Toronto hat viele schöne Ecken. Die Port Lands, das Hafengebiet östlich der Innenstadt, gehören nicht dazu. Riesige Asphaltflächen für Parkplätze, die keiner braucht. Pfeiler von Überlandleitungen, die sich bedenklich zur Seite biegen. Wenige Grünstreifen mit braunen Grasresten. Hier verpasst Waterfront Toronto, eine von öffentlichen Geldern finanzierte Behörde, dem Quartier gerade ein Upgrade. Das Viertel soll so vernetzt werden, dass niemand mehr lange beim Arzt wartet – oder in der Schlange im Supermarkt. Die Luft soll sauberer werden, weil Bewegungsmelder in Gebäuden den Stromverbrauch regulieren und weil sich Carsharingdienste und die Fahrpläne der Straßenbahn nach den Bedürfnissen der Bürger richten. Jede Fahrt wird dazu digital registriert.
„Wir wollen ein Vorbild für die Welt schaffen“, sagt Rohit Aggarwala, Spitzenmanager bei Sidewalk Labs, einem Tochterunternehmen des Google-Mutterkonzerns Alphabet, das sich die Behörde zur Stadtentwicklung an die Seite geholt hat. Weltweit drohe Großstädten der Kollaps: zu viel Verkehr, zu viele Menschen, zu hohe Kosten. „Wir brauchen Lösungen“, betont Aggarwala. Die heutigen Skizzen von Stadtplanern sind oft weit weg von den Vorstellungen derer, die später in den Vierteln leben. Sidewalk Labs probiert es anders: Das Unternehmen vermisst die Gewohnheiten der Bewohner – und passt die Stadtentwicklung daran an. Und je mehr Daten es sammelt, desto besser kann es seine Angebote in dem 48.500 Quadratmeter großen Quartier, ausgerichtet für mindestens 10.000 Menschen, justieren. 800 Millionen Euro haben Stadt, Bundesstaat und Bundesregierung bereits versprochen, um das Hafengebiet zu erneuern. Diese Summe wird bei Weitem nicht reichen. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau sprach bei der Vorstellung der ersten Pläne von einem „Milliardenprojekt“.
In Toronto regt sich allerdings Widerstand – noch ehe das Experiment so richtig begonnen hat. „Google City“ wird das Projekt von vielen genannt: Immer mehr Bürger misstrauen der Alphabet-Tochter, die von der öffentlichen Hand viel Geld und noch mehr Entgegenkommen fordert – um massenweise Daten zu erheben. Sie wollen wissen, wozu all diese Daten wirklich verwendet werden. Viele fürchten: Der Traum von der smarten Stadt wird zum Albtraum für diejenigen, die darin leben.
Downtown Toronto, an einem grauen Frühlingstag, kurz vor 18 Uhr. Hunderte Bürger strömen ins Messezentrum zur ersten Bürgerversammlung rund um das datengetriebene Vorzeigeprojekt. Rohit Aggarwala betont gleich zu Beginn, dass sein Unternehmen den Datenschutz ernst nehme. „Das Projekt kann nur gelingen, wenn die Leute in Quayside gerne wohnen. Und das werden sie nicht, wenn sie sich ständig überwacht fühlen.“ Er macht eine Pause, in der Erwartung auf Applaus. Doch der bleibt aus.
Ohne Daten keine smarte Stadt. Wann und wo sind die Bewohner unterwegs, zu Fuß, mit dem eigenen Auto oder dem Bus? Wer verbraucht wie viel Energie? Wer geht in die Boutique, und wer bestellt online? All diese Informationen können nicht nur das städtische Leben verbessern, sondern sind auch für Verkäufer von Dienstleistungen viel wert, kurz: für die Datenkonzerne.
Deshalb wollen die Anwohner an diesem Abend wissen, welche Daten Sidewalk Labs im Detail sammelt und wo diese gespeichert werden. Das kann Aggarwala allerdings nicht beantworten. Oder er will es nicht. Er sei dazu in ständigem Austausch mit dem Partner Waterfront. „Aber es gibt dazu noch keine Entscheidungen“, betont er. In einem rund 200 Seiten starken Dokument schreibt Sidewalk Labs selbst, die neue Nachbarschaft basiere auf einer „allgegenwärtigen Vernetzung“ und einer „digitalen Infrastruktur“. Sensoren, Apps und GPS-Tracker könnten verwendet werden, um das Leben in der Stadt zu erfassen – und neu zu ordnen.
Damit ist Sidewalk Labs nicht allein. Die Investmentfirma von Microsoft-Gründer Bill Gates, Belmont Partners, hat in Arizona 10.000 Hektar Land gekauft, um dort eine smarte Stadt für bis zu 182.000 Menschen zu errichten. Saudi-Arabien investiert gleich 500 Milliarden US-Dollar, um die datenoptimierte Megacity Neom an der Grenze zu Jordanien aus dem Boden zu stampfen.
Ein zentrales Ziel: weniger Autos, weniger Staus, weniger Verkehrstote. So auch in Toronto. Nicht mehr als ein Fünftel der Bewohner von Quayside soll noch ein Auto besitzen. Zunächst sollen Carsharingdienste sowie Busse und Bahnen den eigenen Wagen überflüssig machen, langfristig selbstfahrende Autos in dem Viertel unterwegs sein. Dann könnten die Straßen schmaler werden – und mehr Raum für Grünflächen, Fahrrad- und Fußgängerwege lassen.
„Autonome Autos sind ohne Zweifel eine der größten Innovationen und werden unser Stadtbild prägen“, verspricht Aggarwala in der Messehalle von Toronto. Damit diese auch im kanadischen Winter die Sensoren in den Bordsteinen erkennen, könnten die Straßenbegrenzungen beheizt und höhenverstellbar sein. Roboterautos für bis zu zwölf Personen könne er sich vorstellen, so der Sidewalk-Labs-Manager. Der Austausch mit Waymo über mögliche Tests laufe bereits. Waymo ist eine andere Alphabet-Tochter, praktischerweise auf selbstfahrende Autos spezialisiert. Zunächst aber sollen Fahrdienste wie Uber oder Lyft den neuen Stadtteil mobil halten. Ob die wiederum ihre Daten mit Sidewalk Labs teilen? Gar teilen müssen? Auch darauf will Aggarwala an diesem Abend nicht antworten.
Unterirdische Roboter ersetzen Postboten
Auskunftsfreudiger sind die 70 Angestellten von Waterfront Toronto: Die zumeist jungen Leute, alle im blauen T-Shirt und mit einem Klebezettel samt ihrem Vornamen auf der Brust, haben abseits der Bühne Infostände aufgebaut. Sie erzählen einem, dass bei der Buchung einer Carsharingfahrt ein Fenster aufploppen könnte, das um die persönlichen Daten bittet. Ein Mitarbeiter ergänzt: „Sidewalk Labs geht davon aus, dass viele ohne Zögern zustimmen, um ihre Fahrt schnell buchen zu können.“
Am Stand daneben ist eine Zeichnung von grauen Roboterautos zu sehen, die unterirdisch den Müll der Bewohner abtransportieren. Postboten sollen ebenfalls aus dem Stadtbild verschwinden, Pakete stattdessen auf Transportschienen von Roboterhänden unterirdisch verteilt werden – oder per Drohne aus der Luft.
Smarte, mit Sensoren ausgestattete Ampeln sollen nur dann auf Rot springen, wenn jemand die Straße überqueren will. Viele Menschen in Toronto wüssten allerdings gerne, wie genau die Fußgänger dazu vermessen werden – und wer aus diesen Daten welche Schlüsse zieht. Wird, wer sich zügigen Schrittes nähert, Werbung für Turnschuhe aufs Handy erhalten? Aggarwala wiegelt ab: „Wir werden auf keinen Fall private Daten für Werbezwecke verkaufen.“ Sidewalk Labs sammle die Daten allein mit dem Ziel, das Leben in der Stadt zu verbessern. Die Konzernmutter Alphabet allerdings verdient ihr Geld vor allem mit Werbung. Die Versuchung, die vielfältigen Informationen aus Quayside anzuzapfen, dürfte zumindest groß sein.
Ollie Sheldnick, groß gewachsen, blondes Haar, ist von den Gedankenspielen beeindruckt. Er ist in Toronto aufgewachsen, hat an der örtlichen Universität Ingenieurwissenschaften studiert und lebt nun in einem der Wolkenkratzer in der Stadtmitte. „Das Hafenviertel war immer ein Schandfleck“, sagt er. Dass sich das nun ändern soll, findet er gut. Aber es blieben wichtige Fragen. „Ich befürchte, dass wir nicht mehr Herr über unsere Daten sind“, sagt Sheldnick. „Ich warte immer noch auf eine klare Aussage, welche Daten die Projektplaner alle erheben werden und ob man sich dem als Einzelner entziehen kann.“
Für solche Details sei es zu früh, betont Aggarwala. Erst Anfang des kommenden Jahres will die Stadt Toronto einen Entwurf vorlegen. An diesem Abend denkt der Sidewalk-Labs-Mann aber schon mal laut darüber nach, auch die Krankenakten der Bewohner auszulesen, um die ärztliche Versorgung zu optimieren. Das sei beunruhigend, sagt Sheldnick. „Der gläserne Bürger kann nicht das Ziel sein, insbesondere wenn wie hier profitorientierte Unternehmen mit dabei sind“, sagt er.
50 Millionen US-Dollar investiert Sidewalk Labs in der ersten Projektphase, um den Stadtteil mitzugestalten. Mit der Frage nach den geschäftlichen Interessen tut sich Rohit Aggarwala merklich schwer. Natürlich sei Sidewalk Labs ein profitorientiertes Unternehmen, der Mutterkonzern Alphabet allerdings geduldig. „Es geht nicht darum, schnellstmöglich den maximalen Gewinn zu erwirtschaften.“ Vielmehr wolle man langfristig Ideen entwickeln und Dienste, die sich in Toronto bewiesen hätten, an andere Städte verkaufen. Doch wem gehören die Daten, die solche Angebote erst ermöglichen? Sidewalk Labs? Oder Waterfront Toronto? Womöglich beiden? Oder gar den Menschen, die dort leben? Sollten sie dann nicht auch etwas von dem Geld erhalten, dass sich mit Apps in anderen smarten Städten verdienen lässt? Fragen, die Aggarwala nicht beantwortet. „Offen gesagt ist unser Geschäftsmodell noch ein bisschen unklar.“
Neil McDonald, 55, verheiratet, Naturliebhaber, findet das Nachbarschaftsprojekt „visionär, mutig und spannend“. Und doch macht auch er sich Sorgen. Er fürchtet, dass im Hafengebiet eine digitale Enklave entsteht, in der für Zuwanderer, Senioren und Menschen mit Behinderung kein Platz ist. Bei der Bürgerversammlung sind die meisten Besucher zwischen 20 und 35 Jahren. Ihren Fragen ist anzumerken, dass die meisten von ihnen studiert haben. „Schon heute treiben die steigenden Mieten in der Stadt viele Menschen ins Umland“, sagt McDonald. „So kostspielig, wie mir das Projekt erscheint – im Bau und im Unterhalt –, frage ich mich, wie sich das der Durchschnittsbürger leisten soll.“
Sidewalk Labs sieht sich als Planer des Stadtteils, nicht als Finanzier – und erwartet von der öffentlichen Hand, nicht nur die Grundstücke, sondern auch den größten Teil des für den Aufbau nötigen Geldes zu stellen. Deshalb ist es den Bewohnern so wichtig, zu erfahren, was mit ihren Daten passiert: Sollen die Port Lands lebenswerter werden – oder das Quartier als Labor für ein neues Geschäft im Alphabet-Reich und die dortigen Bewohner nur als Quell für einen nach Daten gierenden Konzern dienen?
Im Sommer zieht Sidewalk Labs, derzeit noch in Downtown beheimatet, in ein Büro am 307 Lakeshore Drive – mitten ins Projektgebiet. An der Adresse steht noch ein grauer, zweigeschossiger Betonklotz. Ein Café oder Food Trucks werden die digitalen Stadtplaner hier vergebens suchen. Dafür gibt es eine Menge Parkplätze. Schön ist anders. Aber das wird sich vielleicht ändern.