
Wahrscheinlich ist Karl Marx mal wieder schuld. Der Kommunismus ist tot, aber eine seiner Thesen wird immer noch geglaubt: Der Mensch wird bei Marx erst durch Arbeit zum Menschen, durch eine, wie er schreibt, „zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bindung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens“.
Dieses unter den frühindustriellen, kapitalistischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts hergeleitete Verständnis von Arbeit bestimmt noch immer das Denken im gesamten Spektrum von der „Linken“ bis zu McKinsey. Doch die Vergötzung der Arbeit als Sinnstifterin für den Einzelnen und die Gesellschaft, dürfte durch die fortschreitende Veränderung der Produktionsbedingungen, nennen wir sie pauschal „Digitalisierung“, grundsätzlich in Frage gestellt werden. Nur haben es die meisten Akteure noch nicht wirklich begriffen.
Ob Ökonom, Personalmanager, Gewerkschafter, Sozialpolitiker: Man interpretiert die Digitalisierung – so sehr man ihre Produktivitätsgewinne begrüßt – als soziales Problem. Schließlich „klaut“ sie den Menschen die Arbeit, macht sie arbeits„los“. Mancher mag schon befürchten, dass den europäischen Mittelklasse-Büroangestellten das gleiche Schicksal droht wie den schlesischen Webern der 1840er Jahre, die durch die Einführung des mechanischen Webstuhls ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden.
Vielleicht wäre es angemessen und befruchtend für die Diskussion um die Auswirkungen der Digitalisierung und den technischen Fortschritt in westlichen Gesellschaften, wenn man sich allmählich vom Marxschen Götzen abwendet. Dann könnte man feststellen: Computer und Roboter erlösen uns von mehr oder weniger monotonen Tätigkeiten – bei gleichbleibender oder gar steigender Produktivität. Die Digitalisierung schenkt also – zunächst einmal – den Menschen und der Gesellschaft Zeit.
Man könnte dann vielleicht beginnen, statt von den Gefahren der Arbeitslosigkeit auch von den wunderbaren Aussichten der Arbeitsfreiheit zu sprechen. Man könnte sich auch daran erinnern, dass in der Antike „otium“, also Muße, das Ideal eines gelingenden Lebens war. Muße bedeutete Männern wie Cicero nicht ausgelebte Faulheit, sondern idealerweise selbstgewählte, charakterbildende, kreative Tätigkeit. Reine Erwerbsarbeit dagegen war für den antiken Menschen grundsätzlich negativ: „negotium“. Etwas, das freie Menschen möglichst den Sklaven aufbürden.





Machen wir uns bewusst: Die Digitalisierung und der weitere technische Fortschritt der Produktion könnten ermöglichen, wovon John Maynard Keynes in seinem berühmten Aufsatz „Die wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkel“ (1930) noch phantasieren musste: „Wir werden mehr Dinge für uns selbst tun können, als es bei den Reichen heute üblich ist, und nur allzu froh sein, dass wir kleine Pflichten, Aufgaben und Routinesachen haben“.
Natürlich, in den Ohren eines betroffenen Angestellten oder Arbeiters, klingt das zynisch, solange nicht sein eigentliches Problem gelöst wird. Der Verlust der Arbeit als solche schmerzt ihn womöglich weniger. Die meisten Menschen wissen vermutlich recht gut, was sie mit mehr freier Zeit anfangen würden. Was Angst macht, ist der Verlust des Lohnes. Und zwar sowohl der materielle als auch der ideelle Lohn, nämlich die soziale Anerkennung und der Sinn, ohne den Menschen in aller Regel kein erfülltes Leben führen können.
Die Frage des ideellen Lohns ist eine gesellschaftliche. Vielleicht kommen wir einmal dahin, dass Muße als ebenso wertvoll betrachtet wird wie beruflicher Erfolg. Zumindest in gewissen avantgardistischen Kreisen ist das schon ansatzweise der Fall.
Die Frage des materiellen Lohns ist – auch – eine ordnungspolitische Aufgabe. Sie wird noch viel zu wenig thematisiert: Wie kann dafür gesorgt werden, dass die Früchte der Digitalisierung – in Form von Geld oder Freizeit – in einer als gerecht empfundenen Weise verteilt werden?
Diese Verteilung allein dem freien Markt zu überlassen, dürfte zu verheerenden sozialen Verzerrungen führen, die die Stabilität der Gesellschaft gefährden. Eine sehr schwierige, konfliktträchtige Aufgabe für die Ordnungspolitik also. Mittelfristig geht es dabei um die Bewahrung der gesellschaftlichen Stabilität. Es wäre eine Aufgabe für Politiker von Ludwig Erhards Format. Der Mangel an klugen, verantwortlichen Ordnungspolitikern, unter dem Deutschland und die gesamte westliche Welt seit einigen Jahrzehnten schon leiden, ist nicht gerade ermutigend in dieser Hinsicht.





Dennoch: Die Digitalisierung ist zunächst einmal ein Segen der Technik. Computer als künstliche Sklaven könnten allen Menschen mehr Freiheit und Selbstbestimmung verschaffen. Ob wir diese Chance als Gesellschaft nutzen, haben wir selbst in der Hand.