entließ er fast 200 Mitarbeiter, darunter das komplette Kreativteam. Momentan arbeitet weniger als ein Drittel der früher bis zu fast 2000 Werktätigen in der Manufaktur. "Entlassene Mitarbeiter sind natürlich Freiwild für die Initiative von Reinhard Fichte", sagt Kurtzke. Der Ausbau von Meissen zur Luxusmarke diene nur einem Zweck: dem Erhalt der Arbeitsplätze.
Kurtzke glaubt fest daran, dass der Erfolg ihm Recht geben wird. Im Gegensatz zu anderen deutschen Porzellanherstellern laufen die Geschäfte bei Meissen besser. „Die ganze Branche ist total verschnarcht“, schimpft er. „Fast alle machen weiter wie bisher, seit zehn Jahren schaufeln die sich ihr eigenes Grab.“ Während die Erlöse der anderen Hersteller wie KPM, Nymphenburg, Fürstenberg und Ludwigsburg seit 2008 um rund 20 Prozent gefallen sind, stiegen sie bei Meissen leicht an: von 35 Millionen im Jahr 2008 auf 39 Millionen im vergangenen Jahr.
2013 soll der Umsatz kräftig wachsen, um satte 20 Prozent. Welchen Anteil der Verkauf des Porzellans dabei noch ausmacht, will Kurtzke nicht sagen, nur so viel: Als 2011 der wichtige japanische Markt wegen der Katastrophe in Fukushima komplett zusammenbrach, konnte das Schmuckgeschäft den Rückgang beim Porzellan ausgleichen.
Kurtzke fürchtet nicht, dass er die Marke Meissen mit Duftkerzen, Gürteln und mondänem Outfit überdehnt. Meissen habe schon immer auch andere Produkte hergestellt, erst in den vergangenen Jahrzehnten sei dies vernachlässigt worden. Deshalb nenne er sein Konzept auch "Zurück in die Zukunft".