Radrennen Selber fahren statt Tour de France

Am 5. Juli beginnt die Tour de France. Viele Radsportfans wenden sich enttäuscht ab. Immer mehr fahren lieber selbst mit – bei Jedermann-Rennen.

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Berlin Velothon Quelle: Arne Weychardt für WirtschaftsWoche

Sie sind über die Berliner Straßen gebrettert, über rote Ampeln hinweg und ungehindert von Bussen, Taxis oder Pkws. Keiner hat im strahlenden Sonnenschein geschwächelt, keine Reifenpanne die Gruppe aufgehalten. Jetzt sitzen die Hamburger Hobbyradler Mathias Mardt und seine vier Mitstreiter nach dem 1. Jedermann-Radrennen, dem Velothon, im Sand der Freiluftbar „Bundespressestrand“ gegenüber des Kanzleramts. Sie diskutieren bei Bier und Zigaretten die beeindruckende Kulisse entlang der Strecke mitten durch die Innenstadt von Berlin, die sie gemeinsam mit den 10 225 Startern passiert haben. Vorbei an Siegessäule und mitten über den Alexanderplatz. Mardt und seine Freunde sind zufrieden – und doch sind Zweifel, Spott und Verachtung, gut lesbar, auf jedem einzelnen der 105 Kilometer mitgefahren. Ihre roten Trikots hat die Truppe mit einem Zitat des Dopingsünders und Skilangläufers Johann Mühlegg versehen, der vor seiner Disqualifikation bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City sagte: „Ich warte erst die B-Probe ab.“

Eine ironische Anspielung auf die Entwicklung des Profi-Radsports, die den Nagel auf den Kopf trifft: Denn wenn am 5. Juli in Brest der Startschuss für die diesjährige Tour de France fällt, werden in Deutschland nur noch wenige Menschen den Auftakt des einst renommiertesten Radrennens der Welt am Fernseher verfolgen. Nach dem Sendeboykott wegen Dopings im vergangenen Jahr übertragen ARD und ZDF zwar wieder täglich im normalen Umfang, aber ARD-TourTeam-Sprecher Rolf-Dieter Ganz weiß: „Es braucht Jahre, bis das Vertrauen der Zuschauer in den Radsport wieder da ist.“

Auch Radsportfan Mardt lässt den Fernseher aus, weil es ihn und seine Kumpel nach all den Dopingvorfällen nicht mehr interessiert, wer gewinnt. Lieber steigt er selbst in den Sattel. Das nächste Mal am 7. September in Hamburg, zusammen mit gut 22.000 anderen Hobbyradlern, die das Glück hatten, einen Startplatz bei den Cyclassics zu ergattern. Denn die Tickets für das traditionsreiche Hobbyradrennen im Rahmenprogramm des Weltcuprennens waren bereits im Januar ausverkauft.

Profirennen darben, Hobbyrennen werden populärer

Profirennen darben, Hobbyrennen werden populärer. Das Rennen „Rund um den Henninger Turm“ sucht für 2009 händeringend einen Hauptsponsor, Volkswagen ist als Hauptsponsor der Niedersachsen-Rundfahrt ausgestiegen, dieses Jahr wurde das Rennen mangels Sponsoren abgesagt, ebenso wie die der Entega Grand Prix in Lorsch. Die erste Auflage des Berliner Jedermann-Rennen Velothon hat mehr Erfolg: Er soll nach dem Willen ihrer Veranstalter, nur als Skoda-Velothon bezeichnet werden. Zuschauen bei den Profis ist passé, selber radeln en vogue.

Guido-Christian Bock tut es am liebsten im Kreis seiner Freunde. Der Airbus-Controller trägt beim Rennen in Berlin ein Trikot mit weiß-blauen Rauten, die Brust trägt groß den Namen einer bayrischen Weißbierbrauerei. Gesponsert vom Wirt, bei dem das Team Weihenstephan nach dem Training oft einkehrt. Radfahren ist Ausgleichssport und als solcher Entspannung – aber bitte mit Anstrengung. „Wir sind keine Schönwetter-Bergab-Fahrer“, sagt Bock über sein Team, das seit 2002 jedes Jahr an Deutschlands großem Jedermann-Rennen teilnahm, den Cyclassics in Hamburg. Für Bock war der 133. Platz, den er sich mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 39,95 Kilometer pro Stunde über die Distanz von 60 Kilometer erkämpfte, ein voller Erfolg. Die Radprofis sind bei den langen Rundfahrten zwar länger, aber kaum schneller unterwegs, die schnellste Tour de France absolvierten die Profis mit einem Schnitt von 41,7 Kilometer pro Stunde – ob allein mit reiner Muskelkraft, bleibt ungeklärt. Aber auch Hobbyradler erreichen in einem Pulk ungeahnte Tempi.

Dabei geht es auch um Mannschaftsgeist, denn nur eine Gruppe mit Zusammenhalt kann höhere Geschwindigkeiten erreichen als jeder Fahrer für sich allein. Mathias Dreyer konnte zusammen mit seinen Kollegen gar den Vorstand des Hamburger Finanzdienstleisters MPC Capital vom Firmenradsport überzeugen. Die Trikots übernahm das Unternehmen. Vor wenigen Jahren war es nur ein gutes halbes Dutzend, „jetzt sind mehr als 30 Fahrer dabei“, sagt Dreyer.

Fahren im Feld ist für viele Teilnehmer beim Velothon von Berlin eine neue Erfahrung. Was sonst an Winden auf Radfahrer einwirkt, scheint, umgeben von Dutzenden anderer Radfahrer, aufgehoben zu sein. Die Gruppe entwickelt eine Sogwirkung und reißt einen mit, allenfalls vergleichbar mit der Windschattenfahrt hinter einem Linienbus. Volle Konzentration ist dennoch jede Sekunde nötig. Denn egal, wie schnell man sich selber fühlt – andere sind schneller. Es wirkt, als würde auf allen drei Spuren in einer Autobahnbaustelle mit engen Fahrstreifen mindestens 150 Kilometer pro Stunde gefahren.

Und von hinten nähern sich die mit Tempo 180. Keine halbe Radlänge trennt Vorderrad und Hinterrad, zur Seite ist oft weniger Platz als in einem Fahrradständer. Eine Berliner Zeitung teilte an alle Teilnehmer bei der Anmeldung grüne Fahrradklingeln aus. Würden die Rennradfahrer sie benutzen, um sich Platz zu verschaffen, ein ohrenbetäubend bimmelnder bunter Bandwurm würde sich durch die Stadtteile Mitte, Charlottenburg, Zehlendorf, Neukölln und Tiergarten ziehen.

Wer bremst, wackelt oder ausweicht, der verliert: Tempo, Sicherheit und den Respekt der erfahreneren Radfahrer, die im Eifer des Gefechts hässliche Worte finden für die Fahrkünste der Debütanten. Radsport ist Kampf mit Adrenalin im Blut und Milchsäure in den Muskeln. Dazu kommen Hindernisse auf den Straßen. 14 Gefahrenstellen listete die Fahrerinformationen auf: Diagonal verlaufende Straßenbahnschienen bei Kilometer 31, schwer erkennbare Fahrbahnkanten bei 88 oder Fahrbahnverengungen bei 90,7. Nicht erwähnt sind all die Verkehrsinseln, auf die je einer der 1200 Streckenposten wie bei den Profis mit einer gelben Fahne wedelt, in blaue Müllsäcke gestopfte weiche Materialien sind die Pufferzone der Radrennens.

Sebastian Ackermann ist froh, heil durchgekommen zu sein. Bei Kilometer 30 spürte der Pressesprecher von RWE Energy in Dortmund eine Berührung am Hinterrad. „Als ich die Geräusche hinter mir gehört habe, bin ich weitergefahren.“ Helfen kann keiner, wenn sich die Rahmen ineinander verkeilen. Für Ackermann war die Premiere dennoch ein einzigartiges Erlebnis: „Allein Start und Zielankunft am Brandenburger Tor waren sehr beeindruckend“, sagt Ackermann, der die lange Strecke über 105 Kilometer gewählt hat und mit einem Schnitt von 39 Kilometern pro Stunde absolvierte. „Mir ist der Schnitt nicht wichtig“, sagt Ackermann, den es viel mehr reizte, „Berlin mal nicht im Anzug zu erleben“.

Kommendes Jahr möchte Ackermann jedoch genauer hinschauen: „Denn all die schönen Sachen in Berlin, die habe ich kaum mitbekommen. Dazu bin ich zu konzentriert und zu schnell vorbeigefahren.“

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