KI im Lebensmittelhandel Die Neuvermessung des Kunden

Mit der Kundenzählung durch Sensoren könnte sich etwa vorhersagen lassen, wie viele Kassen geöffnet sein sollten. Quelle: imago images

Der Einzelhandel entdeckt die Künstliche Intelligenz. Supermärkte und Discounter tracken Passagierströme und analysieren die Kaufgewohnheiten. Dafür nutzen sie die Technik von Sensoren-Start-ups.

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Die Zugangskontrolle soll für Sensalytics zum Türöffner werden: Innerhalb weniger Monate hat das Stuttgarter Start-up im vergangenen Jahr 1950 Filialen von Aldi Süd mit Sensoren ausgerüstet. Sie zählen seither, wie viele Kunden herein- und wie viele herausgehen. Der Discounter will so sicherstellen, Corona-Auflagen zu erfüllen. Ist die zulässige Gesamtkundenzahl erreicht, leuchtet ein Bildschirm am Eingang rot – sonst steht die digitale Ampel auf Grün.

Geht es nach Sensalytics-Gründer Omar Tello, erwachsen aus der technisch simplen Anwendung deutlich komplexere. Mit der Kundenzählung lasse sich etwa vorhersagen, wie viele Kassen geöffnet sein sollten. Sind bestimmte Regale besonders stark frequentiert worden, könne man daraus ableiten, dass diese aufgefüllt werden sollten. Sensoren könnten Alarm schlagen, wenn sich vor einem defekten Pfandautomaten eine lange Schlange bildet. Auch das Interesse an Aktions-Produkten ließe sich so messen.

Interne Abläufe optimieren, den Service verbessern und die Kunden genauer verstehen: Mit Nachdruck umwerben Technologieunternehmen derzeit Händler mit Sensoren und dazugehörigen Analysetools. Das Timing scheint günstig. Denn die pandemiebedingten Ladenschließungen haben den E-Commerce-Boom noch einmal befeuert – und lassen viele Handelskonzerne über die Rolle der Filialen nachdenken. „Der Neustart nach der Coronakrise ist eine riesige Chance für den stationären Handel, sich mit Hilfe von Technologie neu zu erfinden“, sagt Tello.

Digitalisierung rückt auf der Agenda nach oben

Neben Aldi-Süd hat im vergangenen Jahr noch ein weiterer Discounter bei Sensalytics angeklopft. Aber auch die Modemarke Tom Tailor, die Brillenmanufaktur Mykita und die Kosmetikkette Lush gehören zu den Referenzkunden. Insgesamt seien nun knapp 20.000 Sensoren bei 360 Unternehmen im Einsatz, gibt das Start-up an. Durch den Zulauf im vergangenen Jahr habe sich der Umsatz verdreifacht. Auf einen anhaltenden Schub hoffen auch deutsche Konkurrenten wie Crosscan aus Witten und US-Firmen wie RetailNext oder Shoppertrak.

Unterstützt wird Sensalytics schon länger vom Münchener Investor Willendorff Technologies. Im vergangenen Jahr kam AC+X Strategic Investments als Gesellschafter hinzu. Das Unternehmen gehört zur kirchlichen Immobiliengesellschaft Aachener Grund, der zahlreiche Handelsimmobilien in Toplage gehören. Gegenüber den Wettbewerbern sieht Sensalytics sich vor allem bei KI-basierten Prognosen im Vorteil. Für Hard- und Software zahlen Kunden abhängig von der Sensorenzahl eine monatliche Gebühr.

Datenschützer in Alarmbereitschaft

Das Potenzial ist groß. Zwar sind Infrarotsensoren und Kameras an sich ein alter Hut. Doch über simple Frequenz- und Laufwegeanalysen gingen viele Anwendungen bisher nicht hinaus, sagt Ulrich Spaan vom Handelsforschungsinstitut EHI in Köln. „Fortgeschrittene Sensorik, bei der Analysen in der Cloud stattfinden, steht noch am Anfang.“ Das Interesse wachse aber – auch dank Corona. Ob Click & Collect, kontaktlose Bezahlsysteme oder Künstliche Intelligenz (KI): Digitalisierungsvorhaben seien generell weit oben auf die Agenda von Entscheidern im Handel gerückt, sagt Spaan.

Wie weit die Digitalisierungswelle Analyse-Spezialisten wie Sensalytics trägt, ist indes noch nicht abzusehen. Denn so verlockend das Versprechen eines „Google Analytics für die echte Welt“ zunächst klingen mag, so schnell melden Entscheider auch Bedenken an. Eingebrannt hat sich in der Branche bis heute ein Fall aus dem Jahr 2017. Damals experimentierte die Supermarktkette Real mit smarten Werbebildschirmen, die Anzeigen passend nach Alter und Geschlecht ausspielen sollten. Es folgte ein lauter Aufschrei von Datenschützern. Die Folge: „Viele Dinge, die jetzt pilotiert werden, hängen die Unternehmen nicht mehr an die große Glocke“, sagt Spaan. „Selbst Anwendungen, die sich hierbei im rechtlich möglichen Rahmen bewegen, werden oftmals eher gemieden.“

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