Peter Mertes Deutschlands größte Weinfabrik

Das Unternehmen kennen wenige, doch seine Produkte stehen in fast jedem Supermarkt: Peter Mertes ist Deutschlands größte Weinfabrik.

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Ein dramatischer Wandel Quelle: dpa-dpaweb

Freudestrahlend, aber auch ein wenig verunsichert, legt Kalle die Tüte mit den tiefgefrorenen Seelachsfilets zur Seite. „Guten Abend, Herr Willkomm“, sagt der hagere Mittvierziger mit dem Wuschelbart. „Alles klar bei euch? Wenig los heute“, erwidert Michael Willkomm und zeigt in den leeren Aufenthaltsraum vor der offenen Küche. „Die anderen schlafen oder sind einkaufen“, sagt Kalle. Nur Manfred ist da und schlurft mit drei rohen Eiern in die Küche: Schließlich müsse man die Filets ja panieren, sagt Kalle.

Manfred und Kalle sind obdachlos; Tippelbrüder wie sie hier an der Mosel genannt werden. Sie überwintern im Haus der Hilfe, das Michael Willkomm in Bernkastel-Kues gebaut hat und das 24 Menschen ohne festen Wohnsitz eine zeitweilige Bleibe bietet. „Dürfen wir Sie denn zum Essen einladen?“, fragt Kalle. Willkomm lehnt dankend ab. Er sei noch verabredet, und so viel Fisch habe Kalle ja nun auch nicht. „Für Sie haben wir immer ein Stück übrig.“

Ein Saulus, der zum Paulus wird? Der Hersteller von Penner-Treibstoff, der sie anschließend von der Straße holt? „Nach unserer Erfahrung sind Alkoholkranke fast nie über den Weinkonsum dahin gelangt“, sagt Willkomm, „eher über Schnaps und Bier.“ Trotzdem fühle er sich verantwortlich und wolle diesen Menschen helfen: mal wieder ein Bad, frische Kleider, ein richtiges Bett für einige Nächte. Einmal pro Woche komme er hierher. Wenn es der Terminkalender denn zulasse.

Doch der ist in der Regel proppenvoll. Der 58-Jährige ist Chef und Mitinhaber der Weinkellerei Peter Mertes. Mertes ist der heimliche Riese der deutschen Weinwirtschaft, eine der zehn größten Kellereien der Welt – traditionell verschwiegen wie fast alle großen Familienunternehmen. Erst recht, wenn es sich wie bei Mertes um ein Unternehmen handelt, das für Handelsketten wie Aldi, Lidl, Rewe, Metro oder Schlecker produziert. Mehr als 70 Prozent aller Weine werden heute im Lebensmittelhandel verkauft; Deutschlands größter Weinhändler heißt denn auch – Aldi.

Ob mit Plastikkorken oder Schraubverschluss, im Tetrapak oder Plastikschlauch: in den vergangenen 20 Jahren hat sich das Weingeschäft dramatisch gewandelt. Weingut, Jahrgang, Lage, Großlage und Rebsorte dominierten damals die barock-verschnörkelten Etiketten, mit denen nur Weinkenner etwas anfangen konnten.

Heute steht auf dem Etikett häufig nur noch eine Handelsmarke und der Name der Rebsorte: Leoff Riesling bei der Metro, Schönaich Dornfelder bei Rewe oder einfach nur Müller-Thurgau bei Aldi Süd haben Oppenheimer Krötenbrunnen und Niersteiner Gutes Domtal verdrängt. Ketten wie Aldi brauchen einen Partner wie Mertes, um ihren enormen Bedarf an Produkten ohne bekannte Markennamen zu decken: Mertes bietet Massenabfüllung vom Band, schnell und preiswert. 150 Millionen Flaschen, vom Tafel- bis zum Eiswein sowie weitere 50 Millionen Liter in eckigen Tetrapaks oder den bei Partys und Grillfesten beliebten Bag-in-Box-Kanistern zum Selberzapfen, füllt das Unternehmen jedes Jahr ab.

Mertes deckt die ganze Palette ab: Von der Grundversorgung für Vieltrinker und Tippelbrüder, über vinologischen Mainstream bis zum professionellen Marketing. Für manche ist Willkomm deshalb der Dieter Bohlen des Weins – erfolgreich mit Massengeschmack. Und weil die Kellerei im vergangenen Jahr ein zweistelliges Umsatzplus hinlegte und rund um den Globus immer mehr Wein statt Schnaps und Bier getrunken wird, soll der Takt sogar noch erhöht werden. Ende Juni weiht Willkomm einen neuen Weinkeller ein: Auf einer Fläche von 20.000 Quadratmetern mit einer Lagerkapazität von 30 Millionen Litern. Ein Kraftakt für die Kellerei: Allein die Edelstahltanks kosten 15 Millionen Euro.

Die umsatz- und mengenmäßig größte deutsche Weinkellerei gehört Michael und seinem jüngeren Bruder Stefan Willkomm, Enkel des Weingutsbesitzers und Winzermeisters Peter Mertes, der das Familienunternehmen 1924 gründete.

Discounter brauchen günstigen Quelle: dpa-dpaweb

Das ist es bis heute geblieben. Auch Michaels Frau Renate ist im Unternehmen. Sie gab ihren Arztberuf auf und leitet das Qualitätsmanagement. Seit zwei Jahren ist sein 24-jähriger Sohn Matthias an Bord, der die Verantwortung für den Export trägt. 40 Prozent der Mertes-Weine landen in ausländischen Supermärkten; in England, Polen, den USA und vor allem in Russland. Handelsriesen wie Carrefour, Wal-Mart oder Tesco zählen dort zu den Mertes-Kunden. Bei einem geschätzten Umsatz von 200 Millionen Euro beschäftigt das Unternehmen gerade mal 250 Mitarbeiter.

Tatsächlich sind beim Gang durch die vollautomatischen Abfüllstraßen, vorbei an Verpackungsmaschinen und riesigen Edelstahltanks kaum Mitarbeiter zu sehen. Das ist eines der Erfolgsrezepte der Weinkellerei: Kein einziger Mitarbeiter komme mehr mit einer Flasche in Berührung, sagt Willkomm. Das senke zum einen die Personalkosten und zum anderen die Gefahr von Verunreinigungen des Getränks.

Automatisierung, Qualitätsmanagement und Innovationen wie etwa neue Rebsorten oder Flaschendesigns – so ist Mertes zum Partner der großen Handelsketten geworden. Mertes begleite das Produkt von der Rebe bis ins Regal, sagt Willkomm und hat dazu Spezialisten vor Ort, die meist selbst Weinbau betreiben und sich mit den jeweiligen Anbaubedingungen auskennen – Weinkommissionäre, die in seinem Auftrag handeln.

Mertes leistet sich ein eigenes Fotostudio, beschäftigt zwölf Kellermeister, vier Önologen, 30 Küfer, Grafiker, Verpackungsspezialisten und acht Mitarbeiter im Labor. Eine Mannschaft, die in den vergangenen Jahren vor allem im Marketing und Qualitätsmanagement stark gewachsen ist. Die Buchhaltung dagegen habe sich seit 20 Jahren nicht mehr personell vergrößert, sagt Willkomm. Die Kontrolle von der Rebe bis in den Supermarkt ermögliche es auch, dass Mertes Bio- und Fairtrade-Weine abfüllen darf. So ist Mertes auch schon zum größten Biowein-Vermarkter im Lebensmittelhandel geworden.

Mehrere Tausend Vertragswinzer in Deutschland, Süd- und Osteuropa, Aus-tralien und den USA, kurze Entscheidungswege, niedrige Kosten durch automatisierte Abfüllung, Verpackung und Palettierung: nur so ist es überhaupt möglich, dass bei Preisen von selten mehr als drei Euro pro Flasche sowohl die Handelsketten als auch Willkomm ihren Schnitt machen. Tafelwein etwa – die niedrigste Qualitätsstufe nach den europäischen Weinrichtlinien – kauft Willkomm bei den Erzeugern für 40 bis 50 Cent. Die stehen dann als Tetrapak für 99 Cent in den Regalen des Handels. Außerhalb Europas ist der Rohstoff sogar noch billiger zu bekommen. „Die Kellerei arbeitet sehr professionell und schnell. Und Mertes macht sehr gute Preise“, sagt der Weineinkäufer einer großen Handelskette.

Das Ergebnis, meinen Experten, ist durchaus trinkbar: „Objektiv betrachtet gibt es heute aufgrund der weltweit verbesserten Kellertechnik und Ausbildung der Weinmacher sowie der intensivierten Qualitätssicherung des Handels viel mehr gute Weine als je zuvor, gerade im Preiseinstiegsbereich“, sagt Werner Engelhard, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Wein + Markt“. Wobei er einschränkt: „Gut im Sinne von sauber und technisch einwandfrei.“ Individuelle, charaktervolle, komplexe Spitzenweine mit ausgeprägter Typizität finde man für ein, zwei Euro natürlich nicht. Wer aber einen ordentlichen, leicht zugänglichen Wein für jeden Tag suche, der könne bis drei Euro auf jeden Fall fündig werden.

Wichtig: Der Kunde müsse auf einen flüchtigen Blick erkennen, wie der Wein schmecken könnte, sagt Willkomm, verlässt seinen Schreibtisch mit dem imposanten Ausblick auf die Mosel-Steillage Graacher Himmelreich und zapft sich ein Tässchen grünen Tee aus einem silbernen russischen Samowar. Von diesen weltberühmten Moselsteillagen kommen auch die Weine des Weinguts S.A. Prüm, das Mitglied im erlesenen Verband der Prädikatsweingüter ist und an dem die Willkomms beteiligt sind.

Man kann mit Willkomm, der auf einem Jesuiteninternat in Bad Godesberg sein Abitur machte und anschließend in Bonn Volkswirtschaft studierte, stundenlang über Wein reden – man muss es aber nicht. Ebenso gerne erzählt Willkomm über Nikolaus von Kues, auch Nikolaus Cusanus genannt, dem berühmtesten Sohn von Bernkastel-Kues. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Willkomm mit den Schriften des Kardinals und Universalgelehrten, der als der bedeutendste Philosoph und einer der bedeutendsten Mathematiker des 15. Jahrhunderts gilt. Cusanus stiftete in seinem Geburtsort nicht nur ein Armenhospital für alte Männer, sondern überschrieb der Stiftung auch eine umfangreiche Handschriftenbibliothek mit 314 Handschriften aus dem 9. bis 15. Jahrhundert.

Darunter auch ein Buch über den Koran. Eines Tages flatterte beim Rektor der Bibliothek ein Brief des lybischen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi auf den Tisch, in dem er sich als Cusanus-Bewunderer outete und das Buch „Cibratio Alchorani“ („Sichtung des Korans“) aus dem Jahre 1460 kaufen wollte. Der Rektor habe jedoch nicht gut Englisch verstanden und ihm den Brief gezeigt, erinnert sich Willkomm, „und ich hatte dann die Ehre, Gaddafi zu schreiben, dass das Buch unverkäuflich sei“.

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