




WirtschaftsWoche Online: Alle reden von der Industrie 4.0. Wäre die vollständige Vernetzung von Angebot und Nachfrage das Ende von Unternehmen und damit das Ende von unternehmerischer Verantwortung und Innovation?
Hermann Simon: Nein, das halte ich für falschen Alarm. Zwar haben Sie Recht, dass die Vernetzung in vielen Fällen Unternehmensgrenzen verschwinden lässt und zu stärkerer Integration führen kann. Zum Beispiel könnten Zwischenhändler wegfallen, weil der Datenfluss vom Kunden direkt an den Hersteller fließt. Der anschwellende Datenstrom entlang der Wertschöpfungskette kann aber in genauso vielen Fällen zu stärkerer Arbeitsteilung führen, wodurch neue Unternehmen entstehen.
Zur Person
Hermann Simon, 70, ist Unternehmensberater, Wissenschaftler, Autor und Kolumnist. Anfang der 1990er-Jahre definierte er mit einer bahnbrechenden Studie den viel zitierten Begriff des „Hidden Champion“ und verhalf damit den deutschen Mittelständlern zu ihrem Ruf als versteckte Weltmarktführer.
Wie das?
Vielleicht stellt ein Konzern dank der nun zur Verfügung stehenden Produktions- und Nachfragedaten fest, dass bestimmte Aufgaben billiger oder besser von einem externen Dienstleister erledigt werden können. An diesen vergibt er dann Aufträge, statt es selber zu machen.
Kommt dadurch eine neue Welle des Outsourcing, also der Ausgliederung von Aufgaben an Zulieferer, verbunden mit der Entlassung von Mitarbeitern?
Ich glaube nicht, dass die Entwicklung nur in eine Richtung geht, eher in beide. Vielleicht kann uns die digitale Transparenz sogar bei der Suche nach der optimalen Größe von Unternehmen helfen. Auf jeden Fall ermöglicht sie ganz neue Formen, Produkte und Preise zu gestalten. Lkw-Reifen des Herstellers Michelin halten 25 Prozent länger als die der Konkurrenz. Auf herkömmlichen Märkten kann Michelin jedoch keine 25-prozentigen Preiszuschläge verlangen. Dank digitaler Datenerfassung profitiert Michelin trotzdem von seiner besseren Qualität: Das Unternehmen rechnet beim Kunden jetzt für die Kilometerleistung jedes Reifen ab, die direkt am Fahrzeug gemessen wird. Dadurch steigt der Umsatz, wenn der Reifen länger hält. Früher war es genau anders herum. Michelin ist vom Reifenlieferanten zum Mobilitätsversorger geworden.
Davon hat ja sogar der Kunde etwas.
Ein ähnliches Beispiel ist der Windradhersteller Enercon. Er verdient nur dann, wenn seine Anlagen tatsächlich Strom erzeugen, was an der Laufleistung jedes einzelnen Windrads gemessen wird. So nimmt der Hersteller dem Kunden einen Teil des Risikos ab. Bleibt es windstill, verdient Enercon weniger. Das Beispiel zeigt, dass Digitalisierung allein noch kein Fortschritt ist. Zusätzlich braucht es eine ausgefeilte Sensorik, also Messtechnik. Ich bin auf einem Bauernhof in der Eifel aufgewachsen, dort wurde der Wasserverbrauch jedes Hofes pauschal pro Kopf der auf dem Hof lebenden Menschen und Kühe gemessen. Wer Wasser sparte, hatte also nichts davon, während Verschwendung nicht durch höhere Kosten bestraft wurde. Das änderte sich erst mit der flächendeckenden Installation von Wasserzählern in den 1950er Jahren.
Macht die Digitalisierung aus Angestellten Einzelunternehmer?
Gut möglich, denn Kosten und Leistung jedes einzelnen Mitarbeiters lassen sich dank neuer Datentechnik genauestens messen. Trotzdem werden wir noch in Teams oder Abteilungen arbeiten, und nicht nur als Einzelkämpfer. Seltene Spezialisten werden auf diese Weise vielleicht merken, dass sie viel mehr verdienen können, wenn sie sich selbständig machen.