WirtschaftsWoche: Herr Abelshauser, viele Länder beneiden die Deutschen um ihren Mittelstand und die vielen Weltmarktführer. Wie hat diese Erfolgsgeschichte begonnen?
Werner Abelshauser: Die Wurzeln liegen im 12. Jahrhundert, in der Hochzeit des deutschen Zunftwesens und des Fernhandels. Vor rund tausend Jahren übernahmen die erfolgreichen Handwerker und Händler die wirtschaftliche Macht in Deutschland, indem sie die Herrschaft des Adels und der Bischöfe in den Städten brachen, um stattdessen korporative Demokratie zu praktizieren.
Wie muss man sich die vorstellen?
Die Macht fiel an Korporationen wie die Zünfte, also bürgerliche Gruppierungen zwischen Staat und Individuum. Innerhalb und zwischen den Zünften herrschte eine freiheitliche, demokratische Grundhaltung, die sich zwar von der heutigen in vielem unterscheidet, aber über enge Zusammenarbeit der Mitglieder zu wirtschaftlichem Erfolg führte. Das war europaweit ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Handwerker und Händler. In England zum Beispiel stand das Gewerbe immer unter staatlicher Aufsicht und war nie so unabhängig wie die deutschen Zünfte.
Ab dem 14. Jahrhundert etablierte sich die Hanse, 187 Städte aus 16 Ländern von Island bis Russland schlossen sich im Laufe von über 300 Jahren zusammen. Wie haben die deutschen Kaufleute davon profitiert?
Über ein gut organisiertes Netzwerk konnte die Hanse erfolgreich zwischen Flandern und Russland, Skandinavien und Westfalen Außenhandel betreiben und ihre Innovationen in die Welt tragen. Von Flandern liefen später auch die Handels- und Entwicklungsachsen durch Ostfrankreich nach Genua und durch Deutschland nach Venedig. Dort war die europäische Stadtwirtschaft mit dem Weltmarkt verbunden.
Zur Person
Werner Abelshauser ist Forschungsprofessor für Wirtschaftsgeschichte der Universität Bielefeld, Mitglied des Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung und Mitbegründer des Bielefeld Institute for Global Society Studies. Davor hatte er den Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Europäischen Universität Florenz inne. Er ist Mitherausgeber mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften. Das Bundeswirtschaftsministerium hat den Wirtschaftsforscher 2011 in seine unabhängige Historikerkommission berufen.
Im Laufe der Jahrhunderte entstanden mit Paris und London machtvolle Hauptstädte, in Deutschland aber nicht. Was das ein Vor- oder ein Nachteil?
Aus heutiger Sicht war das ein wirtschaftlicher Vorteil, denn während Länder wie England oder Frankreich zentralistisch gesteuert wurden, entstand in Deutschland vom Mittelalter bis heute eine sehr vielfältige und produktive wirtschaftliche Landschaft.
Was meinen Sie damit?
Auch nach dem Niedergang der Stadtwirtschaft im dreißigjährigen Krieg konkurrierten in ganz Deutschland kleine und mittlere Territorien um Macht und wirtschaftlichen Erfolg. Der Kameralismus der Territorialherren setzte – anders als der Merkantilismus in England – vor allem auf innere Entwicklungspolitik. Genau wie die Landesregierungen und ihre regionale Wirtschaftsförderung heute betrieben sie zielgerichtete Entwicklungspolitik zu Gunsten der mittelständischen gewerblichen Wirtschaft. So entstanden auch außerhalb der Hauptstädte im ganzen Land Zentren wirtschaftlicher Macht.
Haben die Kaufleute und Handwerker dort damals eher konkurriert oder kooperiert?
Es gab schon immer Vorläufer der heutigen regionalen Verbundwirtschaft. Dort arbeiten die Unternehmen für Aufträge in der Regel eng zusammen. Damit vergrößern sie ihre Angebotspalette und ihren Kundenkreis, machen Nachbarn zu Zulieferern. Und umgekehrt können sie fest damit rechnen, von ihnen bei neuen Aufträgen bedacht zu werden. Das galt für das oberdeutsche Metallgewerbe um Nürnberg und seinem regionalen Verbund mit Böhmen und Tirol ebenso wie heute in der ostwestfälischen Verbundwirtschaft, die sich auf nachindustrielle Maßschneiderei wie zum Beispiel im Maschinenbau konzentrieren kann. Banken haben dabei nur eine Dienstleistungsfunktion.
Mittelständische Wirtschaftskultur
Warum? Geld brauchten die Kaufleute doch trotzdem, um Aufträge vorzufinanzieren oder Maschinen zu kaufen.
Früher mussten kleine und mittlere Unternehmen die Finanzierung aus dem Strom der Einkünfte aufbringen. Heute gehört es gerade zum Geschäftsmodell vieler Familienunternahmen, aus dem cash flow zu schöpfen, um nicht in die Abhängigkeit von Banken zu geraten.
Ist diese mittelständische Wirtschaftskultur nur in Deutschland zu Hause?
Nein, sie gilt überall im „Rheinischen Kapitalismus“ – also im europäischen Kerngebiet von Skandinavien bis Norditalien und von der Seine bis an die Oder. Dort sind solche Denk- und Handlungsweisen weit verbreitet, weil sie sich im historischen Verlauf erfolgreich erwiesen.
Sind die Zentren wirtschaftlichen Erfolgs heute noch die gleichen wie damals?
Noch heute verteilen sich die Zentren des weltmarktorientierten Mittelstandes in der Bundesrepublik auf elf regionale Verbundwirtschaften. Manche haben den gleichen Zuschnitts seit dem 18. Jahrhundert, wie Nord-Württemberg. Andere schienen zwischenzeitlich von der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert überrollt und abgehängt zu sein und sind doch zwischen wieder neu aufgeblüht. Ein gutes Beispiel dafür ist Ostwestfalen-Lippe mit der Hansestadt Herford, deren Leinenhändler Blüte und Niedergang erlebten, das als Region aber auf anderen Märkten wieder aufgestiegen ist und heute in der Spitzengruppe deutscher Kammerbezirke liegt.
Die innovativsten deutschen Mittelständler
Lamilux
Hauptsitz: Rehau (BY)
Produkt: Lichttechnologie
Umsatz: 187 Mio Euro
Innovationsscore: 169
Windmöller Holding
Hauptsitz: Augustdorf (NRW)
Produkt: Bodenbeläge
Umsatz: 120 Mio Euro
Innovationsscore: 170
Maja-Maschinenfabrik
Hauptsitz: Kehl (BW)
Produkt: Lebensmittelverarbeitung
Umsatz: 23 Mio Euro
Innovationsscore: 171
Mekra Lang
Hauptsitz: Ergersheim (BY)
Produkt: Spiegel für Nutzfahrzeuge
Umsatz: 260 Mio Euro
Innovationsscore: 172
Brandt Zwieback
Hauptsitz: Hagen (NRW)
Produkt: Zwieback
Umsatz: 189 Mio Euro
Innovationsscore: 175
Edelmann
Hauptsitz: Heidenheim (BW)
Produkt: Verpackungslösungen
Umsatz: 235 Mio Euro
Innovationsscore: 177
Insiders Technologies
Hauptsitz: Kaiserslautern (RP)
Produkt: Software
Umsatz: 18 Mio Euro
Innovationsscore: 178
Arburg
Hauptsitz: Loßburg (BW)
Produkt: Spritzgießmaschinen
Umsatz: 548 Mio Euro
Innovationsscore: 181
Fischerwerke
Hauptsitz: Waldachtal (BW)
Produkt: Befestigungssysteme
Umsatz: 625 Mio Euro
Innovationsscore: 185
Aquatherm
Hauptsitz: Attendorn (NRW)
Produkt: Rohrleitungssysteme
Umsatz: 91 Mio Euro
Innovationsscore: 182
C. Josef Lamy
Hauptsitz: Heidelberg (BW)
Produkt: Schreibgeräte
Umsatz: 71 Mio Euro
Innovationsscore: 186
Leica Camera
Hauptsitz: Wetzlar (HE)
Produkt: Kameras
Umsatz: 276 Mio Euro
Innovationsscore: 189
Gebr. Kemper
Hauptsitz: Olpe (NRW)
Produkt: Gebäudetechnik
Umsatz: 270 Mio Euro
Innovationsscore: 190
Bahlsen
Hauptsitz: Hannover (NI)
Produkt: Süßgebäck
Umsatz: 515 Mio. Euro
Innovationsscore: 194
Rimowa
Hauptsitz: Köln (NRW)
Produkt: Koffer
Umsatz: 273 Mio. Euro
Innovationsscore: 197
Wer zu Deutschlands innovativsten Mittelständlern gehören will, muss ein mehrstufiges Auswahlverfahren durchlaufen. Die Münchner Unternehmensberatung Munich Strategy Group (MSG) wertete im Auftrag der WirtschaftsWoche zunächst die Daten von 3500 deutschen Unternehmen aus, die zwischen zehn Millionen und einer Milliarde Euro Umsatz erwirtschaften: Sie analysierten Jahresabschlüsse und Präsentationen, sprachen mit Kunden, Branchenexperten, Geschäftsführern, Inhabern und Beiräten. Danach nahm MSG 400 Unternehmen in die engere Wahl. Für jedes einzelne errechneten die Berater einen eigenen Innovationsscore. „Dabei achten wir darauf, dass sich das Unternehmen durch ständige Neuerungen auszeichnet, von Wettbewerbern als innovativ angesehen wird und eine ideenfördernde Kultur etabliert hat“, erklärt MSG-Gründer und Studienleiter Sebastian Theopold die Kriterien. Zudem flossen auch wirtschaftliche Indikatoren wie Umsatzwachstum und Ertragskraft in die Bewertung ein. Theopolds Fazit: „Wer innovativ ist, wächst auch schneller und erzielt nachhaltigere Erträge.“ Die MSG-Berater analysierten bereits um dritten Mal für die WirtschaftsWoche die Innovationskraft deutscher Mittelständler (Heft 15/2014 und Heft 42/2015). Während beim ersten Ranking noch Maschinenbauer dominierten, sind nun mehr Konsumgüterhersteller unter den Siegern. Die meisten innovativen Unternehmen kommen aus Baden-Württemberg. Den ersten Platz belegt der Kölner Kofferhersteller Rimowa. Rang zwei nimmt der Keksbäcker Bahlsen ein. „Die beiden Vertreter der ,Old Economy’ sind Vorreiter bei der Digitalisierung“, sagt Studienleiter Theopold.
Im 19. Jahrhundert wurden auch die ersten Sparkassen ‚Zur Vorbeugung der Armut‘ gegründet. Später die Genossenschaftsbanken. Was war deren Konzept?
Aus sozialpolitischen Anfängen entwickelte sich rasch gezielte Wirtschaftsförderung. In England vergaben meist Großbanken in den Städten Kredite, die deutschen Länder organisierten die Finanzmärkte wieder einmal anders. Die Kassen wurden zum Beispiel in Preußen und Bayern Mittel einer klassischen Entwicklungsstrategie, um vor allem das Gewerbe auf dem Land zu fördern. Sie machten die Kaufleute und Handwerker unabhängiger von großstädtischen Agglomerationen. Die Erfolg der regional fest verankerten Sparkassen ist dafür typisch.
Die 20 ältesten Weltmarktführer Deutschlands
Gegründet 1452
Branche: Maschinenbau/ Walzwerke
Umsatz 2011: 59,92 Millionen Euro
Gegründet 1482
Branche: Metallverarbeitung
Umsatz 2011: 96,99 Millionen Euro
Gegründet 1490
Branche: Logistik
Umsatz 2010: 55 512,00 Millionen Euro
Gegründet 1530
Branche: Druckknöpfe
Umsatz 2011: 380,05 Millionen Euro
Gegründet 1532
Branche: Autozulieferer
Umsatz 2011: 110,00 Millionen Euro
Gegründet 1537
Branche: Gewindestahl
Umsatz 2011: 224,00 Millionen Euro
Gegründet 1569
Branche: Kabel
Umsatz 2010: 3 810,00 Millionen Euro
Gegründet 1579
Branche: Seil- und Hebetechnik
Umsatz 2011: 217,50 Millionen Euro
Gegründet 1584
Branche: Künstlerpapier
Umsatz 2011: 25,43 Millionen Euro
Gegründet 1612
Branche: Blankmünzen
Umsatz 2011: 84,40 Millionen Euro
Gegründet 1622
Branche: Glasflakons
Umsatz 2011: 292,87 Millionen Euro
Gegründet 1668
Branche: Pharma und Flüssigkristalle
Umsatz 2010: 10 740,80 Millionen Euro
Gegründet 1675
Branche: Wein-Direktvertrieb
Umsatz 2011: 482,90 Millionen Euro
Gegründet 1681
Branche: Luxus-Innenausbau
Umsatz 2009: 82,65 Millionen Euro
Gegründet 1683
Branche: Outdoor-Schuhe
Umsatz 2009: 62,00 Millionen Euro
Gegründet 1685
Branche: Stahl/ Grobbleche
Umsatz 2011: 2 498,00 Millionen Euro
Gegründet 1688
Branche: Backwaren
Umsatz 2011: 552,40 Millionen Euro
Gegründet 1701
Branche: Stahl
Umsatz 2011: 338,60 Millionen Euro
Gegründet 1705
Branche: Transportfahrzeuge
Umsatz 2011: 141,60 Millionen Euro
Gegründet 1707
Branche: Fertigungstechnik
Umsatz 2011: 36,00 Millionen Euro
Stimmt, noch heute schlagen die Sparkassen die Großbanken beim Marktanteil um Längen. Wie wichtig war denn die Religion für die Entwicklung des Mittelstands?
Heute treten religiöse Bindungen immer weiter zurück. Es ist aber schon auffällig, wie sehr über Jahrhunderte die Religionszugehörigkeit ein wichtiger Standortfaktor war. So waren handfeste Protestanten oft wirtschaftlich erfolgreicher als Katholiken. Dahinter steckt die calvinistische Grundhaltung vom hohen Wert der Arbeit und die Vorgabe, Geld zu investieren statt auszugeben.
Was von all dem war der entscheidende Erfolgsfaktor?
Erst alle Faktoren zusammen haben den Mittelstand so widerstandsfähig und erfolgreich gemacht. Für Deutschlands wirtschaftlichen Erfolg sind diese kleinen und mittleren Betriebe, die 75 Prozent der deutschen Unternehmen ausmachen, am Ende sehr viel wichtiger als die Dax-Konzerne.