Rallye Düsseldorf - Shanghai Pest und Stöckelschuh

13.000 Kilometer durch Steppe, Wälder und Wüste: Die Rallye Düsseldorf - Shanghai verlangt Fahrern und Oldtimern das Äußerste ab.

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Der Gestank ist unerträglich. Abwasserkloaken und Müllberge tauchen rechts und links entlang der holprigen Straße auf, ein Hauch von Verwesung dringt ins Wageninnere. Hinter dem dichten Smog erscheint die Sonne wie ein fahle Scheibe. Bei 35 Grad Außentemperatur und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit hat Martin Westerhoff für diese Impressionen keinen Sinn. Wieder zieht der 26-jährige Westerhoff den Schaltknüppel mit einem Ruck nach unten in den zweiten Gang und lenkt seinen orangefarbenen Skoda 110 R auf die Überholspur. Das Gaspedal durchgetreten, bewegt sich die Nadel des Drehzahlmessers zügig Richtung 7000 Umdrehungen – tiefroter Bereich. „Das muss der Wagen aushalten“, sagt Westerhoff, während er bei etwa 80 Stundenkilometern in den dritten Gang schaltet und vorbeizieht an den beiden 30 Meter langen Schwertransportern, die gewaltige Brückenteile geladen haben. Westerhoff und sein Skoda Baujahr 1978 haben es fast geschafft. Etwa 30 Kilometer haben er und seine Beifahrerin Katrin Heß, 28, noch vor sich, dann wird sich in Shanghais schickem, neuem Stadtteil Pudong die Zielfahne über ihrem Auto senken. „Ein super Gefühl“ sei es, sagt Westerhoff, das „fast ohne große Zwischenfälle“ geschafft zu haben. 43 Tage ist es her, dass der junge Hamburger und seine Kollegin ihr Auto über die Startrampe in Düsseldorf vor der Unternehmenszentrale des Sponsors ThyssenKrupp gefahren haben. 12.689 Kilometer lagen da noch vor ihnen und den 23 weiteren teilnehmenden Teams. Mindestens 20 Jahre alt müssen die Fahrzeuge sein, einige haben weit mehr Jahre auf dem Blechbuckel. Zum diesjährigen Tross gehören ein Heckflossen-Mercedes in edlem Anthrazit aus dem Jahr 1964, ein Ford B 13/50 Rheinland Baujahr 1932, ein Porsche 911 von 1965, diverse Jaguar E-Typen, ein alter Feuerwehrwagen von der Insel Föhr sowie ein dunkelgrüner Bus aus dem Jahr 1977, der früher Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes transportiert hat. Sie alle fahren auf der gleichen Route nach China – über Hamburg nach Kiel, um von dort mit der Fähre überzusetzen nach Lettland, von dort weiter nach Estland und Sankt Petersburg, schließlich durch die Weiten Sibiriens und die Mongolei weiter nach China: erst nach Peking und dann zum Ziel nach Shanghai. Erstmals ausgetragen wurde die Rallye zwischen Europa und China vor 100 Jahren: Die Pariser Zeitung „Le Matin“ schrieb das Rennen 1907 aus. Knapp 15.000 Kilometer sollte die Strecke lang sein. Von vernünftigen Straßen konnte damals noch keine Rede sein, das Benzin musste eigens in Depots entlang der Route in der Mongolei und Sibirien gelagert werden, selbst diplomatische Verwicklungen galt es zu überwinden. Fünf Autos machten sich am 10. Juni 1907 schließlich auf die beschwerliche Reise. Die Teilnehmer vereinbarten, mit allen Wagen im Konvoi zu fahren, damit man sich gegenseitig helfen konnte. In den ersten sieben Tagen schafften die Autos nur 300 Kilometer, mehr mit Menschenkraft gezogen und geschoben als durch die Motoren. Auch 100 Jahre nach der Premiere finden sich genügend Männer und Frauen, die bereit sind, für die Strapazen 9000 Euro Startgebühr zu zahlen. Neben Westerhoff sind das Leute wie Klaus Fabisch, der zusammen mit Teamkollege Rainhard Hainbach in einem BMW 2002 aus dem Jahr 1972 an den Start geht. Dass Fabisch überhaupt noch lebt, ist Glück. Vor fünf Jahren stellte ein Arzt bei ihm Krebs fest und gab ihm maximal fünf Jahre. „Aber ich habe die Krankheit vorerst besiegt“, sagt Fabisch, der 1979 Deutscher Rallyemeister wurde. „Jetzt meinte meine Frau, ich solle doch noch einmal Rallye fahren.“

Auch Nichtprofis wie Jürgen Erlebach aus Düsseldorf, der sich im Internet eigens für die Rallye einen Opel Diplomat, Baujahr 1970, gesucht hat, reizt das 13.000-Kilometer-Rennen. Gut 5000 Euro zahlte der Chef einer Werbeagentur für den Oldtimer, hergeben will er ihn nicht mehr. Und dann Heidi Hetzer: Kettenraucherin mit blondiertem Haar, tief gebräunter Haut und knallrot geschminkten Lippen. Die Opel-Händlerin aus Berlin besitzt 24 Oldtimer und ist auf allen Rallyestrecken dieser Welt zu Hause. Angefangen hat Hetzer vor langer Zeit mit dem Motorroller-Rennen „Rund um die Müggelberge“ in der DDR. Später fuhr sie die Rallye Monte Carlo und die Carrera Panamericana in Mexiko. „Ich brauche die Anstrengung und die Herausforderung“, sagt Hetzer, die mit einem 43 Jahre alten Opel Rekord in Düsseldorf losfährt. Später, beim Zwischenstopp in Peking, wird sie zum Besteigen der Chinesischen Mauer Stöckelschuhe anziehen, „weil ich es mir gern schwer mache“. Irgendwo am Baikalsee in Ostsibirien wird die resolute Berlinerin dann ihre Beifahrerin, die sie erst beim Start kennengelernt hatte, aus dem Auto jagen. „Über 7000 Kilometer hat sie kein Wort gesagt“, so Hetzer, „das hält man nicht aus.“ Die Beifahrerin muss den Rest der Strecke in einem der Begleitfahrzeuge mitfahren, „während des gesamten Rennens hat kein anderer das Lenkrad meines Autos berührt“, wird die 70-Jährige im Ziel verkünden: „Ich bin die Strecke alleine gefahren.“ Im kommenden Jahr will sie bei der Rallye Dakar antreten. Nur eine Reifenpanne, eine defekte Benzinpumpe und der Ausfall der Lichtmaschine machen der Opel-Fahrerin unterwegs zu schaffen. Die Teile haben die mitfahrenden Mechaniker schnell repariert. Andere haben größere Probleme. Kaum sechs Tage alt ist die Rallye, da steht auf einmal irgendwo vor St. Petersburg eines der Fahrzeuge in Flammen. Zwar können nebenherfahrende Kollegen den Porsche 356, Baujahr 1954, schnell löschen. Doch für Fahrer Jens Richter ist das Rennen gelaufen. Er hat sich den Arm so schwer verbrannt, dass er die Heimreise antreten muss. Das Wrack wird nach Deutschland verschifft. Turbulent wird es unterwegs auch für Skoda-Fahrer Westerhoff und seine Beifahrerin Heß. St. Petersburg und Moskau, wo alle Teams je einen Tag Pause für Besichtigungen einlegen, haben die beiden hinter sich gelassen, als sich ihnen die scheinbar endlose Straße Richtung Osten öffnet. Mit einer Spur für jede Richtung zieht sich die Piste mit bis zu 30 Zentimeter tiefen Schlaglöchern parallel zur Transsibirischen Eisenbahn. Der Gegenverkehr besteht hauptsächlich aus schweren Trucks. Sie donnern mit Waren aus Japan vom Hafen Wladiwostok in Richtung Westrussland. Dazwischen fahren immer wieder Pkws mit einem zweiten Auto im Schlepptau. Die Frontpartien der Wagen haben die russischen Fahrer mit dicker Plastikfolie und Spanplatten verkleidet, um sie vor herumfliegenden Steinen zu schützen – Gebrauchtwagen, die von Japan nach Russland verkauft werden.

Als Westerhoff einen der Lastwagen überholen will, rast auf der Gegenspur ein anderer Truck auf den orangefarbenen Skoda des Deutschen zu. Rechts wieder einscheren ist unmöglich, Westerhoff steigt kurz und kräftig in die Bremsen und lenkt seinen Wagen in den Graben neben der linken Fahrspur. Der Schock hält bei den beiden nur kurz an. Dann winkt Beifahrerin Heß einen russischen Kleinlaster heran, der den Skoda aus dem Graben zieht. Es sind nicht nur der Verkehr und die widrigen Straßenverhältnisse, die den Fahrern aus Deutschland in Russland zu schaffen machen. Oft kommen sie nach bis zu zwölf Stunden Fahrt durchgeschwitzt und erschöpft an Etappenzielen wie Omsk, Nowosibirsk oder Krasnojarsk an. Doch statt einer erfrischenden Dusche, ergießt sich bisweilen im Bad des Hotelzimmers aus einem Röhrchen in der Wand nur dunkelbraune Brühe. „Wenn man dann auch noch feststellt, dass das Restaurant geschlossen ist, sinkt die Stimmung gegen null“, sagt Westerhoff. Doch dann findet sich irgendwo ein Hotelangestellter, der den Kühlschrank der Bar wieder aufschließt und den Fahrern bis spät in die Nacht Bier verkauft. Am nächsten Morgen geht es weiter, immer Richtung Osten durch die Tiefen Sibiriens. Eintönig zieht sich für Tausende von Kilometern die Schlaglochpiste durch die Birkenwälder Russlands. „Irgendwann“, sagt ein Fahrer, „will man keine Birken mehr sehen – wenn ich nach Hause komme, werde ich die in meinem Garten alle fällen.“ Hinzu kommt, dass die tiefen Löcher in der Straße die Stoßdämpfer der Wagen bis an die Grenze der Belastbarkeit beanspruchen. Bei einem BMW schlägt ein Stoßdämpfer schließlich durch die rechte Seite der Motorhaube. Die beiden Mechaniker schaffen es, den Wagen notdürftig zu reparieren. Der BMW bleibt im Rennen und donnert zusammen mit den anderen Fahrzeugen weiter in Richtung Mongolei. Die Jurten – große Rundzelte aus mehreren Lagen Filz –, in denen Westerhoff und die anderen Fahrer dort übernachten, sind angenehmer als die Hotels in Russland. Probleme macht dagegen wieder eines der Fahrzeuge: Der Feuerwehrwagen mit Fahrer und Rennarzt Helmut Marczinkowski will nicht mehr, die Kühlung versagt. Auch die beiden Mechaniker sind hilflos, es fehlt an Ersatzteilen. Schließlich bringt Marczinkowskis Sohn Hauke, der per Flugzeug in Ulan Bator zu den Rallyefahrern stößt, die fehlende Halterung für den Kühlerventilator aus Deutschland mit. Doch als es für die Rallyefahrer weiter Richtung Süden zur chinesischen Grenze geht, werden sie wieder aufgehalten. In der Mongolei ist die Murmeltierpest ausgebrochen. Stundenlang halten Männer in weißen Schutzanzügen die Deutschen fest. Alle Wagen werden rundum desinfiziert. Schließlich geben die mongolischen Quarantäne-Mitarbeiter den Fahrern noch die Anweisung mit, ihre Autos für die nächsten 100 Kilometer nicht mehr zu verlassen. Vor Westerhoff und den anderen Rallyeteilnehmern tut sich die Wüste Gobi auf – Kies und Schotter, so weit das Auge reicht. Kein Haus, kein Mensch, kein Hinweisschild bieten den Fahrern Orientierung. Nur drei kaum wahrzunehmende Pisten erkennen sie im Schotter. Alle führen in unterschiedliche Richtungen. Jetzt helfen auch die mitgebrachten Straßenkarten nicht mehr. Westerhoffs Beifahrerin muss den Kompass bemühen. Die beiden entscheiden sich für die rechte Piste. Sie führt laut Kompass Richtung Süden, nächstes Etappenziel ist Peking. Kurz vor der chinesischen Hauptstadt stockt der Konvoi der deutschen Rallyefahrer erneut. Tausende Lkws blockieren die Hauptzufahrtstraße. Wegen der permanenten Staus in Peking dürfen Lastwagen, so sehen es die Pekinger Vorschriften vor, erst nach 23 Uhr in die Innenstadt einfahren. Bis dahin vertreiben sich die chinesischen Fahrer mit Kartenspielen die Zeit. Für die Deutschen geht es weder vor noch zurück. Allmählich senkt sich die Sonne, und die Fahrer haben Sorge, ob sie ihr Quartier in Peking später finden werden.

Erleichterung macht sich erst breit, als ein chinesischer Pkw-Fahrer anbietet, den Deutschen eine andere Route zu zeigen. Vorbei an riesigen Obstplantagen führt sie das Auto durch die tiefschwarze nordchinesische Nacht. Später geht es mitten durch großzügige Villensiedlungen mit wohlklingenden Namen wie „Chateau de Plaisir“ oder „Jackson Hole“. Weit nach Mitternacht erreichen die Fahrer schließlich ihr Quartier. Nach einem Tag Erholung machen sie sich auf die letzte Etappe: Über Datong und Xuzhou fahren die Oldtimer Richtung Shanghai. Kurz vor der Einfahrt in die ostchinesische Metropole wird Westerhoff allerdings noch einmal nervös. Schon seit mehr als einer halben Stunde steht die Nadel der Tankanzeige tief unter null, doch eine Tankstelle ist weit und breit nicht in Sicht. Der junge Deutsche muss schließlich halten und Benzin aus dem Kanister nachfüllen. Jetzt nur den Motor nicht ausgehen lassen. „Dreckiger Sprit in Russland hat mir den Luftfilter versaut“, sagt Westerhoff. „Wenn der Motor jetzt ausgeht, springt er wahrscheinlich nicht mehr an.“ Also tritt Copilotin Heß das Gaspedal halb durch, während der 26-Jährige Benzin nachfüllt. Die Operation gelingt, Westerhoff und seine Beifahrerin donnern durch dichten Smog in die Stadt. Dort sind ein wenig früher bereits die meisten anderen Autos angekommen. Sieger in der Touringklasse wird schließlich Opel-Fahrerin Heidi Hetzer. Den Preis in der Rallyeklasse teilen sich die BMW-Piloten Fabisch und Hainbach mit zwei anderen Teams. Eine separate Auszeichnung als „Sieger der Herzen“ bekommen Westerhoff und sein 29 Jahre alter Skoda. Das Auto hat gerade mal 52 PS und ein Tankvolumen von 27 Litern. „Es überhaupt bis hierher geschafft zu haben“, so die Jury, „ist eine unglaubliche Leistung.“

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