Kulturwandel bei Sipgate Das etwas andere Unternehmen

Kollegen stellen neue Kollegen ein, zwei Leute arbeiten an einem PC. Stechuhr statt Überstunden, Boni und Beförderung? Fehlanzeige. Wie der Düsseldorfer Internet-Telefonanbieter Sipgate seine Produktivität vervielfachte.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Bei Sipgate arbeiten immer mindestens zwei Leute zusammen an einem Computer. Das hilft, Fehler zu vermeiden und die Arbeit zu beschleunigen. Quelle: Oliver Tjaden für Sipgate

Düsseldorf Wer zu Sipgate an den hippen Düsseldorf Medienhafen kommt, dem fällt als erstes die Stechuhr ins Auge. Eine Stechuhr in einem halbwüchsigen Start-up? Das scheint auf den ersten Blick ein krasser Widerspruch. An den Glaswänden kleben tausende bunte Post-it-Notizzettel – und das in einem Digitalunternehmen. Auch sonst fühlt man sich wegen der offenen Küche eher wie in einem Restaurant als bei einem Internet-Telefonie-Anbieter. Die Firma hat auch eine Bibliothek mit – wie altmodisch – analogen Büchern.

Sipgate, das sind 120 Mitarbeiter, davon 70 Bartträger, fünf Bürohunde und null Überstunden. Die Firma betont, sie sei ohne Investoren stets profitabel gewachsen. Der Umsatz liegt bei rund 30 Millionen Euro. Das Start-up war der erste Internet-Telefonie-Anbieter in Deutschland. Wettbewerber sind Konzerne wie die Telekom und Vodafone. Der Grundstein der Firma wurde 1998 in einem Studentenwohnheim gelegt – mit zwei Mitarbeitern und dem Tarifvergleich Billiger-telefonieren.de.

2004 startete Sipgate mit 13 Leuten, 2010 waren es 70. „Anfangs kannte jeder jeden, da funktionierte unser Management-by-walking-around. Doch je mehr Leute wir waren, umso langsamer wurden wir in der Software-Entwicklung“, erzählt Tim Mois, neben Thilo Salmon Gründer und Geschäftsführer. Ein wichtiges Projekt, die Telefonanlage in der Cloud, wurde nach drei Jahren gerade noch auf den letzten Drücker fertig. Mois: „Uns wurde klar: Wir müssen unsere Organisation komplett umkrempeln, um wieder schneller zu werden.“

So wie Sipgate geht es vielen Start-ups, die eine gewisse Größe erreicht haben. „Je mehr Menschen ins Unternehmen kommen, desto mehr Prozesse werden eingeführt. Hierarchien verlangsamen die Feedback-Schleifen zusätzlich. So entsteht eine immer starrere Organisation“, beobachtet Marion Eickmann, CEO von Agile42. Die Berliner Organisationsberatung hat unter anderem die Firmen Siemens Motion Control, Interhyp und Dawanda betreut. Weniger Kontrolle, viel Eigenverantwortung und ständige kleine Verbesserungen helfen laut Eickmann, ein Unternehmen wieder flott zu machen. Doch das ist leichter gesagt als getan.

Sipgate ließ sich von Agile42 zunächst zeigen, wie sich Software durch eine veränderte Firmenkultur schneller entwickeln lässt. „Anfangs war das ein Kulturschock für uns. Aber seitdem haben wir unsere Geschwindigkeit verhundertfacht“, sagt Mois. „Heute können wir Sachen in wenigen Tagen an die Kunden ausliefern, für die wir früher ein Jahr gebraucht haben.“

Wie das funktionieren kann? Dafür hat Sipgate über die Jahre eine ganz eigene Mischung aus starren Prinzipien und Freiheiten entwickelt. Inzwischen kommen sogar Unternehmen wie die Basler Versicherung vorbei, um von Sipgates agiler Firmenkultur zu lernen. Ein zentraler Punkt ist das Pairing: Heute sitzen immer zwei Entwickler an einem Computer. Einer programmiert, der andere schaut, ob das so sinnvoll ist.

„Viele Fehler werden behoben, bevor sie zum Kunden kommen. Früher haben wir Software geschrieben, ausgeliefert, dann gab es Probleme beim Kunden und ein Jahr später haben wir überlegt, was wir verbessern können“, erinnert sich Mois, einer der 70 Bartträger. Nicht nur beim Coden arbeiten die Sipgater paarweise oder in Gruppen zusammen, selbst in der Buchhaltung. Die Teams setzen sich konkrete Ziele: Zum Beispiel die Kundenanfragen zu reduzieren, um mehr Zeit für anderes zu haben. Eine Liste wurde erstellt, worüber sich die Leute beschweren. Die Mängel wurden systematisch abgearbeitet. „Nach einem Jahr hatten sich die Beschwerden halbiert“, sagt Mois.


„Boni schaffen nur Unzufriedenheit“

„Früher haben wir gerne mal bis 22 Uhr gearbeitet“, erzählt der 42-Jährige. Heute arbeitet jeder strikt 40 Stunden in der Woche. „Überstunden machen wir nicht. Wir haben bewusst eine Stechuhr, sonst wird das nicht eingehalten. Unsere Leute sollen nicht mehr, sondern besser arbeiten.“ Jeder Mitarbeiter hat 30 Tage Urlaub, die er auch nehmen muss. „Sonst profilieren sich manche, dass sie weniger brauchen“, sagt Mois. Von unbegrenztem Urlaub, wie ihn Firmen wie Netflix, Zynga, Trivago oder Virgin geben, hält der Sipgate-Chef gar nichts. Das führe nur dazu, dass sich Mitarbeiter selbst ausbeuteten.

Auch Homeoffice gibt es bei Sipgate nicht. „Kommunikation ist bei uns ganz wichtig“, betont er. Das fängt schon bei den täglichen „Stand-ups“ der Teams an. Maximal eine Viertelstunde wird der Tag im Stehen geplant. Dabei werden wie bei allen Meetings von Sipgate Unmengen bunter Post-its verklebt. Analog geht vor digital.

Alle Teams organisieren sich selbst und arbeiten eigenverantwortlich. Für jedes Produkt werden cross-funktionale Teams gebildet. Weil mindestens ein Entwickler, Buchhalter, Designer oder Texter dabei ist, geht alles viel schneller. „Auf die Rückmeldung einer Abteilung warten? Solche Zeitverschwendung ist für uns heute undenkbar“, sagt Mois.

Ein ganz wichtiger Tag ist der „Open Friday“. Jeder zweite Freitag ist komplett reserviert für bunte Meetings quer durch die ganze Firma. Um zehn Uhr stellen sich Mitarbeiter, die ein Thema diskutieren wollen, in eine Reihe und werben für ihre Gruppe. „In anderen Firmen schlagen meist die Chefs die Themen vor, alles andere bleibt unter der Decke“, kritisiert Mois. Diskutiert wird über Softwareprobleme, Hilfe für Kunden, aber auch darüber, wofür die Firma spenden sollte oder wie man Fruchtweine macht. „Das ist meist sehr unterhaltsam und setzt viel Energie frei.“

Wichtig: Bei Sipgate muss sich keiner vor den Kollegen und Chefs produzieren. Denn Karrierestufen oder Boni gibt es nicht. „Wir haben ein fixes Gehaltsmodell für alle je nach Rolle, Berufserfahrung und Firmenzugehörigkeit“, sagt Mois. Das klinge zwar nach öffentlichem Dienst, aber Sipgate habe damit gute Erfahrungen gemacht. Mois: „Boni schaffen nur Unzufriedenheit.“

Feedback für ihre Leistung bekommen die Mitarbeiter trotzdem – aber ganz ohne Chefs, Leistungsverpflichtung und Personalakte. „Wir wollen ja, dass die Leute besser werden“, sagt Mois. Jeder sucht sich alle sechs Monate drei Kollegen aus, von denen er sich Feedback wünscht. Dabei darf man selbst nichts sagen, nur zuhören. „Das bringt die Leute voran, weil sie auch viel Lob bekommen.“

Auch Neueinstellungen laufen ganz ohne Chefs ab. Stattdessen stellen die Teamkollegen die Neuen ein. „Peer Recruiting“ nennt sich das. „Ich sehe gar keine Bewerbung mehr, es sei denn für meinen direkten Bereich“, sagt Geschäftsführer Mois. Das Team entscheidet auch, wer entlassen wird. „50 Prozent der Leute müssen in der Probezeit wieder gehen“, sagt Mois. Schon das Veto eines Kollegen kann den Job kosten. Für Mois ist das nur konsequent: Die Kosten für falsche Einstellungen seien massiv. Und im Vorstellungsgespräch merke man nicht, ob die Leute gut seien und ins Team passten. Die meisten Mitarbeiter haben schon Leute entlassen. „Das ist kein Vergnügen. Keiner macht das leichtfertig.“ Ein kleiner Trost für jeden, der gehen muss: Er bekommt sein Porträt, das beim Firmeneintritt ein Immendorff-Schüler zeichnet und das neben allen 120 Kollegen im Flur hängt, zum Abschied geschenkt.


„Je freier die Menschen, umso engagierter arbeiten sie.“

Was sagen die Mitarbeiter selbst zu dieser unkonventionellen Firmenkultur? Beim anonymen Arbeitgeberbewertungsportal Kununu hat Sipgate vier von fünf Sternen. „Sipgate bietet ein Arbeitsumfeld, das man so schnell nicht verlassen möchte: offene und ergebnisorientierte Kommunikation, extrem flache Hierarchien, klassische Karriere: nein, Weiterentwicklung: ja.“ Die Mitarbeiter goutieren vor allem das eigenverantwortliche Arbeiten: „Mega-viel Freiraum.“ Es gibt aber auch einige wenige, die mit den ihrer Ansicht nach „chaotischen Verhältnissen“ nicht zurechtkommen.

Wenn es schon keine Boni und Beförderungsposten gibt, so zeigt die Firma ihren Mitarbeitern doch durch gewisse Extras ihre Wertschätzung. Ein hauseigenes Bio-Restaurant bekocht die Sipgater – kostenlos. „Wir sind zwar nicht Google, aber das rentiert sich trotzdem“, betont Mois. Vier Köche sind fest angestellt, oft kommen Sterneköche wie Volker Drkosch, um neue Impulse zu geben. Im Restaurant ist Platz für 160 Leute. Kollegen können auch Gäste mitbringen.

Dieses Jahr hatte Sipgate 8200 Besucher. Mois: „Früher waren wir eine introvertierte Firma, das Restaurant hat uns zur Event-Location gemacht.“ Seit 2014 kommen jeden Monat prominente Gäste ins Haus. Kürzlich erst sprach Iron-Maiden-Sänger Bruce Dickinson, im Nebenjob Jumbopilot und Unternehmer, wie man Kunden zu Fans macht.
„Wir verbringen so viel Zeit im Leben bei der Arbeit“, resümiert Mois. Die sollten die Mitarbeiter genießen. Bildungsurlaub etwa können die Sipgater in eigener Verantwortung und ohne Budgetbegrenzung selbst auswählen. Der Sipgate-Chef hat damit nur gute Erfahrung gemacht: „Wenn man Mitarbeitern Freiheiten gibt, missbrauchen sie diese nicht. Und je wohler und freier sich Menschen fühlen, umso engagierter arbeiten sie.“

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%