Pharmabranche Der Stellenabbau bei Bayer ist unvermeidlich

Auf der Aufsichtsratssitzung kurz vor Weihnachten muss der neue Bayer-Chef Marijn Dekkers mit Gegenwind rechnen. Doch was der Niederländer plant, scheint unumgänglich, auch wenn der Chemie- und Pharmariese dadurch 4500 Jobs verliert.

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Marijn Dekkers, Vorsitzender Quelle: dpa

Bislang verliefen die Aufsichtsratssitzungen bei Bayer für Marijn Dekkers eher gemütlich. Solange der gebürtige Niederländer noch einfacher Vorstand war, hatte er im Kontrollgremium des Chemie- und Pharmakonzerns nicht viel zu sagen, erzählen Teilnehmer. Wenn einer der Kontrolleure eine Frage an den designierten Konzernchef richtete, ergriff schon mal der amtierende Vorstandsvorsitzende Werner Wenning das Wort, antwortete an Dekkers’ Stelle und schloss dann zuweilen mit der rhetorischen Frage ab: "Das sehen Sie doch auch so, Herr Dekkers?"

Wenn der Aufsichtsrat Mitte Dezember wieder zusammentritt, dürfte es für Dekkers anstrengender und ungemütlicher werden. Denn dann muss der 53-Jährige, der am 1. Oktober die Nachfolge Wennings antrat, nicht nur selber den Kontrolleuren Rede und Antwort stehen, unter ihnen Granden wie ThyssenKrupp-Chef Ekkehard Schulz und Allianz-Vorstand Paul Achleitner. Auf den Niederländer wird zugleich eine Reihe unbequemer Fragen niederprasseln: Warum er die Marketingausgaben für Medikamente wieder erhöhen will, die Verbraucherschützer immer wieder geißeln, wird ein Kontrolleur ihn fragen. Oder wieso die Entwicklungskosten beim Schlaganfallmittel Xarelto – mehr als zwei Milliarden Euro – aus dem Ruder laufen.

Dekkers ein brutaler Macher?

Den schärferen Ton hat der rotblonde drahtige Dekkers sich selbst zuzuschreiben. Seitdem er Mitte November den Abbau von 4500 Stellen ankündigte, davon 1700 in Deutschland, sind vor allem die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat aufgebracht. Das Konzept sei kurzsichtig, überzogen, viel zu hart und nicht nachvollziehbar, heißt es. Manchem Beschäftigten im Konzern gilt Dekkers ohnehin als brutaler Macher: Der neue Chef, der es in 147 Jahren als erster Manager von außen an die Bayer-Spitze schaffte, hat bei seinem früheren Arbeitgeber, dem US-Laborausrüster Thermo Electron in wenigen Jahren die Hälfte der Fabriken geschlossen und 5000 von 13.000 Arbeitsplätzen gestrichen.

Doch weit dürften die Proteste kaum tragen. Denn zum geplanten Abbau von 4500 Stellen – gleichzeitig werden in Schwellenländern wie Brasilien und Indien 2000 neue Jobs aufgebaut – gibt es für Bayer keine Alternative. Zu groß sind die Probleme, insbesondere im Pharmageschäft, als dass Dekkers sich mit Einschnitten Zeit lassen könnte.

Auch Wettbewerber müssen Stellen streichen

Die Bayer-Aktie blieb in den vergangenen zwölf Monaten klar hinter dem Deutschen Aktienindex (Dax) zurück. Von den drei Geschäftsfeldern des 31 Milliarden Euro Umsatz schweren Riesen vom Rhein läuft derzeit nur die Chemiesparte Bayer Material Science richtig gut, Landwirtschaft und vor allem Gesundheit dümpeln mehr schlecht als recht vor sich hin. Das Medizingeschäft macht immerhin etwa die Hälfte des Bayer-Konzernumsatzes aus.

Die tieferen Ursachen für Dekkers schnelle Schritte liegen in Trends, die auch die Wettbewerber zu Stellenstreichungen zwingen. Bei den meisten Pharmakonzernen laufen in den nächsten Jahren wichtige Medikamentenpatente aus, die den Herstellern bisher exklusive Milliardenumsätze gesichert haben. Immer früher attackieren zudem die Produzenten von Nachahmerpräparaten, sogenannten Generika, die monopolartigen Gewinne der Originalhersteller. Gleichzeitig lassen sich die Prüfbehörden immer mehr Zeit bei der Zulassung neuer Pillen – aus Angst davor, schwerwiegende Nebenwirkungen zu übersehen. Und schließlich bekommen die Medikamentenhersteller auch die Folgen der Gesundheitsreformen in verschiedenen Ländern zu spüren. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Weil gespart werden muss, sinken die Medikamentenpreise.

Grafik: De Entwicklung der Bayer-Aktie im Vergleich zum Dax

Vor diesem Hintergrund ist Dekkers mit seinem Sparprogramm sogar spät dran. In diesem Jahr haben bereits Pharmakonzerne wie Pfizer, Merck & Co. und Sanofi die Streichung von insgesamt 40 000 Arbeitsplätzen weltweit angekündigt. Der Schweizer Medikamentenhersteller Roche gab vor wenigen Wochen den Abbau von 4800 Stellen bekannt – die globale Belegschaft reduziert sich so um sechs Prozent. Konkurrent Novartis gibt 1400 Arbeitsplätze in den USA auf. Und der kleinere deutsche Arzneispezialist Grünenthal aus Aachen trennt sich in Deutschland von jedem zehnten Mitarbeiter.

Bei Bayer hat sich das Medizingeschäft, auf das der heutige Aufsichtsratschef Manfred Schneider in den Neunzigerjahren – im Gegensatz zur eher ungeliebten Chemie – so große Hoffnungen setzte, in jüngster Zeit wieder zur Problemzone entwickelt. Allzu viele hoffnungsvolle Präparate haben die Leverkusener nicht in der Entwicklung, die aktuellen Medikamente werden immer stärker von Generikaherstellern attackiert. Und schließlich belasten die Gesundheitsreformen in verschiedenen Ländern Bayer mit einem dreistelligen Millionenbetrag – die Rede ist von mehr als 200 Millionen Euro. Die Marge im Gesundheitsgeschäft – bezogen auf den Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) – klingt zwar mit 25 Prozent erst mal verheißungsvoll. Die meisten Konkurrenten erreichen allerdings mehr als 30 Prozent.

Mehr Wachstum, weniger Administration

Die Antwort auf diese Herausforderung, die auch der Aufsichtsrat in der kommenden Woche zu hören bekommen wird, ist absehbar. Einerseits wird Dekkers die Ausgaben für Entwicklung und Marketing gewinnträchtiger Arzneien erhöhen, insbesondere bei neuen Medikamenten wie dem Schlaganfallmittel Xarelto. Andererseits kommt er nicht umhin, bei weniger innovativen Präparaten die Kosten zu senken. Insbesondere die Ausgaben für schwächelnde Präparate wie die Verhütungspille Yasmin, die 2009 noch einen Umsatz von gut 1,2 Milliarden Euro einbrachte, dürften von den Kürzungen betroffen sein. Allein in Deutschland will Dekkers 700 Stellen in der Gesundheitssparte streichen.

Um die vorhanden Chancen zu nutzen und die Pillen bei Ärzten besser anzupreisen, will Dekkers mehr Geld in Forschung und Entwicklung sowie das Medikamentenmarketing stecken. "Wir wollen mehr in Wachstum und Innovation investieren und weniger in Administration", hatte Dekkers schon vor einigen Wochen angekündigt.

Neues Schlaganfallpräparat soll Milliarden bringen

Schon heute liegen im Bayer-Medizingeschäft die Ausgaben für Forschung und Entwicklung – bisher etwa zwölf Prozent vom Umsatz – deutlich unter denen für Marketing und Vertrieb. Bayer und andere Medikamentenhersteller stehen deshalb bei Kritikern im Verdacht, einen Großteil des Geldes für Einladungen und Honorare an Ärzte zu verwenden – auf dass die Mediziner auch fleißig Bayer-Präparate verschreiben.

Das Argument zu hoher Vertriebsausgaben ließ Ex-Konzernchef Wenning freilich nie gelten: "Dazu zählen unter anderem auch Verpackungskosten, Bevorratung und Logistik. Und natürlich müssen wir dem Arzt unsere Produkte erklären. Das ist zum Wohle des Patienten." Bayer achte im Übrigen streng darauf, dass die Richtlinien für den Umgang mit Ärzten eingehalten werden.

Große Hoffnungen setzt Nachfolger Dekkers auf Xarelto, das neue Mittel zur Vorbeugung gegen Schlaganfall und Herzrhythmusstörungen, das er nach der Zulassung nun so schnell wie möglich in den Markt drücken möchte. Die Entwicklung des Medikaments hat bislang schon etwa 2,3 Milliarden Euro gekostet – wobei sich Bayer die Aufwendungen mit seinem Vermarktungspartner, dem US-Konzern Johnson & Johnson, teilt.

Den Aufsichtsräten wird Dekkers klarzumachen versuchen, dass Xarelto für die Zukunft des Bayer-Gesundheitsgeschäfts enorm wichtig und die Ausgaben deshalb wert ist. Noch in diesem Jahr will Bayer seinen Antrag zur Schlaganfall-Prophylaxe bei der US-Zulassungsbehörde FDA einreichen. Wenn alles gut geht, dürften sich damit jährliche Spitzenumsätze von zwei Milliarden Euro erzielen lassen – konservativ geschätzt. Für Dekkers ist das allerdings ein Spiel mit hohem Risiko – denn ein weiteres potenzielles Milliardenmedikament ist bei Bayer derzeit nicht in Sicht.

Grafik: Wie sich die Bayer-Sparten entwickeln

Stattdessen verlieren die aktuellen Spitzenpräparate gerade an Umsatz. In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 reduzierten sich etwa die Erlöse des Multiple-Sklerose-Mittels Betaferon, das inzwischen von Novartis als billigeres Generikum vermarktet wird, um 1,2 Prozent, zuletzt legte das Mittel allerdings wieder zu.

Der Absatz der Bayer-Verhütungspille Yasmin brach allein im dritten Quartal um etwa 25 Prozent ein. Mittlerweile attackieren Generikahersteller wie die israelische Teva die Anti-Baby-Pille aus Deutschland in den USA und setzen damit das Bayer-Präparat gehörig unter Druck. Inzwischen sind in den USA zudem 4800 Klagen gegen Yasmin anhängig – wegen angeblicher schwerwiegender Nebenwirkungen wie etwa gefährlichen Thrombosen. 130 Millionen Euro hat Bayer bereits zurückgestellt, um sich gegen die Kläger zu verteidigen.

150 Jahre Industriegeschichte verschwinden

Sinkende Margen, steigende Rechtskosten – gut möglich, dass Dekkers deswegen vor allem Arbeitsplätze rund um das Geschäft mit Yasmin abbaut. Betroffen wäre vor allem der Standort Berlin. Beim früheren Schering-Konzern, den Bayer 2006 übernahm, ist Yasmin in den Neunzigerjahren entwickelt worden. Noch heute wird die Pille in der Hauptstadt produziert. Knapp 500 Pillenschachteln spuckt eine Maschine dort pro Minute aus.

Wo gestrichen wird und welche Jobs wegfallen, das werden die Kontrolleure auf der Aufsichtsratssitzung von Dekkers genauer wissen wollen. Die Mitarbeiter am Standort Berlin fürchten bereits, dass sie überproportional betroffen sind. Die Stimmung in der Hauptstadt sinkt dadurch noch weiter.

Die meisten der dortigen Beschäftigten sind ohnehin schlecht auf den neuen Konzernchef zu sprechen, seit er Anfang November die Tilgung des Traditionsnamens ankündigte. Aus der Tochtergesellschaft Bayer Schering Pharma etwa wird "Bayer HealthCare". Mehr als 150 Jahre Industriegeschichte sollen auf diese Weise mal eben verschwinden.

"Evolution statt Revolution"

Keine Frage: Mit solchen Einschnitten leitet Dekkers bei Bayer eine Zäsur ein, die kaum jemand so schnell erwartet hat. Noch Anfang des Jahres, als der Niederländer in Leverkusen einstieg, betonte er, dass Bayer "gut aufgestellt" und auch "kein Sanierungsfall" sei wie sein früherer Arbeitgeber Thermo Electron. Und um jeden Anschein von Radikalität zu vermeiden, fügte er ausdrücklich hinzu, dass er "Evolution statt Revolution" bevorzuge. "Ich bin nicht gekommen, um hier alles um 180 Grad herumzudrehen", versichert Dekkers.

Doch der Glaube daran ist bei vielen Beschäftigten mittlerweile verloren gegangen, seit Dekkers die harten Einschnitte ankündigte. Auf der Betriebsversammlung in Leverkusen schallte dem Neuen zuweilen Gelächter entgegen, etwa als er behauptete, die anstehenden Veränderungen seien strukturell bedingt und nicht dem Druck der Börsen geschuldet. Ähnlich waren die Reaktionen, als Dekkers die Belegschaft zu beruhigen versuchte, es werde erst mal keinen weiteren Personalabbau geben.

Betriebsräte und Gewerkschafter, die bei Bayer seit Jahrzehnten vertraulich mit der Konzernspitze zusammenarbeiteten, fühlen sich "übergangen" und "überrumpelt", wie einer von ihnen klagt. Mancher wünscht sich bereits den früheren Konzernchef Wenning zurück, der nach über 40 Jahren im Bayer-Konzern die Stimmung in der Belegschaft genau einzuschätzen wusste.

Aber noch hat Dekkers bei seinen Mitarbeitern eine Chance. Auch von den Belegschaftsvertretern ist kaum ein böses Wort über den neuen Chef zu hören. Die Abgesandten der Werktätigen hoffen darauf, mit dem Mann noch gut verhandeln zu können. "Wir müssen versuchen, die Zahl von 1700 Arbeitsplätzen, die in Deutschland abgebaut werden sollen, deutlich zu reduzieren", skizziert Rolf Erler, Bezirksleiter der IG Bergbau Chemie Energie in Leverkusen, die Richtung. Immerhin soll erst im Frühjahr endgültig feststehen, an welchen Standorten und in welchen Abteilungen wie viele Arbeitsplätze abgebaut werden.

Zu der konstruktiven Haltung der Gewerkschafter hat Dekkers selbst beigetragen. Kurz nach seiner überraschenden Ankündigung des Stellenabbaus unterzeichnete er mit dem Bayer-Gesamtbetriebsrat eine gemeinsame Erklärung. Darin bekräftigen beide Parteien, dass die Arbeitsplätze sozialverträglich – und damit ohne betriebsbedingte Kündigungen – abgebaut werden sollen. Konkrete Zahlen für den Stellenabbau werden in der gemeinsamen Erklärung nicht mehr genannt.

So hat Dekkers erst einmal Zeit gewonnen und der Kritik die Spitze genommen. Gut möglich, dass die Aufsichtsratssitzung gut eine Woche vor Weihnachten – trotz aller kritischen Fragen – deshalb dann doch so friedlich wie bisher endet.

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