Langzeitarbeitslose Mit 40 der erste feste Job – und raus aus Hartz IV

Alexander Biblinger arbeitet seit Anfang vergangenen Jahres bei dem Unternehmen Kunibert Michel. Quelle: Privat

Alexander Bibinger ist einer von 50.000 Langzeitarbeitslosen, die bis vor kurzem Hartz IV bezogen und nun Arbeit haben – mit unbefristetem Vertrag und Sozialversicherung. Ein Gesetz macht es seit einem Jahr möglich, dass Unternehmen Menschen wie ihn ohne viel Risiko einstellen: Lohn und Gehalt samt Nebenkosten zahlt zunächst der Staat.

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Adrette Erscheinung, höfliches Auftreten, geschliffene Ausdrucksweise, abgeschlossene Ausbildung als Metallbauer: Auf den ersten Blick und auch auf den zweiten ist es kaum zu verstehen, dass Alexander Bibinger für die Jobvermittler der Agentur für Arbeit im niedersächsischen Neustadt am Rübenberge so etwas wie ein hoffnungsloser Fall war. „Sozialphobie“ nennt Bibinger das Handicap, das ihn lange daran gehindert hat einen festen Arbeitgeber zu finden und sich in die Welt eines gewöhnlichen Unternehmens zu integrieren. Seine Scheu und seine Angst in Gruppen von Menschen und Menschenansammlungen ist für andere nicht nachvollziehbar und irritierend. Ein Großraumbüro oder eine große Fertigungshalle wären für ihn das Fegefeuer, die Kantine die Hölle. So einer wird schnell als nicht teamfähig abgestempelt.

Zwei Jahrzehnte ging das so. Höchstens mal ein Ein-Euro-Job, Lebensstandard Hartz IV, keine Perspektive. Aber das ist vorbei. Für immer, wenn alles gut läuft. Seit fast einem Jahr schon hat Alexander Bibinger nun einen festen Job – in einem nicht ganz gewöhnlichen Unternehmen.

Nicole Willig-Pachaly und ihr Mann Georg Willig haben vor fünf Jahren eine kleine Firma übernommen, die in einer winzigen Marktnische ganz groß ist: Das Unternehmen Kunibert Michel im Neustädter Stadtteil Hagen stellt Hobelmaschinen für Teile von Oboen und Fagott-Instrumenten her. Zu ihren Kunden gehören die weltbesten Orchester- und Jazzmusiker, die mit den Maschinen individuell zugeschnittene Rohre für ihre Instrumente anfertigen. Das beste Schilfrohr dafür kommt aus dem südfranzösischen Avignon und aus Kalifornien. Fassonschneider, Außen- und Innenhobelmaschinen, sowie Messuhren für Oboe und Fagott liefert das kleine Familienunternehmen nach Russland, China, Japan und „in alle Welt“, verkürzt Willig-Pachaly die Aufzählung. Mit dem Gruß „Best wishes, The MICHEL-TEAM“ verschickt der kleine Handwerks-Betrieb Mails an seine anspruchsvollen Kunden.

Vor zwei Jahren wurde klar, dass das erfolgreiche Klein-Unternehmen Verstärkung braucht. Georg Willig arbeitet seit 40 Jahren in der 1969 gegründeten Firma und ist jetzt 74, seine Frau, die heutige Firmenchefin hat 2010 dort angefangen und den Betrieb 2014 von Gründer „Kuni“ übernommen. Sohn Timo Willig, inzwischen Feinmechaniker-Meister, kam 2017 dazu. Aber Kuni ist 2015 verstorben und fehlt nicht nur als Mensch, sondern auch als Arbeitskraft. Gegen eine Neueinstellung allerdings stand die Sorge, dieses winzige Juwel des deutschen Mittelstandes mit den Fixkosten einer familienfremden Arbeitskraft zu stark zu belasten. Nach der Übernahme und mit dem Umzug vom alten Standort Hannover in ihren Wohnort Neustadt hatten die Willigs ja schon in den Bau einer neuen 240 Quadratmeter-Werkshalle und neue Maschinen investiert und zahlen noch Kredite ab. Vor fünf Jahren ist die Firma in das schmucke Gebäude in Hellgrau und Rot eingezogen.

Anfang vergangenen Jahres fand Georg Willig die Lösung des Problems beim Frühstück. In der „Leine-Zeitung“ las er, die Agentur für Arbeit übernehme ab 1. Januar 2019 für Langzeitarbeitslose die Lohnkosten, wenn Unternehmen schwer vermittelbare Arbeitssuchende einstellen. Willig rief bei der Agentur für Arbeit an und beschrieb die Situation. Die Agentur-Mitarbeiter schickten bald darauf Alexander Bibinger zum Probe-Arbeiten. 14 Tage später bekam Bibinger seinen Arbeitsvertrag. „Es passte von Anfang an“, sagt Georg Willig und findet gute Worte für den neuen Mitarbeiter und Kollegen: „Herr Bibinger ist immer pünktlich morgens um sieben Uhr da und findet sich gut ein in die Tätigkeiten unseres hoch spezialisierten Maschinenbaus mit Fräsen, Drehen, Feinmechanik.“

Finanziell ist die Situation komfortabel für die Firma. Zwei Jahre, von denen das erste im März vorbei ist, trägt die Agentur für Arbeit die kompletten Lohn- und Personalkosten für Bibinger, im dritten Jahr dann 90, im vierten Jahr 80 und im fünften Jahr 70 Prozent der Kosten.

Und dann, 2024? Sagt das Unternehmen Tschüß und fängt mit einem neuen Kandidaten von vorne an? Auf keinen Fall, widerspricht Willig vehement: Das Arbeitsverhältnis mit Alexander Bibinger solle langfristig bestehen. Man brauche fünf Jahre, um alles zu begreifen und zu können, was für die Anfertigung der Kunibert-Michel-Geräte wichtig sei: „Dann wird Herr Bibinger ein noch viel wertvollerer Mitarbeiter für uns sein als jetzt. Und finanziell werden wir dann auch in der Lage sein, Lohn und Kosten selber zu tragen.“

42.000 Arbeitslose haben bis Ende 2019 subventionierte Jobs über das Teilhabechancengesetz gefunden. 34.000 von ihnen bezogen zuvor, wie Bibinger, mehr als sechs Jahre Hartz IV. Für sie gilt der maximale Förderrahmen. Wer mindestens zwei Jahre arbeitslos war und nun eingestellt wird, für den zahlt die Arbeitsagentur im ersten Jahr 75 Prozent und im zweiten Jahr 50 Prozent der Lohnkosten. Mindestens 25 Jahre alt müssen die Jobsuchenden sein, schreibt das geänderte Sozialgesetzbuch II vor.

Dass die Grundlage für die Jobsituation ein Gesetz ist und kein Förderprogramm, ist dabei wichtig. Denn Förderprogramme laufen aus, wenn ihre Befristung endet oder der Geldtopf leer ist. Gesetze gelten bis der Bundestag als Gesetzgeber sie ändert. So ist das Teilhabechancengesetz ein zuverlässiges Instrument und ein starkes Argument in den Debatten um die in der Gesellschaft umstrittene Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte oder die Integration von geflüchteten Migranten. Es ist die Antwort auf die berechtigte Forderung, auch den Arbeitslosen im Land eine Chance zu geben. Die Neu-Arbeitskräfte werden ein Jahr lang mit festen wöchentlichen Terminen von Coaches begleitet – auf eigenen Wunsch auch länger.

2019 wurden so jeden Monat im Schnitt 3500 Langzeitarbeitslose aus der Sackgasse geholt. Zählt man Januar und Februar 2020 hinzu, dürften es inzwischen 50.000 sein. Dreimal so viele sollen es werden, hat die Bundesregierung sich bei der Verabschiedung des Gesetzes als Ziel gesetzt:150.000.

Der Fachkräftemangel trägt dazu bei, dass die Wirtschaft benachteiligte Gruppen wie Langzeitarbeitslose und Menschen mit Behinderung zunehmend als Arbeitskräftepotential sieht und diese Potentiale heben will. „Bei früheren Initiativen zur Vermittlung Langzeitarbeitsloser war das Interesse der Unternehmen nicht annähernd so groß“, sagt Detlev Scheele, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage der WirtschaftsWoche. Dreiviertel der subventionierten neuen Stellen für Langzeitarbeitslose sind bei privaten Unternehmen entstanden, nur ein Viertel bei öffentlichen Unternehmen und bei Töchtern gemeinnütziger Unternehmen. Die Deutsche Bahn etwa nutzt die neue Rekrutierungs-Möglichkeit intensiv. Vier Milliarden Euro stehen im Etat des Bundesarbeitsministerium bereit für Jobs über das Teilhabechancengesetz.

„Positiver als erwartet“ sei die Zwischenbilanz, meint Agentur-Chef Scheele. Aber wie nachhaltig sind die Vermittlungen? „Spannend“ findet Scheele es, wie die Firmen nach dem Auslaufen der Fördergelder mit den Mitarbeitern umgehen werden: „Aber wir gehen von keiner Abbruchkante aus.“ In einem Jahr werden die ersten Förderphasen auslaufen, dann weiß man mehr. „Der Klebeeffekt ist nicht das Kriterium für den Erfolg der Vermittlungen“, baut Scheele vor. Es gehe darum Menschen in Lohn und Brot zu bringen, die bisher „zwar rechtlich arbeitsfähig sind, faktisch aber nicht“. Ihnen Arbeitsplätze zu vermitteln, habe langfristig positive Auswirkungen auf ihre Familien und die Zukunft ihrer Kinder.

Eine Frage der Würde. Aber auch sozialpolitisch und ökonomisch ist es sinnvoll, was da passiert. Steht der Staat vor der Alternative, jemandem den Lebensunterhalt zu bezahlen oder die Arbeit, dann steckt in der zweiten Möglichkeit mehr Perspektive als in der ersten.

Alexander Bibinger, ledig mit fester Freundin, sagt: „Ich finde es super, bei Kunibert-Michel Mitarbeiter zu sein.“ Georg Willig sagt: „Wir sind von der Agentur für Arbeit gut beraten worden.“

Und die Sozialphobie? Die Michel-Werkhalle liegt direkt am Bahnhof von Neustadt-Hagen. Bequem könnte Bibinger mit dem Zug kommen. Er nimmt aber Moped oder Fahrrad. Mit so vielen Leuten in den Abteilen zusammen zu sein, das würde er nicht aushalten. In der überschaubaren Michel-Werkstatt aber kommt der zurückhaltende Mann klar. Für Georg Willig ist Alexander Bibinger ein ganz normaler Mitarbeiter, denn „Macken haben wir ja alle“.

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