Mittelstand Blockchain macht Papierkram überflüssig

Europaletten Quelle: imago images

Bislang war die Blockchain vor allem bekannt durch die Kryptowährung Bitcoin. Jetzt entdeckt auch der Mittelstand die Technologie, etwa in der Logistik oder Energiewirtschaft.

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Je nachdem, aus welchem Blickwinkel man auf die Arbeit von Boris Vöge schaut, ist er entweder ein attraktiver Geschäftspartner – oder ein unsäglicher Quälgeist. Denn Vöge verkauft gebrauchte Lizenzen für Computerprogramme, die in Firmen keine Verwendung mehr finden, zu deutlich niedrigeren Preisen. Das verärgert Hersteller wie Microsoft oder Adobe, die deshalb alles versuchen, um den Handel zu unterbinden.

Vor Gericht haben sie zwar hohe Hürden für den Weiterverkauf der Lizenzen durchgesetzt. So muss etwa der erste Käufer das Produkt in seinem Unternehmen unbrauchbar machen. Zudem muss der Händler einwandfrei nachweisen können, wem wann welche Lizenz gehört hat. Ganz unterbinden können sie das Geschäft aber nicht: „Unsere Lizenzübertragung ist jederzeit nachprüfbar, die Transfers der Softwareprodukte lassen sich garantiert nicht fälschen“, sagt Vöge, Geschäftsführer der Hamburger Li-x GmbH.

Möglich macht das die Blockchain. Über jeden einzelnen Schritt des Verkaufs von gebrauchter Software wacht sie als unbestechliche Überwachungsinstanz. Die Blockchain speichert dabei die einzelnen Transaktionen entlang der Lieferkette in einer gemeinsamen Datenbank ab – und das verschlüsselt. So ist das Geschäft nicht nur transparent für alle Beteiligten, sondern auch juristisch kaum angreifbar.

In der allgemeinen Öffentlichkeit ist die Blockchain bis heute eng mit Kryptowährungen wie Bitcoin verbunden. Dabei lässt sich die Technologie in sehr viel mehr Branchen einsetzen – und zwar auch in kleineren und mittelständischen Unternehmen. Knapp 60 Prozent aller Firmen aus der verarbeitenden Industrie planen laut des „Top IT-Trends 2018“-Reports des Dienstleisters Dimension Data noch in diesem Jahr Investitionen in Blockchain-Projekte. Gerade in diesem Bereich spielt die Technologie als dezentrale Datenbank für vernetzte Prozesse ihre ganze Stärke aus: Je stärker Fabriken übers Internet gesteuert werden, desto mehr werden sie auch zum Ziel von Cyberkriminellen. In der verteilten Blockchain sind wertvolle Daten deutlich besser geschützt als auf einem zentralen Server.

Man kann sich die Blockchain wie eine Art digitales Buch vorstellen, das alle Belege über den Austausch zwischen Verbraucher und Lieferanten, Käufer und Verkäufer für alle einsehbar abspeichert – und diese Einzelakten sind auch nur in ihrer Gemeinsamkeit gültig. Wenn bei Vöges Geschäft mit gebrauchter Software eine Lizenz den Inhaber wechselt, wird dies automatisch in der Blockchain dokumentiert. Und weil jeder weitere Schritt erst dadurch ausgelöst wird, dass alle Beteiligten einer Transaktion zustimmen, sind Fälschungen nahezu ausgeschlossen.

So nutzen Unternehmen die Blockchain

„Überall dort, wo Transaktionen zwischen mehreren Firmen stattfinden, bei denen Vertrauen eine große Rolle spielt, ist es interessant, auf die Blockchain zu setzen“, sagt Axel Oppermann, Analyst beim Beratungshaus Avispador aus Kassel. Das gilt selbst für auf den ersten Blick profane Prozesse wie den Austausch von Paletten.

In Europa sind nach Schätzungen der Unternehmensberatung PwC insgesamt mehr als 500 Millionen Standardpaletten im Wert von 2,5 Milliarden Euro im Umlauf. Viele, die mit ihnen im Alltag zu tun haben, sind vor allem von einer Sache genervt: dem Palettenschein. Im Idealfall erhält jeder Lkw-Fahrer, wenn er beladene Paletten angeliefert hat, die gleiche Zahl leerer Paletten zurück. Wenn nicht genügend leere Paletten vor Ort sind, dann notiert er mit Stift und Zettel, wie viele Paletten seinem Kunden noch zustehen – und auch, in welchem Zustand diese sein sollten. Mit diesem Schein kann der Lieferant oder der Händler, für den der Lkw-Fahrer den Transport übernommen hat, die Paletten zu einem späteren Zeitpunkt dort oder bei einem beauftragten Dienstleister abholen.

Blockchain als zugrunde liegende Datenbank

„Oftmals wissen die Logistikunternehmen aber gar nicht, welche Akteure in der Lieferkette am Tauschprozess beteiligt sind. Außerdem gibt es keine Instanz, die den Prozess überwacht“, sagt Regina Haas-Hamannt von GS1 Germany in Köln – einer Organisation, die Handelsprozesse standardisieren soll und hinter der unter anderem der deutsche Marken- und Handelsverband steckt. „Das macht den Prozess extrem unübersichtlich.“ Haas-Harmannt leitet ein Blockchain-Projekt, das nach ihren Worten nicht weniger sein soll als „ein Quantensprung für alle Beteiligten“.

Rund 20 Unternehmen machen mit, darunter die Drogeriemarktkette dm, der Nahrungsmittelhersteller Dr. Oetker, der Konsumartikelproduzent Henkel und der Kosmetikkonzern Beiersdorf. Sie alle wollen Ordnung in das Palettenchaos bringen: durch einen Handscanner, mit dem der Fahrer den Tausch nur noch digital dokumentiert, und der Blockchain als zugrunde liegende Datenbank, die den Prozess vertrauenswürdig abbildet. Noch ist das Projekt in der Planungsphase. Mitte August soll ein Prototyp fertiggestellt sein, für den Herbst ist ein Testlauf geplant.

Die Erwartungen der Akteure sind groß: „In der Logistik werden noch viele Schritte auf Papier festgehalten“, sagt Christian Grotowsky, IT-Leiter beim Kiosk-Großhändler Lekkerland, der ebenfalls an dem Pilotprojekt beteiligt ist. Er ist überzeugt, dass die Blockchain auch jenseits des Austauschs von Paletten sein Geschäft enorm erleichtern wird. Etwa dort, wo Rollcontainer erfasst oder Tabakprodukte zurückverfolgt werden. Ähnlich argumentiert Francesco Goertz, Innovationsmanager des Kosmetikunternehmens Beiersdorf: „Wir arbeiten mit vielen beteiligten Händlern. Es wäre wünschenswert, wenn wir in Zukunft gemeinsam mit allen beteiligten Handelspartnern ein Geschäftsnetzwerk auf Basis der Blockchain betreiben könnten.“

Doch die Blockchain kann nicht nur bestehende ineffiziente Prozesse digital beschleunigen. Sie ist auch Grundlage für völlig neue Abläufe, so wie beispielsweise in einem Gemeinschaftsprojekt des Energienetzbetreibers Tennet und des Batterieherstellers Sonnen. Strom, der an vielen kleinen, zumeist auch von Privatleuten betriebenen Solaranlagen gewonnen wird, muss vor Ort ins Netz eingespeist werden – und das belastet die auf zentrale Kraftwerke ausgerichteten Stromnetze immer stärker. Um Störungen auf den Stromautobahnen zu verhindern, greifen Netzbetreiber wie Tennet in die Energieerzeugung ein. 2016 lagen die Kosten dafür deutschlandweit bei 800 Millionen Euro. Ein großer Teil entfällt auf Notfallmaßnahmen: Bei Sturm beispielsweise produzieren Windkrafträder derart viel Energie, dass die Stromnetze überlastet werden. Die Anlagen werden daher bei sehr starkem Wind abgeschaltet.

In dem Pilotprojekt erhält der Netzbetreiber nun nach Bedarf Energie aus den miteinander vernetzten Heimspeichern, um Engpässe im Netz zu managen. Die Energie kommt aus Batterien, die beispielsweise im Keller von Einfamilienhäusern stehen. Diese an das Tennet-Netz angeschlossenen Speicher können je nach Bedarf überschüssigen Strom sekundenschnell aufnehmen oder abgeben.

Die Blockchain wacht dabei im Hintergrund über die ordnungsgemäße Abwicklung der Prozesse: Welcher der an dem Projekt beteiligten Haushalte hat wie viel Strom wann an das Netz abgegeben? Welcher Verbraucher hat wann wie viel bekommen? Und nicht nur das: Durch Fotovoltaik und Batterieeinsatz sind die an dem Projekt beteiligten Hausbesitzer bereits zu 70 Prozent autark in ihrer Stromversorgung, „die restlichen 30 Prozent schenken wir ihnen, wenn sie sich an unserem Batteriepool beteiligen“, sagt Jean-Baptiste Cornefert.

Der Chef von Sonnen eServices, der für das Blockchain-Projekt verantwortlichen Digitaltochter des Batterieherstellers aus Bayern, sieht darin mehr als nur eine clevere Geschäftserweiterung: „Das ist gelebte Share Economy.“

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