Molekularköche Virtuelles Sushi

Sie schießen mit Lasern auf Sternanis, backen mit flüssigem Stickstoff oder lassen Dampf aus den Nasenlöchern der Gäste quellen. Die Molekularköche stellen am Herd die Physik auf den Kopf. Bei den besten der Welt schmeckt das außergewöhnlich gut.

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Die Zukunft wird im Keller gemacht. Homaro Cantu steht im Untergeschoss seines Restaurants Moto in einem umgebauten Lagerraum im Meatpacking-District von Chicago. Er richtet das Laser-Gerät auf dem Tresen aus, klemmt eine Rosette Sternanis in eine Laborzange und zielt. Das Neonlicht geht aus, eine rote Warnlampe dreht sich wie auf der Brücke eines in Not geratenen Raumschiffs. Der Laser verbrennt mit mehr als 1000 Grad Celsius das Stückchen Sternanis, den aufsteigenden Rauch fängt Cantu mit einem auf den Kopf gedrehten Weinglas auf. Das füllt er anschließend mit Rotwein, der das Aroma des Rauchs annimmt. Frittieren mit Wasser, backen mit Kälte – die experimentierfreudigsten Köche der Welt wollen in der Physik des Kochens keinen Stein auf dem anderen lassen. Damit berühmt geworden ist der mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Ferran Adrià, der in der Nähe der nordspanischen Stadt Girona im El Bulli die Küche zum Labor machte. Jedes Jahr schließt er sein Restaurant für sechs Monate, weil er Zeit für Entwicklungen braucht.

Die Molekularküche ist der weltweit auffälligste Trend in der Spitzengastronomie. In Amerika, Asien und Europa tüfteln Köche oft in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Instituten wie dem Technologie-Transfer-Zentrum in Bremerhaven an Rezepten, die ein scheinbar gültiges Küchengesetz widerlegen. Adrià hat es bis aufs Cover der Zeitschrift „Time“ geschafft, wurde zum wichtigsten Koch der vergangenen zehn Jahre gewählt und ist der erste Vertreter seines Berufsstands, der wie ein Künstler zur wichtigsten Kunstausstellung der Welt für moderne Kunst, der Documenta in Kassel, eingeladen wurde. Sein Kollege Heston Blumenthal vom Fat Duck in Bray bei London legt Wert darauf, dass es nicht um die Hexerei geht. Dass Blumenthal ein hervorragender Koch ist, bestätigt Deutschlands bester Koch, Harald Wohlfahrt, der von der Gänseleber im Fat Duck schwärmte: „Die war ganz klassisch.“ Nach den frühen Erfindungen wie Tagliatelle aus Gelee, die Adrià entwickelt hat, forscht nun bereits eine zweite Generation von Köchen an neuen Tricks und Variationen. Während Adrià bereits ein Hotel betreibt, in dem Klassiker seiner 30-gängigen Menüs fast museal mit Jahresangabe nachgekocht werden, stellen sich seine Brüder im Geiste täglich die Frage: Was wurde noch nie gemacht? Ihren Namen verdankt die Molekulargastronomie dem französischen Physiker und Chemiker Hervé This und dem Physiker Nicolás Kurti. Seit 1988 versuchten die beiden, kulinarische Reaktionen zu erklären. Bald kamen spezielle Geräte hinzu, etwa der Pacojet, der mit Messern aus Titan selbst gefrorene Massen zu Püree verarbeiten kann und neue Konsistenzen ermöglicht. Oder der Roner zum Garen bei konstanter Temperatur im Wasserbad, der Rotovapor, mit dem Festes destilliert werden kann. Zu neuem Ruhm ist auch der altbekannte Siphon gekommen, der mittlerweile zum Standard in Gourmetküchen gehört, um Schäume mit Geschmäckern von Camembert bis Orange herzustellen.

Die führende Nation der neuen Küche ist Spanien, wo sich viele junge Köche das Wissen aneigneten und frei von Vorbehalten ausprobieren. Paco Rancero vom Restaurant La Terraza del Casino in Madrid mixt zum Beispiel aus Olivenöl, Gelatine und Bindemitteln einen Teig für Spaghetti. In Madrid trafen sich vergangenes Jahr Spitzenköche wie Adrìa, der einen Olivenölfaden mit einer langsam drehenden Bohrmaschine aufwickelte, und der Amerikaner Wylie Dufresnes aus dem wd-50 aus New York. Er zeigte ein verwirrendes Spiegelei: Das Weiß war Kokosmilch mit Kardamom, das Gelb ein Mischung aus Karottensaft und Glukose.

Der exzentrischste aller Experimentierer am Herd ist derzeit Cantu. Er arbeitet in Amerikas Hauptstadt der Molekularköche, in Chicago. Dort praktizieren drei der besten neuen Köche. Cantu geht und redet so schnell, wie sich der Ruf seines Schaffens herumgesprochen hat. Wer ihn in seiner Küche besuchen will, muss eine vierseitige Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, seinen Vortrag nimmt Cantu auf Tonband auf. Zur Sicherheit. Der erste Blick in die Küche wirkt ernüchternd: Hier ist nichts geheimnisvoll, höchstens das violette Salz, in dem einer der Köche Hähnchen wendet. „Es geht nicht nur um neues Essen. Ich will den Welthunger bekämpfen“, sagt Cantu. Wie gelingt es, Nähr- und Geschmacksstoffe in einen transportablen und haltbaren Aggregatzustand zu bringen? Die Antworten darauf interessieren nicht nur Gäste, auch die Nasa steht mit ihm in Kontakt. Cantu träumt von Werbeseiten in Zeitschriften, die der Leser gleich essen kann. So wie die mit einem Tintenstrahler bedruckte Speisekarte, auch die ist genießbar. In diesen Stunden kann der Gast einige Überraschungen erleben. Das Besteck hat Cantu entwickelt und patentierten lassen, ein Teil der Speise ist im Griff versteckt. Bei starken Minustemperaturen werden am Tisch Cremes gebacken, die durch den Kälteschock fest werden. Ein Gericht hat er so kräftig mit Tinte von der Sepia eingefärbt, dass der Teller komplett schwarz war. „Es schmeckte nach klassischen Calamari. Aber die Zähne der Gäste waren hinterher schwarz“, erinnert sich Cantu an die Idee, die er heute selber für misslungen hält. Graham Elliott Bowles lehnt sich bei einem Gespräch über die Speisen seines Kollegen Cantu zurück. Zusammen mit Cantu und Grant Achatz vom Alinea bildet er ein Trio, das für Chicagos neuen Ruf als kulinarisch interessante Stadt verantwortlich ist. Heute kocht Bowles in der Küche des gediegenen Restaurants Avenues im Fünf-Sterne-Hotel Peninsula. „Kochen ist wie jede andere künstlerische Bewegung – einige Dinge werden Bestand haben, andere werden vergehen“, sagt Bowles, der schon Eiskrem aus Seeigeln serviert hat und heiße Brühe über platzende Marshmallows mit Lavendelaroma gießt. Statt die Suche nach einer neuen Zubereitungsart voranzutreiben, denkt sich Bowles lieber neue Kombinationen aus. Die privaten Gourmets in den USA wissen das zu schätzen und singen im Internet Lobeshymnen auf Bowles. Die Reaktionen dieser Fans auf Seiten wie egullet.com oder mouthfulsfood.com sind ihm wichtig. „Dort wird sofort von den Eindrücken berichtet und ich erfahre etwas darüber, was den Kunden gefallen hat, oder nicht“, sagt Bowles. Das sei ihm wichtiger als die professionelle Kritik. Die deutschen Köche, die sich gekonnt mit den Techniken der Molekularküche auseinandersetzen, brauchen sich um den Segen der Kritiker nicht zu sorgen. Juan Amador hat mit seinem Restaurant Amador in Langen bei Frankfurt zwei Michelin-Sterne errungen und wird im Gault Millau mit 18 von 20 Punkten bewertet. Sein Fleisch gart Amador bei Niedrigtemperatur, einen Lolli mit Fischaroma nennt er „Virtuelles Sushi“. Im Restaurant Silk des Cocoon Club in Frankfurt lässt der von Kritikern gefeierte Mario Lohninger seine Mischung aus asiatischer und mediterraner Küche auf den auf Betten liegenden Gästen servieren. Lohninger demonstriert die Möglichkeiten der analysierenden Molekularküche an einem ganz simplen Produkt: Eine Stunde zieht es, bei exakt 63 Grad Celsius, dann ist es cremig, weich und einfach lecker: das Ei.

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