Im Bereich der Führungskräfte spielt die Eignungsdiagnostik auch eine immer stärkere Rolle – obwohl es hier nicht unbedingt um große Massen von Kandidaten geht. Thomas Belker, Sprecher des Vorstandes beim Versicherungsunternehmen Talanx und Mitglied im Bundesverband der Personalmanager, ist von der neu eingeführten Praxis in seinem Unternehmen überzeugt: Dort wird KI seit kurzem für die Auswahl von Kandidaten für leitende Positionen eingesetzt. Bisher habe es keine negativen Rückmeldungen gegeben. „Nach einer klassischen Bewerbung führen wir in vielen Fällen ein Telefoninterview zum ersten Kennenlernen. Dann erläutern wir das KI-Verfahren, dass es um ein zehn- bis 15-minütiges Telefonat mit dem Computer geht, der eine Spracheprobe analysieren wird. Der Vorteil dabei ist, dass die Einzelassessments wegfallen. Dem Bewerber bringt das eine Zeitersparnis sowie ein unmittelbares Feedback“, sagt Belker. Wichtig sei, dem Bewerber gegenüber zu betonen, dass die Ergebnisse kein richtig oder falsch enthielten, sondern abgeklärt werden solle, ob der Kandidat in das Team und in das Unternehmen passe.
Vor der Einführung des Verfahrens hätten die Top-Führungskräfte im Unternehmen einen Selbstversuch gemacht. Alle hätten bereits Erfahrung mit eignungsdiagnostischen Bewertungsmethoden gehabt. „Wir waren bei unseren Selbstversuchen überrascht, wie sehr wir uns selbst wiedererkannt haben. Auch Führungskräfte, die schon einige eignungsdiagnostische Verfahren mitgemacht hatten, waren beeindruckt von der Übereinstimmung“, erzählt Belker von der Erfahrung. Die hätte auch sensibilisiert. „Das alles ist einerseits faszinierend, andererseits muss man sich überlegen: Was darf das System, was nicht?“ Bewerber bei Talanx könnten jederzeit und auch unmittelbar nach dem Verfahren das Löschen der Daten veranlassen, wenn sie sich damit nicht wohlfühlten.
Auch auf Seiten der Bewerber stellen sich angesichts der vielen neuen Tools, über die sie – teilweise ohne ihr Wissen – gesucht, ausgewählt, getestet und vermessen werden, neue Fragen. Die grundsätzlichste ist, ob sie das alles mitmachen wollen, beziehungsweise welchen Preis sie zu zahlen bereit sind, wenn sie weitgehend von KI verschont bleiben wollen. In einigen Branchen könnte es unausweichlich werden, sich dem Fortschritt zu beugen, wenn man Anwärter auf Top-Positionen bleiben will.
Wer von KI-Tools profitieren möchte, wird in Zukunft nicht umhin kommen, sich unter anderem bei Plattformen wie LinkedIn oder Xing anzumelden und seine Profile zu pflegen. Es gibt bereits Unternehmen, die Bewerbungen nur noch über LinkedIn zulassen. Daran knüpfen sich neue Problematiken an: Wie groß wird die Macht solcher privatwirtschaftlicher Plattformen, in diesem Fall einer, die Microsoft gehört? Und welche ungewollten Effekte haben dann in Zukunft arglos vorgenommene Profiländerungen, die für Algorithmen ein Indiz für Wechselwilligkeit sein können?
Glaubt man Jan Müller von Korn Ferry, kann KI die Rekrutierung über Plattformen wie LinkedIn sogar wieder sinnvoll machen. „Viele Top-Fachkräfte schauen schon gar nicht mehr in ihre Inbox bei Linkedin, weil sie von Recruitern zugespamt werden. Da wird sehr viel unnötig kontaktiert, weil die angebotenen Stellen überhaupt nicht passen. Nach einer KI-basierten Suche ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Person positiv reagiert.“
Fest steht wohl auch, dass Jobsuchende in Zukunft den immer ausgefeilteren Tools der KI mit Anpassungen und Gegenreaktionen begegnen werden – so, wie in der Vergangenheit bei bestimmten wiederkehrenden Assessment-Verfahren vorab Übungsaufgaben kursierten. Wenn eine künstliche Intelligenz erst einmal in der Lage ist, die Persönlichkeit aus einem Anschreiben herauszudestillieren, wie es die Psychologiedozentin Katharina Lochner vorhersagt, dann wird es auch über kurz oder lang möglich sein, mittels KI das perfekte Anschreiben zu verfassen, dass die Anforderungen genau erfüllt.
Auch Katharina Lochner macht sich da keine Illusionen. „In diesem Fall wird es das Anschreiben dann einfach nicht mehr geben im Bewerbungsprozess.“ Kein Verlust, wie die Wissenschaftlerin betont: Die Forschung, die sich mit dem Berufserfolg beschäftigt, weise ohnehin darauf hin, dass das Anschreiben nicht entscheidend sei. „Zur Digitalisierung gehört auch, sich von liebgewonnenen Dingen zu verabschieden, wenn sie einfach keinen Nutzen bringen.“