Produktion Chinas Tage als Fabrik der Welt sind gezählt

Steigende Arbeitskosten, gestrichene Steuervorteile, strengere Sozialgesetze – Chinas Tage als Fabrik der Welt sind gezählt. Die für ihre Billigproduktion bekannten chinesischen Metropolen kämpfen mit einem Mal mit den gleichen Problemen wie Bochum und Kamp-Lintfort: Westliche Unternehmen suchen sich anderswo günstigere Standorte.

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Chipfabrik in China: Technologiekonzerne verlegen die Fertigung nach Vietnam Quelle: Mick Ryan für WirtschaftsWoche

Wenn Huang Fuxiang an seine Jahresbilanz denkt, legt sich seine Stirn in tiefe Falten. „Unsere Gewinnmargen sinken kontinuierlich“, klagt der stellvertretende Geschäftsführer von Evervan. Das Unternehmen ist einer der weltgrößten Sportschuhhersteller – und kämpft mit Problemen, die hier in China bislang niemand kannte: Um 17 Prozent seien die Lohnkosten im vergangenen Jahr gestiegen, höhere Preise für Leder und Gummi würden den Rest erledigen, sagt Huang, während er durch seine Fabrikhalle läuft. „Es ist nicht mehr wie vor zehn Jahren. Damals konnte man sich hinsetzen, Schuhe machen, und das Geld floss fast von allein.“

7000 Mitarbeiter beschäftigt Evervan in seinem Werk im südchinesischen Städtchen Qingyuan nahe der Metropole Guangzhou. Das Unternehmen aus Taiwan produziert vor allem für den deutschen Sportkonzern und Olympiasponsor Adidas. Sieben Millionen Paar Schuhe verlassen jedes Jahr die Fabrik – die meisten in Richtung Amerika, Europa und Japan. Eigentlich wollte Huang die Produktion in den kommenden Jahren kräftig hochfahren. Als Evervan vor gut zwei Jahren die Fabrik in Qingyuan eröffnete, kaufte das Unternehmen noch ein Nachbargrundstück dazu, um die Fertigung zu erweitern, wenn das Geschäft richtig brummt.

Unternehmen machen sich auf die Suche nach günstigeren Standorten

Davon ist inzwischen keine Rede mehr. Auf dem Feld nebenan sprießt das Unkraut, in den Pausen spielen die Arbeiter dort Fußball. Eine neue Fabrik werde man nicht mehr bauen, sagt Huang. Stattdessen baut Evervan anderswo neue Fertigungsstätten: in Vietnam und Indonesien. „Man kann in China zwar noch immer gute Geschäfte machen“, sagt der Manager, „aber die Herausforderungen wachsen.“ Um den Kostenanstieg in China aufzufangen, versucht Evervan nun die Produktivität zu steigern: Maschinen werden effizienter eingesetzt, Abteilungen zusammengelegt. „In China werden derzeit 50 Prozent unserer Schuhe gefertigt. Das wird prozentual zurückgehen“, sagt auch Adidas-Chef Herbert Hainer. „Wir haben bereits mit einem Lieferanten die ersten Fabriken in Indien aufgemacht.“

Mit einem Mal kämpfen Chinas Metropolen mit den gleichen Problemen wie Kamp-Lintfort und Bochum, jenen Ruhrgebietsstädten, in denen zuerst Siemens und dann Nokia wegen vorgeblich zu hoher Kosten aus der Handy-Produktion ausstiegen. Bei Tausenden Unternehmen im Süden und Osten Chinas drücken steigende Löhne, strengere Sozialgesetze, eine rückläufige Nachfrage aus den USA und die starke chinesische Währung Yuan die Erträge. Vor allem Unternehmen, die einfache Güter wie Textilien, Schuhe oder Spielzeug für den Export fertigen, machen sich auf die Suche nach günstigeren Standorten in den Nachbarländern.

Rund 10.000 kleinere Betriebe in Südchinas Perlflussdelta, so Branchenschätzungen, haben dieses Jahr bereits dichtgemacht. Im laufenden Jahr dürften zwischen zehn und 20 Prozent der chinesischen Exportunternehmen schließen, rechnet eine Studie der Deutschen Bank in Hongkong vor. „Was die Kostenvorteile angeht, ist in China die Grenze erreicht“, sagt William Anderson, der bei Adidas für Sozial- und Umweltfragen in Asien zuständig ist. Das Unternehmen schaut nach günstigeren Bezugsquellen, nicht nur in Indien – wo Adidas heute mit 60 Lieferanten zusammenarbeitet –, sondern auch in Vietnam, Bangladesch und Indonesien.

Bis vor Kurzem galt vor allem das Perlflussdelta in der Provinz Guangdong bei Hongkong noch als Fabrik der Welt. Arbeiter in chinesischen Fabriken haben praktisch alle Feuerzeuge, Krawatten oder Schuhe gefertigt, die weltweit verkauft werden. Ob T-Shirts, Fernsehgeräte, Laptops oder Digitalkameras: Handelsketten wie Metro oder Wal-Mart deckten sich bislang überwiegend im Reich der Mitte ein – das Riesenreich hatte sich in kürzester Zeit zur Supermacht für Billigproduktion entwickelt. 14 Prozent aller weltweit hergestellten Güter haben ihren Ursprung in China. 1995 lag der Anteil noch bei fünf Prozent. Deutschland kommt auf sieben Prozent.

Ende der Boomzeit in China

Doch Trostlosigkeit und Einöde breiten sich nun aus, wo noch bis vor Kurzem rund um die Uhr die Fließbänder liefen. An den staubigen Straßen in Dongguan, Shenzhen und Guangzhou sind viele Fabriktore verrammelt. Große Schilder, „Fabrik günstig zu verkaufen“, hängen allerorten. Waren in den Achtzigerjahren Taiwan und Südkorea die Standorte der internationalen Billigproduktion, zogen die Unternehmen in den Neunzigerjahren nach China. Jetzt zieht die Karawane abermals weiter.

Eine Ursache für die Krise der chinesischen Exportindustrie ist die nachlassende Nachfrage im Ausland, vor allem in den USA. Die weltweite Konjunkturflaute im Gefolge der Finanzkrise, gepaart mit einer anhaltend hohen Inflation, sorgt dafür, dass die Konsumenten im Westen ihr Geld zusammenhalten – die internationalen Handelsketten ordern weniger in China.

Um gerade mal acht Prozent stiegen die Ausfuhren aus China nach Amerika im Juni im Vergleich zum Vorjahresmonat. Im vergangenen Jahr verbuchte das Land bei den Exporten in die USA noch Zuwächse im hohen zweistelligen Bereich. Insgesamt exportierte China im Juni zwar 18 Prozent mehr Waren als im Vorjahresmonat. Doch die Zuwächse waren in den Monaten zuvor und im vergangenen Jahr noch deutlich höher ausgefallen. Die Folge: Der Handelsbilanzüberschuss schrumpfte im ersten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um fast elf Prozent; die Wachstumsschwäche bei den Ausfuhren dürfte weitergehen. Ein Ende der Immobilienkrise in den USA sei derzeit noch nicht abzusehen, so Jun Ma, Analyst der Deutschen Bank in Hongkong. Nach wie vor seien die Konjunkturrisiken für die USA, Europa und Japan groß.

Darüber hinaus drückt der starke Yuan auf das Geschäft der Exportindustrie. Um mehr als 18 Prozent wurde die chinesische Währung aufgewertet, seit die Regierung vor drei Jahren die Festbindung des Yuan an den Dollar gelockert hat. Die starke chinesische Währung beeinträchtige die Exporte, sagt auch Adidas-Manager Anderson, „das müssen wir durch höhere Effizienz in den Fabriken auffangen“.

Doch nicht nur der starke Yuan und die Konjunkturflaute im Westen vermiesen den Unternehmen in China das Geschäft. Auch die steigenden Kosten sorgen für lange Gesichter in den Vorstandsetagen. Im vergangenen Jahr stiegen die Löhne für einfache Arbeiter im chinesischen Durchschnitt um 15 Prozent, und der Trend dürfte anhalten. Nicht nur wegen der nach wie vor hohen Inflation verlangen die Fabrikarbeiter nach weiteren Steigerungen, sondern auch wegen des neuen Arbeitsgesetzes, das Anfang des Jahres in Kraft trat.

Auf der einen Seite nähert sich China mit seinen bislang oft katastrophalen Sozialstandards wenigstens ansatzweise westlichem Niveau an – auf der anderen Seite treibt das neue Gesetz die Kosten hoch. So müssen die Unternehmen nun die Arbeitsverträge von Teilzeitkräften nach einem Monat entfristen. „Das führt zu zusätzlichen Arbeitskosten von 20 bis 40 Prozent“, so Deutsche-Bank-Analyst Jun, „weil die Unternehmen für die Mitarbeiter Sozialbeiträge abführen müssen.“

Mit solchen Herausforderungen kämpft auch der Deutsche Thomas Schneider. In der Empfangshalle seines Unternehmens Isa Tantec, einer Ledergerberei in Guangzhou, biegen sich die Regale unter Auszeichnungen, Medaillen und TÜV-Zertifikaten für vorbildliche Umweltstandards. Zwischen den Fabrikhallen gibt es ausgedehnte Grünanlagen. Solarpanels sorgen für heißes Wasser. In fünf großen Tanks werden die Abwässer des Werks geklärt.

Cheerleader jubeln für die Quelle: dpa

Neben der Zement- und Chemieproduktion gehört die Herstellung von Leder zu den Industrien, die die Umwelt am schwersten belasten. Darum hat Geschäftsführer Schneider, der die Ledergerberei 1995 gründete, schon vor Jahren damit begonnen, seine Fabrik mit neuester Umwelttechnologie auszurüsten. Fast zwei Millionen Dollar investierte dafür der Unternehmer, der unter anderem Timberland sowie die Autohersteller Ford und Mazda beliefert. „Unsere Produktion hier in China ist umweltfreundlicher als manche Fabrik in Deutschland“, sagt Schneider. Ende Januar besuchte Umweltminister Sigmar Gabriel Isa Tantec in Guangzhou, um sich den Musterbetrieb anzusehen.

Doch trotz der hohen Umweltstandards haben Chinas Behörden kein Nachsehen mit Schneider. Als die Regierung im vergangenen Jahr beschloss, umweltbelastenden und energiefressenden Unternehmen die Steuervorteile zu streichen, hörten sie sich Schneiders Erklärungen nicht einmal an. Mehrmals ist der Deutsche nach Peking gereist, um den zuständigen Regierungsstellen zu erklären, seine Gerberei sei kein Betrieb wie jeder andere – ohne Erfolg. Lederproduktion ist für die Beamten Lederproduktion; Unterschiede machen sie nicht. „Die Streichung hat unsere Kosten um 18 Prozent in die Höhe getrieben“, klagt Schneider nun.

Laptop-Produzent eröffnet Fertigung in Vietnam

Doch nicht nur die höheren Steuern, auch steigende Löhne und der ungünstigere Wechselkurs des Yuan vermiesen Schneider die Laune. Um zehn Prozent habe der starke Yuan die Produktionskosten hochschnellen lassen, außerdem habe er Anfang des Jahres die Löhne für seine Arbeiter um sieben Prozent anheben müssen. „Eigentlich müssten wir unseren Betrieb hier schließen“, sagt Schneider.

Noch hält der Deutsche aus und versucht, wie der Sportschuhhersteller Evervan, mit Korrekturen im kleinen Stil die Krise zu mildern. Schneider hat die Zahl der Mitarbeiter um 200 auf 800 reduziert; außerdem gibt die Werkskantine seit Kurzem nur noch zwei statt drei Mahlzeiten am Tag aus. Mittelfristig wird der Deutsche auf andere Standorte ausweichen, etwa Vietnam, wo er schon seit dem vergangenen » Jahr in einer Fabrik Leder produzieren lässt. Kürzlich hat er auch ein Grundstück in der Nähe von Ho-Chi-Minh-Stadt, dem früheren Saigon, gekauft, wo er nun ein eigenes Werk baut. „Dort sitzen einige unserer Kunden“, sagt Schneider, „und weil es zu teuer ist, aus China heraus zu exportieren, fertigen wir eben dort.“

Auch große Unternehmen schauen auf der Suche nach Alternativen auf den kleinen Nachbarn im Süden. So will der Chipkonzern Intel für eine Milliarde Dollar eine Fabrik in Vietnam bauen, in der 4000 Leute arbeiten sollen. Der taiwanische Elektronikproduzent Foxconn, der für fast alle großen Anbieter Handys fertigt, will binnen fünf Jahren fünf Milliarden Dollar dort investieren. Wistron, einer der größten Laptop-Produzenten der Welt, werde demnächst ebenfalls eine Fertigung in Vietnam eröffnen, sagt Vorstandschef Simon Lin.

Doch eine Verlagerung von China in andere Länder der Region schafft oft neue Probleme. „Kostenmäßig ist beispielsweise Vietnam sicherlich sinnvoll“, sagt Ivo Naumann, Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft AlixPartners in Shanghai. Aber gerade bei komplizierteren Fertigungen, etwa in der Automobilindustrie, komme es darauf an, die gesamte Zulieferindustrie vor Ort zu haben. „Die aber ist in diesen Ländern häufig noch nicht vorhanden“, sagt Naumann. Einfache Produktionen wie die Herstellung von Textilien können dagegen problemlos beispielsweise „nach Bangladesch oder in andere Länder verschoben werden“.

Evervan-Vizechef Huang nimmt neben Vietnam und Indonesien derzeit auch Indien unter die Lupe. „Die Arbeitskosten sind dort deutlich niedriger“, sagt der Manager. Zudem richtet die indische Regierung im ganzen Land Sonderwirtschaftszonen ein, in denen Investoren Steuervorteile genießen. „Das Problem ist aber“, sagt Huang, „dass wir auch die Zulieferer brauchen. Die gibt es in vielen Landesteilen noch nicht.“ Zudem seien die technische Ausbildung der Arbeiter und die Infrastruktur in China noch deutlich besser als in Indien.

Adidas-Shop in Peking Quelle: REUTERS

Trotz der Standortvorteile, die China gegenüber anderen Ländern immer noch hat, ist die Regierung in Alarmbereitschaft. Mehrere hochrangige Politiker, darunter auch Premierminister Wen Jiabao, reisten kürzlich durch die Exportzentren im Osten und Süden. Sie wollten sich in den Betrieben über das Ausmaß der Krise informieren, denn die Sorge ist groß, dass Chinas wirtschaftliche Entwicklung stockt.

Inzwischen gibt es erste Zeichen, dass die Behörden für zumindest leichte Entspannung sorgen könnten. So berichteten staatliche Medien, einzelne, bereits gestrichene Steuervergünstigungen könnten wieder eingeführt werden. Auch beim Wechselkurs des Yuan könnten die Behörden Entgegenkommen zeigen. „Das Schrumpfen der Exportzuwächse und des Handelsbilanzüberschusses dürften dazu führen, dass das Tempo der Yuan-Aufwertung in der zweiten Jahreshälfte deutlich gedrosselt wird“, sagt Sun Mingchun, Analyst bei Lehman Brothers in Hongkong.

Gut möglich, dass der Ausweg für China ganz woanders liegt, dass die Krise der Niedriglohnfertigung nur eine weitere Wachstumswelle des Riesenreichs antreibt. Denn mit der Rolle als verlängerter Werkbank der Weltwirtschaft gibt sich das Land nicht mehr zufrieden. Schon seit einiger Zeit versucht die Regierung forschungsintensivere Industrien mit höherer Wertschöpfung zu fördern.

High-Tech-Industrie genießt Steuervorteile

Unternehmen der High-Tech-Industrie genießen nach wie vor weitreichende Steuervorteile und bekommen Subventionen. Billigproduzenten aus der Textil- oder Spielzeugindustrie möchte die Regierung dagegen am liebsten aus dem reichen Osten des Landes in den unterentwickelten Westen verschieben. „Die Regierung will, dass die Provinz Guangdong nicht mehr länger Billigfertigung macht“, sagt AlixPartners-Geschäftsführer Naumann, „sondern in die höherwertige Produktion geht.“ Gelingt ihr das, wird es für westliche Unternehmen und Standorte eng. Heerscharen bestens ausgebildeter Ingenieure und Wissenschaftler verlassen Jahr für Jahr Chinas Eliteuniversitäten und brennen darauf, sich der globalen Konkurrenz zu stellen.

Es gibt erste Anzeichen dafür, dass Pekings Plan aufgehen könnte. Wie viele andere Unternehmer klagt auch Pan Fusheng über die rasant steigenden Kosten in Südostchina. Seit acht Jahren betreibt der Chinese in Shenzhen eine Fabrik mit 1000 Mitarbeitern, die Transformatoren vor allem für den Export herstellen. Kürzlich hat Pan eine neue Fabrik in der Provinz Jiangxi weiter im Landesinneren eröffnet. Bis Ende des Jahres soll die Zahl der Arbeiter dort von 100 auf 1000 steigen. Die Belegschaft in Shenzhen will Pan dagegen runterfahren. „Die Arbeitskosten in Jiangxi sind 20 Prozent niedriger“, sagt der Firmenchef.

Gleichzeitig lassen sich dort, wo Pan jetzt noch billige Transformatoren baut, Unternehmen nieder, die in großem Stil Forschung und Entwicklung betreiben. Der Textilproduzent Fountain Set aus Hongkong etwa beschäftigt in der Region 100 Entwickler, die an neuen Verfahren zur Herstellung und zum Färben von Stoffen tüfteln. Vor zehn Jahren hatte das Unternehmen keinen einzigen Entwickler auf dem chinesischen Festland. „In der Vergangenheit kamen die Kunden aus der Bekleidungsindustrie mit genauen Spezifikationen der gewünschten Produkte zu uns“, sagt Direktor Gorden Yen, „jetzt fragen sie uns, was wir an Design und Entwicklung bieten können.“

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