Pillen-Klagen Der Feel-Bad-Faktor: Patienten verklagen Pharmariesen

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Felicitas Rohrer Quelle: Dan Cermak für WirtschaftsWoche

Dabei sehen sich die Pharmahersteller längst nicht nur juristischen Klagen ausgesetzt. Die mutmaßlichen Pillen-Opfer entwickeln auch zunehmend öffentlichkeitswirksame Strategien, um die Medikamentenhersteller in die Enge zu treiben. Mutmaßlich geschädigte Patienten gründen inzwischen Interessengemeinschaften, rufen zum Boykott von Unternehmen auf und versuchen, Politiker für ihre Zwecke einzuspannen.

So trat die Badenerin Rohrer, die sich von der Anti-Baby-Pille Yasminelle geschädigt fühlt, auf der Bayer-Aktionärsversammlung auf. In ihrer Rede – Rohrer hatte sich von kritischen Aktionären eine Aktie übertragen lassen – las sie dann dem versammelten Vorstand und Aufsichtsrat die Leviten.

Die Folgen solcher Aktionen in der Öffentlichkeit sind für die Unternehmen kaum kalkulierbar. Für das größte Aufsehen in Deutschland sorgten in jüngster Zeit die Contergan-Opfer. 1957 brachte der Hersteller Grünenthal das fatale Schlafmittel auf den Markt – Tausende Kinder wurden mit verkürzten Armen und Beinen geboren. Nach einem längeren juristischen Prozedere ließ sich Grünenthal zu Beginn der Siebzigerjahre auf eine Vergleichszahlung von 100 Millionen Mark ein – aus heutiger Sicht ein lächerlich geringer Betrag.

Der Spielfilm "Nur eine einzige Tablette", der vor drei Jahren im Westdeutschen Rundfunk lief, brachte das Thema Contergan zurück ins öffentliche Bewusstsein. Viele Contergan-Geschädigte traten öffentlich auf, waren in Filmen und Talkshows zu sehen. Durch den öffentlichen Druck erreichten sie, dass Grünenthal noch einmal 50 Millionen Euro lockermachte. Auch die Bundesregierung öffnete noch einmal die Schatulle und erhöhte die Renten für die Opfer.

Beispiele könnten Schule machen

Trotzdem können die Eigentümer von Grünenthal nicht damit rechnen, das Thema Contergan nun endgültig abgeschlossen zu haben. Eine Gruppe von Contergan-Opfern ruft inzwischen zum Boykott gegen Waschmittel der Dalli-Werke ("Tandil") und Düfte von Mäurer & Wirtz (Tabac, 4711) auf. Die Unternehmen gehören ebenfalls der Grünenthal-Eigentümerfamilie Wirtz. Die Kampagne soll bundesweit ausgedehnt werden.

Solche Beispiele könnten Schule machen. Eine weitere Initiative rückt Bayer zu Leibe. Im Allgäu organisiert der Lehrer Andre Sommer eine Interessengemeinschaft für mutmaßliche Duogynon-Opfer. Duogynon war ein Schwangerschaftstest des früheren Berliner Pharmaherstellers Schering, der Frauen in den Sechziger- und Siebzigerjahren entweder als Injektion oder als Dragee verabreicht wurde. Ende der Siebzigerjahre war von mindestens 1000 geschädigten Frauen die Rede, die Kinder mit auffälligen Fehlbildungen gebaren. Bei Sommer etwa war die Blase betroffen, die außen am Körper lag. Nach zahlreichen Operationen muss er nun dauerhaft mit einem künstlichen Ausgang leben.

2006 übernahm der Bayer-Konzern den Konkurrenten Schering. Für die Leverkusener, bei denen zum 1. Oktober der neue Vorstandschef Marijn Dekkers – ein gebürtiger Niederländer – antritt, wird es in den kommenden Monaten schwer werden, aus den Schlagzeilen zu kommen. Allerdings bestreitet der Pharma- und Chemieriese einen Zusammenhang zwischen Duogynon und den Missbildungen. Bayer verweist auch darauf, dass die Staatsanwaltschaft Berlin 1980 ein Verfahren eingestellt habe, weil es keinen Zusammenhang gebe.

Politik mischt sich langsam ein

Am 21. Oktober verhandelt nun das Landgericht Berlin die Auskunftsklage im Fall Sommer – es geht darum, ob Bayer firmeninterne Unterlagen offenlegen muss. Die Betroffenen verlangen endlich Aufklärung; in der Interessengemeinschaft haben sich mittlerweile 120 Mitstreiter zusammengefunden. Nach einem Fernsehbericht und diversen Zeitungsartikeln erhielt Lehrer Sommer inzwischen mehr als 1000 E-Mails zu Duogynon. Mittlerweile haben die möglichen Opfer beschlossen, auf der nächsten Hauptversammlung des Bayer-Konzerns im Frühjahr 2011 aufzutreten, um vom Unternehmen endlich Antworten zu erhalten.

Auch die Politik bringen die vermeintlich Pharma-Geschädigten zunehmend gegen die Unternehmen in Stellung. Im Juli etwa stellten die Grünen – im Sinne von Sommer – eine Anfrage an die Bundesregierung zu Duogynon. Gesundheits-Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz antwortete zwar, dass "kein wissenschaftlich überzeugender Beweis dafür erbracht werden (konnte), dass diese Hormongaben einen höheren Prozentsatz an Fehlbildungen bei Neugeborenen hervorrufen". Gleichzeitig erklärte sie jedoch, dass die Bundesregierung die Rechte der Patienten stärken will sowie eine von der Pharmaindustrie unabhängige Verbraucher- und Patientenberatung einrichten werde. Auch die EU will die Patientenrechte und Informationsmöglickeiten verbessern – so sollen etwa die Packungsbeilagen verständlicher werden.

Leute wie Sommer stehen in vorderster Front gegen die mächtigen Medikamentenunternehmen, arbeiten sich mit ungeheurer Akribie in die meist hoch komplizierte Materie ein. Und versuchen, alle Register zu ziehen. Witwer Schröder etwa, der derzeit wegen des Todes seiner Frau gerichtlich gegen Pfizer vorgeht, hatte sich ursprünglich an seine Parteifreunde von der SPD in Berlin gewandt. Doch die Genossen konnten oder wollten ihm nicht helfen, also wurde er selbst aktiv.

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