Pharma Neues Medikament soll Bayer Milliarden bringen

Der Lipobay-Skandal scheint vergessen. Dank einer findigen Forscherin hofft Bayer nun auf Milliardenumsätze durch das Thrombosemittel Xarelto.

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Xarelto-Entwicklerin Perzborn: Höhepunkt des Forscherlebens

An ihrer Bürotür ist – in schmalen Druckbuchstaben – „Mutter Xarelto“ zu lesen. Das Foto, das daneben klebt, zeigt eine rothaarige Frau, die freundlich in die Welt schaut. Das ist Mutter Xarelto, die natürlich nicht wirklich so heißt, sondern Elisabeth Perzborn. Den Spitznamen haben ihr die Mitarbeiter verpasst.

Perzborn ist Medikamenten-Forscherin und verantwortlich für Xarelto, den Hoffnungsträger der Bayer AG in Leverkusen. Das Präparat soll wirksamer gegen die Massenkrankheit Thrombose helfen als die derzeit angebotenen Mittel, die entweder gespritzt werden müssen oder schwierig zu dosieren sind.

Xarelto soll dem Chemie- und Pharmariesen viel Geld bringen – Bayer selbst rechnet mit bis zu zwei Milliarden Euro jährlichem Spitzenumsatz. Analysten prognostizieren sogar bis zu fünf Milliarden Euro.

Die Keimzelle für die erhofften Umsatzmilliarden ist Perzborns Büro auf dem Gelände des Bayer-Pharmaforschungszentrums in Wuppertal, eine halbe Autostunde von der Konzernzentrale entfernt. Es ist ein kleiner Raum in einem unscheinbaren Gebäude.

Nach Milliarden sieht es hier wahrlich nicht aus, dabei soll Xarelto, das hier entwickelt wurde, ein wahrer Blockbuster werden, wie erfolgreiche Medikamente, in Anlehnung an Kino-Kassenschlager, auch in der Pharmabranche heißen.

Seit einigen Tagen ist das Mittel in der Europäischen Union zugelassen; in den USA soll es im nächsten Jahr auf den Markt kommen. Wenn Bayer-Chef Werner Wenning am 29. Oktober die Quartalszahlen vorlegt, wird er das Mittel von Forscherin Perzborn und ihrem Team öffentlich preisen.

Gute Nachrichten erreichen in Zeiten der Finanzkrise auch die Pharmaindustrie selten. In jüngster Zeit haben die großen Medikamenten-Konzerne wenig erfolgreiche Präparate auf den Markt gebracht, stattdessen scheiterten viele der einst vielversprechenden Pillen noch kurz vor – oder nach – der Zulassung. So musste Weltmarktführer Pfizer in den vergangenen Jahren seine Milliardenhoffnungen auf einen neuen Cholesterinsenker ebenso ad acta legen wie ein angeblich innovatives Insulinmittel.

Auch Xarelto ist als Investment nicht frei von Risiken, weil die Konkurrenz an ähnlichen Präparaten arbeitet. Und allgemein gilt: Noch Jahre später, lange nach der Markteinführung, können sich medizinische Nebenwirkungen zeigen – und erfolgversprechende Medikamente wieder vom Markt fegen.

Labor bei Bayer: 200.000 Substanzen wurden für die neue Thrombose-Tablette untersucht

„Es kann immer noch passieren, dass unerwünschte Nebenwirkungen erst Jahre nach der Zulassung auffallen – auch wenn das Medikament vorher an Zehntausenden Patienten getestet wurde“, sagt Thomas Sudhop, Abteilungsleiter beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, der deutschen Zulassungsbehörde.

So wie damals bei Lipobay. Den Cholesterinsenker nahm Bayer im August 2001 vom Markt – nachdem etliche Patienten über Muskelschwund geklagt hatten. Jahrelang musste sich Bayer, vor allem in den USA, gegen Tausende Klagen wehren – und wendete am Ende mehr als eine Milliarde Dollar für Vergleichszahlungen auf.

Verloren waren die fest eingeplanten Milliardeneinnahmen, der Bayer-Aktienkurs stürzte ab. Das Lipobay-Desaster belastete nicht nur das Medikamenten-Geschäft von Bayer, sondern den gesamten Konzern.

Es war die Zeit, als Konzernchef Wenning im Pharmaforschungszentrum Wuppertal Arbeitsplätze und Entwicklungsprojekte strich. Perzborn, die bereits dort seit 1979 für Bayer arbeitet, durfte mit ihren Kollegen weitermachen – und trieb die Entwicklung von Xarelto voran.

Andere Bayer-Forscher arbeiteten in den USA unverdrossen an Nexavar, einem Mittel gegen Nieren- und Leberkrebs – Tumorarten, mit denen sich damals erst wenige Pharmaforscher beschäftigten.

Das Forschen hat sich gelohnt. Sowohl Xarelto als auch Nexavar entwickelten sich erfolgreich. Inzwischen scheint Bayer im Medikamenten-Geschäft die Kehrtwende zu schaffen. Zwar ist das Unternehmen noch längst kein reinrassiger Pharmakonzern.

Der Hersteller von Aspirin oder dem Fußpilzmittel Canesten macht noch immer über die Hälfte seines Gesamtumsatzes von 32 Milliarden Euro mit Pflanzenschutzmitteln und hochwertigen Kunststoffen.

Doch der Schwung kommt inzwischen wieder aus dem Pillengeschäft, das im vergangenen Jahr 7,5 Milliarden Euro einbrachte. Vor zwei Jahren kaufte Bayer noch den Berliner Pharma-Konkurrenten Schering zu – seither gehören auch Verhütungspillen und Präparate gegen multiple Sklerose zum Medikamenten-Sortiment.

„Gemessen am Umsatz steht Bayers Pipeline im Vergleich zur Konkurrenz sehr ordentlich da“, sagt Franz-Robert Klingan, Pharmaexperte und Partner bei der Unternehmensberatung Bain & Company. Angeblich interessieren sich deutlich größere Pharmakonzerne wie Novartis oder auch Pfizer dafür, Bayer zu übernehmen – der vielversprechenden Medikamente wegen.

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„Bayer hat etliche attraktive Medikamente in der Entwicklung“, sagt Pharmaspezialist Michael Brückner von der Unternehmensberatung Accenture, „die meisten neuen Präparate kommen allerdings erst 2012 oder später auf den Markt.“ Zu den Hoffnungsträgern zählen etwa Mittel gegen Altersblindheit, Brustkrebs und Geschwulste in der Gebärmutter.

Die größten Hoffnungen ruhen jedoch auf Xarelto. Weltweit leiden 6,5 Millionen Menschen unter Thrombosen. Allein in Europa sterben jährlich 544.000 Menschen infolge von Venenthrombosen. „Die Zahl der Todesfälle weltweit durch venöse Thromboembolien ist höher als zum Beispiel durch Brustkrebs, Prostatakrebs, Aids und Verkehersunfällen zusammen“, sagt Perzborn. Thrombosen können etwa Lungenembolien sowie Herz- und Hirninfarkte verursachen.

Bislang mussten sich Patienten mit Tabletten behelfen, bei denen der Arzt das Blutbild überwachen muss – oder sich spritzen lassen, etwa mit dem Präparat Lovenox von Sanofi-Aventis.

„Neulich“, erzählt Perzborn, „habe ich einen Bekannten getroffen, der sich nach einer Thrombosebehandlung zu Hause selber spritzen sollte. Weil er Angst vor Spritzen hat, ließ er es aber bleiben. Ich hab gedacht, das darf doch nicht wahr sein.“

Auch deshalb wollte die 60-Jährige ihr Medikament unbedingt als Tablette entwickeln – um Patienten eine einfache Alternative zu den Spritzen bieten. Zunächst dürfen Mediziner Xarelto allerdings nur Patienten verabreichen, die vor Hüft- und Kniegelenkoperationen stehen.

Erst in einigen Jahren, wenn weitere Studien abgeschlossen sind, könnten Ärzte Xarelto möglicherweise auch zur Vorbeugung gegen Schlaganfall und zur Prophylaxe nach einem ersten Herzinfarkt einsetzen – und Bayer damit den Großteil der erwarteten Milliardeneinnahmen bescheren. Im Jahr 2012 hofft Bayer, alle Zulassungen erhalten zu haben.

Die Konkurrenz schläft nicht. Pharmakonzerne wie Boehringer Ingelheim, Pfizer und Bristol Myers Squibb forschen bereits an ähnlichen Präparaten. Dank der neuen Medikamente soll sich der weltweite Markt für Thrombosemittel nach Schätzungen des Marktforschungsinstituts IMS von derzeit sieben Milliarden Dollar auf 15 Milliarden Dollar im Jahr 2015 mehr als verdoppeln.

Xarelto-Tablette: Der Wirkstoff Rivoroxaban wurde in über 30 Ländern an mehr als 18.000 Menschen getestet

Besonders die Konkurrenz von Boehringer macht Bayer zu schaffen: Das Familienunternehmen aus dem rheinland-pfälzischen Ingelheim hat bereits vor Monaten ein vergleichbares Thrombosemittel namens Pradaxa auf den europäischen Markt gebracht, entwickelt in den Boehringer-Laboren im schwäbischen Biberach – und erwartet dafür gleichfalls Milliardenumsätze.

Bayer und Boehringer liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen: Im wichtigsten Pharmamarkt der Welt, den USA, wird voraussichtlich Bayer die Nase vorn haben und im nächsten Frühjahr die entsprechende Zulassung erhalten. Mediziner halten beide Mittel für vielversprechend. Eine Studie, die beide Präparate miteinander vergleicht, gibt es bislang nicht. „Es spricht für den Pharmastandort Deutschland, dass hierzulande zwei innovative Thrombosemittel entwickelt wurden“, sagt die Bayer-Biologin Perzborn.

Im Labor zeigt sie, was genau passiert, wenn Thrombosen töten. Über einen Flachbildschirm läuft ein Video. Was dort zu sehen ist, wirkt wie ein simpler Schwarz-Weiß-Zeichentrickfilm eines rauschenden Flusses, der eine Landschaft durchzieht. Vom Ufer plumpsen Steine ins Wasser. Es werden immer mehr, eine Lawine aus Geröll entsteht, binnen Sekunden ist der Flußlauf unterbrochen. Ein Klumpen löst sich, der reißende Fluss rafft ihn mit sich fort.

Tatsächlich ist das scheinbare Naturidyll eine Vene in zigfacher Vergrößerung mit Blutplättchen, die sich schließlich verklumpen. Lebensgefährlich wird es, wenn sich ein Teil des Gerinnsels löst, mit dem Blutstrom durch den Körper schießt und dann ein Gefäß in der Lunge verstopft.

Um ein Mittel gegen die tödliche Krankheit zu finden, legte Perzborn zunächst einen Angriffspunkt fest. Sie wählte das Molekül Faktor Xa, das bei der Blutgerinnung eine wichtige Rolle spielt. Sie ließ 200.000 Substanzen auf ihre Eignung zur Thrombosetablette testen – Analyseroboter erledigten die Arbeit.

Fünf potenzielle Leitstrukturen kamen in die engere Auswahl. Perzborn und ihre Mitarbeiter untersuchten unter anderem, ob die Substanzen noch auf andere Enzyme wirken und ob sie sich später gut in eine Tablette pressen lassen würden.

Als Perzborn im Frühsommer 2000 die Daten des Wirkstoffs mit der Codenummer BAY 59–7939 betrachtete, war sie sicher: Die Daten passen perfekt. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, studierte die Daten noch einmal in Ruhe. Immer noch passten sie. Elisabeth Perzborn war glücklich – und buk für ihre Mitarbeiter einen Pfirsichkuchen.

Die Medikamenten-Entwickler bei Bayer testeten BAY 59–7939 nun weiter, zunächst an Tieren. Hunderte Ratten, Mäuse und Meerschweinchen mussten wegen Xarelto ihr Leben lassen – zu Versuchszwecken verletzten die Forscher ihre Blutgefäße.

Direkt neben den Labors, hinter Türen mit der Aufschrift „Tierhaltung“, sind die Ratten, Mäuse und Meerschweinchen untergebracht. Sie leben in schuhkartongroßen Plastikboxen; aus den Lautsprechern in der Decke klingt Entspannungsmusik. Die Nager sollen sich, so weit es geht, wohlfühlen – anderenfalls würden die Versuchsergebnisse beeinträchtigt.

„Ratten sind lärmempfindliche Tiere“, sagt Elisabeth Perzborn. Früher waren die Nager in der Nähe des Aufzugs untergebracht. Nachdem die Bayer-Forscher feststellt hatten, dass die Tiere durch die Fahrstuhlgeräusche gestört werden, quartierten sie die Tiere um.

Der Wirkstoff Rivaroxaban, wie die Substanz inzwischen hieß, wurde schließlich in über 30 Ländern an mehr als 18.000 Menschen getestet – insgesamt dauerte die Entwicklung acht Jahre, eine relativ kurze Entwicklungszeit in der Pharmabranche. Eine Milliarde Euro kostete Bayer das Projekt Xarelto.

Die Ergebnisse lassen immer mehr hoffen. Vor einigen Wochen bestätigte eine Studie, dass der Wirkstoff die Leber nicht schädigt – eben deswegen hatte Konkurrent AstraZeneca 2004 ein ähnliches Mittel vom Markt nehmen müssen.

Wegen schlechter Studiendaten müssen nun auch die US-Konzerne Pfizer und Bristol Myers Squibb ihr Thrombosepräparat nacharbeiten, die Markteinführung verzögert sich damit. Xarelto dagegen darf als sicher gelten – zumindest bis zum Beweis des Gegenteils, der nicht auszuschließen ist – bei Lipobay waren die schweren Nebenwirkungen erst Jahre nach Markteinführung aufgefallen.

In den USA übernimmt der Medikamenten-Konzern Johnson & Johnson die Vermarktung von Xarelto – und darf dafür 70 Prozent der US-Einnahmen behalten. „Viel wird auch davon abhängen, wie gut Bayer und Johnson & Johnson das Mittel vermarkten“, sagt Bain-Berater Klingan.

Der Pharmaexperte sieht noch Potenzial im Marketing und im Vertrieb von Bayer. Für das Potenzmittel Levitra, das Bayer 2003 auf den Markt brachte, hätten laut Klingan aufgrund der Produkteigenschaften höhere Umsätze erzielt werden können. „Nur wurden die Produktvorteile nicht gut genug verkauft“, sagt Klingan.

Forscherin Perzborn ist längst mit anderen Projekten beschäftigt. „Die Entwicklung von Xarelto ist für mich der Höhepunkt meines Forscherlebens“, sagt sie. Finanziell hat sich die Entwicklung von Xarelto für sie schon gelohnt – zu den Details schweigt sie jedoch. Besonders wichtig scheint ihr das Geld auch nicht zu sein. „Es ist schon ein gutes Gefühl, weltweit Patienten zu helfen“, sagt sie. Und ihnen ein wenig von der Angst vor der Thrombose zu nehmen – die Angst vor dem tödlichen Geröll in der Blutbahn.

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