Vorbild Biontech Das sind Deutschlands innovativste Mittelständler

Digitale Reise durch den Körper: Dank Brainlab-Software können Ärzte besser und zielgenauer operieren. Quelle: Presse

Ein exklusives Ranking zeigt die innovativsten Mittelständler Deutschlands. Die Sieger überzeugen mit hoch spezialisierten Hightechprodukten, die sie ständig weiter verfeinern. Mit ihren medizinischen Simulationen, Waagen und Kühlboxen sind sie weltweit erfolgreich.

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Deutschland kann Innovation: Kein Unternehmen beweist das derzeit so eindrucksvoll wie Biontech aus Mainz. Mit dem US-Konzern Pfizer hat es schneller als die globale Konkurrenz einen Coronaimpfstoff entwickelt. In der Rangliste der innovativsten Mittelständler, die die Beratung Munich Strategy jährlich für die WirtschaftsWoche erstellt, belegt Biontech dennoch nur Platz drei. Denn im für die Bewertung relevanten Jahr 2020 schrieb die Firma noch Verluste. Besser schnitt Brainlab ab, dessen Simulationen die Technik bei Operationen verfeinern. Der Waagenhersteller Bizerba wird zum Softwareunternehmen, an dem selbst Amazon nicht vorbeikommt. Und va-Q-tec aus Würzburg hat das beste Verfahren entwickelt, um Impfstoffe zu transportieren – auch im Auftrag von Biontech.

Rang 1: Brainlab – im digitalen OP-Saal

Mit der Software von Brainlab können Ärzte die beste Einstichstelle finden und schwierige Operationen optimal vorbereiten.

Als junger Unternehmer hob Stefan Vilsmeier hier zu seinen ersten Geschäftsreisen ab, heute entwickelt sein Unternehmen Brainlab am ehemaligen Flughafen München-Riem die Medizintechnik von morgen. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel schaute 2017 zur Einweihung der neuen Räumlichkeiten des Spezialisten für bildgestütztes Operieren vorbei.

In einem Keller unter dem Flughafengelände verschafft ein gläserner Handscan ausgewählten Mitarbeitern Zutritt zu einem geheimen Raum. Tiefe Decken und Neonlichter verleihen ihm eine Atmosphäre zwischen Bunker und Raumschiff. Hier haben Brainlabs Informatiker eine Chirurgie-Software für Mixed-Reality-Brillen entwickelt.

Mixed-Reality vereint die natürliche Umgebung mit künstlichen Elementen. Mit der Brainlab-Innovation lassen sich nun auch komplizierte Operationen planen. Wenn eine Ärztin durch die Brille schaut, sieht sie etwa den Kopf des Patienten dreidimensional in der Luft schweben und kann die verschiedenen Hirnschichten im Inneren von allen Seiten anschauen – ein Durchbruch in der Medizintechnik. Einem Ärzteteam aus den USA ist es mit dieser Technologie gelungen, ein siamesisches Zwillingspaar erfolgreich zu trennen.

Inspiriert von Science-Fiction-Filmen

Früher schauten Chirurgen sich ihre Patientenbilder noch in einem analogen Lichtkasten an, diese Zeiten kennt der heute 53-jährige Vilsmeier noch. Als er vor gut 30 Jahren im Teenageralter ein Fachbuch über 3-D-Technik schrieb, kontaktierte ihn ein Arzt und fragte, ob man die Darstellung nicht medizinisch nutzen könne. Warum nicht, dachte sich Vilsmeier, und gründete mit den Erlösen seines Buches die Firma Brainlab.

Methodik

Von Science-Fiction-Filmen inspiriert, nahm sich Vilsmeier später vor, einen 3-D-Bildschirm für den OP-Saal zu entwickeln – in den frühen 2000ern war das visionär. Seitdem ist viel passiert. Brainlab beschäftigt heute mehr als 1800 Mitarbeiter, erwirtschaftet mehr als 400 Millionen Euro Umsatz, den Großteil außerhalb Deutschlands. Die Technologie kommt in 117 Ländern zum Einsatz.

Brainlabs wichtigstes Produkt ist eine Software, die OP-Ärzte durch den menschlichen Körper navigiert. Bei Hirntumoren schlägt das Programm etwa vor, wie das Gewebe möglichst sicher entfernt werden kann. Wenn ein Chirurgin sich nicht sicher ist, wo sie bei einer OP die Schrauben an der Wirbelsäule am besten platzieren sollte, kann sie den Eingriff vorher digital und dreidimensional simulieren. Die Technik nutzen mittlerweile alle Universitätskliniken in Deutschland, die Einsatzbereiche sind vielfältig. Die viel beachtete Mixed-Reality-Brille soll in Zukunft auch während Operationen getragen werden können.

Für seine Entwicklungen setzt Brainlab auf anonyme Patientendaten. Bei minimalinvasiven Eingriffen kann die Software deshalb zum Beispiel mit einem Datensatz aus früheren Operationen die statistisch günstigste Einstichstelle bestimmen. Deutschland verspiele jedoch eine Menge Möglichkeiten, weil Datenschutz am falschen Ende betrieben werde, findet Vilsmeier. Viele sähen in der Arbeit mit Daten zu Unrecht nur Bedrohliches. „In Deutschland haben wir eine Kultur, in der wir uns mehr auf Risiken als auf Chancen konzentrieren.“

Der Gründer hat noch viel vor. Im vergangenen Jahr hat er den Videospielhersteller Level Ex gekauft, der nun Übungsspiele für Ärzte entwickelt. In den Apps können diese etwa das Intubieren trainieren. Mit der neugegründeten Tochter Snke OS will Brainlab zudem eine Plattform für die Medizintechnik etablieren. Noch steht das Projekt am Anfang, doch bald sollen auch andere Anbieter die Brainlab-Technologie nutzen können.

Global ausgerichtet, doch in der Region fest verankert

Rang 2: Bizerba – ein echtes Schwergewicht

Das Brotregal gibt Bescheid, wenn Nachschub gebacken werden muss. Der Waagenhersteller Bizerba wandelt sich zum Softwareanbieter.

Auf der Suche nach Partnern im Mittelstand ist Amazon in Balingen, Baden-Württemberg, fündig geworden. Genauer gesagt: bei Andreas Kraut. Der 46-Jährige führt das 1866 gegründete Familienunternehmen Bizerba. Das stattet die stationären Frischemärkte, die der Onlinegigant in den USA und Großbritannien betreibt, mit Wäge- und Schneidetechnologie aus. Amazon will den Supermarkt der Zukunft entwerfen. Und Bizerba aus Balingen kommt dabei eine wichtige Rolle zu.

Wenn Produkte in Amazons Frischemärkten künftig grammgenau gewogen und zugeschnitten werden, geschieht das mithilfe der Sensoren und Algorithmen des süddeutschen Mittelständlers. Und nicht nur das: Im Repertoire der Schwaben finden sich auch Schneidemaschinen, die ihren Benutzer auf stumpfe Klingen hinweisen. Digitale Waagen, die auf ihren Touchpads Lehrvideos abspielen. Und Brotregale, die den Marktleiter benachrichtigen, wenn Nachschub in den Ofen geschoben werden sollte.

von Rüdiger Kiani-Kreß, Andreas Macho, Martin Seiwert, Christian Ramthun, Christian Schlesiger, Volker ter Haseborg

Mehr Umsatz in den USA als in Deutschland

In Deutschland sind die Waagen von Bizerba vor allem aus Metzgereien und von den Frischetheken der Supermärkte bekannt. Der Name des Unternehmens ist zusammengesetzt aus dem Nachnamen des Gründers Andreas Bizer und der Stadt Balingen. Längst ist aus dem Waagenbauer ein Technologieunternehmen geworden, das fast an der gesamten Wertschöpfungskette bei Lebensmitteln partizipieren kann: Das Kalb im Stall frisst abgewogenes Futter, im Schlachthof wird gewogen, ebenso an der Frischetheke, womöglich auch noch in der Küche des Kunden oder des Restaurants. Bizerba sammelt dabei Daten – etwa zur nötigen Futtermenge oder dem optimalen Gewicht. Für Amazon dürfte der Datenschatz ein überzeugendes Argument sein.

Der Jahresumsatz erreichte zuletzt 729 Millionen Euro, ein Plus von vier Prozent gegenüber Vorjahr. Von den mehr als 4000 Mitarbeitern des Unternehmens arbeitet rund die Hälfte in Deutschland. Bizerba ist zwar fest in der Region verankert. So hat die Inhaberfamilie Kraut, die Nachfahren der Bizers, dem Ort etwa ein Waagenmuseum gestiftet. Doch das Unternehmen ist über seinen Heimatort hinausgewachsen. Jenseits der Schwäbischen Alb unterhält Bizerba drei weitere Produktionsstandorte in Deutschland sowie sechs Niederlassungen in Europa, China und den USA.

2020 habe der Umsatz auf dem nordamerikanischen Markt erstmals über dem deutschen gelegen, sagt Geschäftsführer Kraut, der selbst fünf Jahre die US-Niederlassung geleitet hat. Die globale Ausrichtung sei wichtig, um Trends frühzeitig dort aufzuspüren, wo sie entstehen, sagt Stefan-Maria Creutz, der bei Bizerba für die digitale Transformation zuständig ist. Die schreite voran. Bizerba zähle inzwischen mehr Software- als Hardwareingenieure.

Schlüsseltechnologien für die weltweite Impfstofflogistik

Rang 11: va-Q-tec – Prinzip Thermoskanne

Das Unternehmen va-Q-tec entwickelt besonders leistungsfähige Kühlboxen. In denen lässt sich auch Impfstoff transportieren.

Natürlich hängt der Erfolg von va-Q-tec an den Isolierboxen, die Impfdosen quer durch Deutschland und Europa transportiert haben. Hierzulande waren bisher rund 60 Prozent der Ampullen in Kühlbehältern des Würzburger Unternehmens unterwegs. Das hat gerade das erfolgreichste Quartal seiner Geschichte hinter sich. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Umsatz um 50 Prozent gestiegen. Im Gesamtjahr soll er von 72 Millionen auf bis zu 100 Millionen Euro klettern.

Als die Pandemie vor gut 15 Monaten ausbrach, waren die Würzburger umgehend zur Stelle. Erst beim Transport der PCR-Test-Kits, dann beim Impfstoff. Für die Ampullen von Biontech/Pfizer müssen die Kühlboxen auf bis zu minus 70 Grad gekühlt werden. Daher hängen im Würzburger Werk auch dick gefütterte Winterjacken an einer Garderobe auf der Verladefläche – für die Mitarbeiter, die die Container bestücken. Bis zu 30.000 Impfdosen passen in einen der isolierten Kühlcontainer.



Doch auch mit den anderen Impfstoffherstellern Moderna, AstraZeneca und Johnson & Johnson ist va-Q-tec im Geschäft. Der Wettbewerbsvorteil: Die Boxen können die Temperatur lange stabil halten – und das unabhängig von externer Kühlung.

„Wir wissen, wofür wir jeden Morgen aufstehen und an die Arbeit gehen“, sagt Gründer und Unternehmenschef Joachim Kuhn. Das Thema Dämmung ist seit Jahren die große Leidenschaft des promovierten Physikers.

va-Q-tec ist eine Ausgründung des Zentrums für angewandte Energieforschung an der Uni Würzburg. Das Besondere an den Vakuumisolationspaneelen (VIPs) des Unternehmens ist die platzsparende, extrem hohe Wärmedämmung. Die rechteckigen Dämmplatten – hergestellt aus gepresstem Mikrosand aus Siliciumoxid – sind in silberne Folie eingeschweißt und ähneln vakuumierten Kaffeepäckchen.

Nicht kaufen, sondern leihen

Das Prinzip dahinter ist das gleiche wie bei einer Thermoskanne. Weil Luft Kälte und Wärme leitet, wird sie abgesaugt. Die Paneele von va-Q-tec sind deutlich dünner und effektiver als Styropor-, Faser- und Schaumstoffdämmungen.

Der Dämmstoffhersteller hat sich über die Jahre zum Logistiker für eiskalte Ware entwickelt und beim Vertrieb dazugelernt. Er konnte die Boxen kaum verkaufen, da sie so teuer wie ein Kleinwagen sind. Eine kurzfristige Leihe ist attraktiver. Inzwischen hat va-q-tec also ein Leihsystem, das den Kundenwünschen – viele kommen aus der Pharmabranche – besser entspricht. Logistikzentren von va-q-tec gibt es an über 40 Standorten weltweit. Bei Bedarf können die Kunden auf va-q-tecs Thermoboxen zugreifen und sie rund um den Globus wieder zurückgeben.

Die Technologie kommt jedoch nicht nur in der Pharmabranche zu Einsatz. Sie findet sich auch in sparsamen A+++-Kühlschranken und bei der Kühlung der Batterien in Elektroautos.

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Die erhöhte Aufmerksamkeit sei ihm noch nicht zu Kopf gestiegen, versichert Gründer Kuhn: „Endlich hat unsere Schlüsseltechnologie die verdiente Aufmerksamkeit bekommen.“ va-Q-Tec habe Technologien entwickelt, durch die sich der thermische Energieverbrauch deutlich senken lässt. Die Erfordernisse des Klimawandels und der Energiewende spielten ihm da in die Karten, findet Kuhn: „Wir haben Dinge angestoßen, die heute quasi Industriestandard sind.“

Mehr zum Thema: Was Mittelständler und Weltmarktführer bewegt, lesen Sie hier.

Deutschlands innovativste Mittelständler: Rang 1 bis 100 im Überblick



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