Riskante Expansion Billigriese Netto lehrt die Discounter das Fürchten

Innerhalb weniger Jahre hat es der Lebensmitteldiscounter Netto vom Provinzkrämer zur nationalen Billigmacht gebracht. Doch die schwindelerregende Expansion der Edeka-Tochter steht auf brüchigem Fundament: Preisschlachten, Brutalo-Management und interne Grabenkämpfe gefährden das Wachstum. Fährt der Billigheimer den richtigen Kurs?

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Das Netto-Logo Quelle: Martin Hangen für WirtschaftsWoche

Es war kurz vor Ladenschluss an einem Samstag im Juni, als der 1,85 Meter große Mann die Netto-Filiale im Kölner Stadtteil Porz betrat. Der korpulente Herr im hellen Trenchcoat stellte sich als Revisor aus der Zentrale vor und forderte das Personal auf, an einer unangekündigten Überfallübung teilzunehmen. "Zum Test", wie er sagte, zückte er eine Waffe und kommandierte alle Mitarbeiter zum Tresor. Dort kauerten sich die Filialkräfte weisungsgemäß auf den Boden, während der Fremde in Seelenruhe den Geldschrank leerte und mit den Tageseinnahmen von dannen zog. Inzwischen hängt zwischen Hochglanzbildern von Rinder-Saftbraten und Stellenangeboten in etlichen Filialen auch eine Phantomzeichnung des bärtigen Räubers. Mindestens neun Märkte soll der Mann geplündert und dabei mehr als 200.000 Euro erbeutet haben – netto, versteht sich.

Kritik - Eine nicht geförderte Tugend

Egal, ob in Köln oder Düsseldorf, im niedersächsischen Bomlitz oder im baden-württembergischen Ditzingen, überall hielten die Mitarbeiter der Netto-Filialen den Revisor von der Zentrale, seinen Auftritt und seinen Kommandoton für echt – und fügten sich widerstandlos. Keine kritische Frage, nicht einmal eine Bitte, einen Firmenausweis vorzuzeigen – Kritik, selbst leises Infragestellen von Anweisungen gehören einfach nicht zu den geförderten Tugenden bei Netto.

Dabei braucht der Discounter eigentlich nichts so dringend wie Widerspruchsgeist, Kreativität und Mut bei den Mitarbeitern. Denn das Unternehmen steht an einem Wendepunkt. Mit der Übernahme von mehr als 2300 Filialen des Tengelmann-Discounters Plus Anfang 2009 spielt Netto inzwischen klar in der Champions League des deutschen Einzelhandels. Die frühere Randerscheinung mit Sitz im Industriepark Ponholz bei Regensburg stieg vom Krämer aus der Oberpfalz zur nationalen Discountmacht auf.

Gerade wurde der Umbau der letzten Plus-Filialen abgeschlossen. Der gelb-rote Schriftzug Netto Marken-Discount prangt jetzt an 4000 Verkaufsstellen in Deutschland – das sind mehr Läden als Lidl hierzulande betreibt. Nettos Mitarbeiterzahl rangiert auf Aldi-Niveau. Nur beim Umsatz liegen Aldi und Lidl deutlich vorn. Doch mit dem Supermarktimperium Edeka als Haupteigentümer im Rücken verfügt Netto über eine gewaltige Einkaufsmacht.

Das Ziel ist klar: "Wer gibt sich mit der Position drei zufrieden?", fragt Edeka-Chef Markus Mosa bereits in Richtung Lidl. Eine Antwort scheint überflüssig: Die weitere Expansion und der Angriff auf Lidl sind die Richtung, in die Netto in den kommenden Jahren marschiert. Den Auftakt dürfte in den nächsten Monaten eine breit angelegte Werbekampagne machen.

Vom Provinzkrämer zur Billigmacht

Eine Imagepolitur täte auch aus anderen Gründen not: Der ruppige Umgang mit dem Personal ruft nicht nur schauspielernde Kriminelle auf den Plan, sondern wird zunehmend zum Geschäftsrisiko. Mitarbeiter klagen über die Sparwut in den Filialen, Brüllattacken von Vorgesetzten und ein immenses Arbeitspensum.

Dabei wären gerade jetzt Engagement und frische Ideen gefragt. Denn das -Fundament, von dem aus Netto-Chef Franz Pröls zur Jagd auf Lidl bläst, ist brüchig. Die Strategie, wie Lidl mit preiswerten Markenartikeln die Kunden indie Läden zu locken, stößt auf massive Gegenwehr:

Seit sich Netto als Deutschlands neuer Billiggigant formiert, hat Aldi die Preise seiner Artikel, zum allergrößten Teil Eigenmarken, weiter gesenkt. Gleichzeitig heizt Lidl die Preisschlacht bei den Markenartikeln an. Das lässt Umsätze und Margen erodieren.Auch bei seinem Eigentümer Edeka gerät Netto unter Druck. Deutschlands größter Lebensmittelhändler ist genossenschaftlich organisiert, gehört also letztlich den vielen selbstständigen Edeka-Kaufleuten. Die erfreut die Billigtochter derzeit ähnlich wie eine Schar Flaschensammler am Leergutautomaten. Denn mit dem breiten Sortiment ist Netto einer der schärfsten Konkurrenten ihrer Supermärkte. Will Edeka-Chef Mosa eine Rebellion seiner Kaufleute verhindern, muss Netto Jahr für Jahr satte Gewinne überweisen.Gleichzeit brodelt es bei Netto gewaltig. Trotz des gewaltigen Wachstums in den vergangenen Jahren blieben die Führungsstrukturen die alten. Seit Jahren steht die gleiche Mannschaft auf der Kommandobrücke – und wirkt zunehmend überfordert. Rund zwei Dutzend ehemalige und aktuelle Mitarbeiter bezeichneten die Unternehmenskultur gegenüber der WirtschaftsWoche als "miserabel". Der Kostendruck sei immens, der Umgangston rau und die Befehlskette zu lang, heißt es aus allen Hierarchieebenen. Vor allem früheren Plus-Angestellten schlägt die oberpfälzische Hemdsärmeligkeit aufs Gemüt. Viele Spitzenkräfte suchten das Weite – hält der Exodus an, droht Netto ein veritables Führungsproblem.

Unternehmenschef Franz Pröls ficht das offenkundig nicht an. Alles sei im Lot, ist der Tenor seiner Aussagen im Interview mit der WirtschaftsWoche. Nach der Umstellung der alten Plus-Läden auf Netto, einer "Herkulesaufgabe", die unter Einsatz von 250.000 Schrauben, 245.000 Litern Farbe und 220 000 Metern Tapete gewuppt worden sei, liefen dieGeschäfte besser als erwartet. Mit elf Milliarden Euro Umsatz erzielte Netto 2009 rund 170 Millionen Euro Gewinn, berichtet das Fachblatt "Lebensmittelzeitung". In den umgebauten Filialen ist der Umsatz laut Pröls um zwölf Prozent gestiegen.

Netto-Filiale in Bayern Quelle: Martin Hangen für WirtschaftsWoche

Das dürfte auch daran liegen, dass Netto mit 3500 unterschiedlichen Artikeln das größte Sortiment aller Discounter bietet. Selbst Bier in Mehrwegflaschen und regionale Produkte finden sich in den Regalen. In den aufgeräumten Großfilialen am Stadtrand oder auf dem platten Land besitzt ein solches Konzept durchaus Charme. Die Kunden finden alles, was sie brauchen, ohne anschließend noch zum Supermarkt fahren zu müssen. Selbst Schmelzfett, Mehl in der Großpackung und halbe Schweine am Schlachttag gehörten bis vor ein paar Jahren zu den Standards in der wöchentlichen Werbung.

Doch spätestens mit der Übernahme von Plus änderte sich die Stimmung in den Netto-Läden. Die zahlreichen dazu gekommenen wuseligen Einkaufsbunker in den Innenstädten ließen die Sortimentsvielfalt an bauliche Grenzen stoßen. Zugestellte Gänge und kreischend rote Aktionsschilder machen kleine Filialen zu einem wahren Einkaufslabyrinth. Viele Kunden sind verwirrt: Die Öffnungszeiten der Märkte unterscheiden sich mitunter von einer Straßenkreuzung zur anderen. Zudem macht sich im Norden und Osten neben dem Netto mit rot-gelbem Schriftzug eine Netto-Ladenkette mit schwarzem Hund im Logo breit. Die zurzeit rund 300 Filialen des gleichnamigen Konkurrenten gehören mehrheitlich dem dänischen Reederei-Konzern Moeller-Maersk.

Der Rotstift regiert

In den Geschäften selbst regiert trotz der Umbauarbeiten rigoros der Rotstift, berichten Mitarbeiter. In einigen Filiallagern soll etwa jede zweite Lampe abgeschaltet worden sein, um die Energiekosten zu drosseln. Vergilbte Pausenräume aus der Plus-Ära wurden vielfach nicht renoviert. Knausrig zeigte sich das Unternehmen auch bei der Arbeitskleidung: Pro Person seien gerade mal zwei leuchtend rote Netto-T-Shirts verteilt worden, klagt ein Kassierer aus dem Rheinland. Und das, obwohl die Zentrale doch immer so stolz auf ihre Frischekompetenz sei. Netto selbst begründet das Sparen an den Pausenräumen mit "Engpässen in den Umbaukapazitäten"; das Tragen von Netto-Shirts sei den Beschäftigten freigestellt. Ist das Gratis-Kontingent erschöpft, dürfen die Mitarbeiter "jederzei"“ weitere Shirts erwerben – "zu einem äußerst günstigen Preis".

Mit solch kleinlichem Gehabe sehen sich nicht nur Minijobber an der Kasse konfrontiert. Der rigide Kurs zieht sich durch das Unternehmen. So klingen die Klagen von Verkäuferinnen kaum anders als Beschwerden aus den Reihen der rund 600 Verkaufsleiter (VL) und 60 Gebietsverkaufsleiter (GVL), die in der Netto-Hierarchie über den Marktleitern stehen: Das Pensum sei kaum zu schaffen, die Gehälter unterdurchschnittlich und die Wertschätzung gering. Mal werde "gebrüllt wie im Zoo", mal würden Mitarbeitern Verzichtserklärungen für Überstunden vorgelegt, die sie dann – freiwillig versteht sich – unterschreiben dürfen. Vor allem frühere Plus-Kräfte, die aus alten Zeiten oft höher dotierte Verträge haben, fühlen sich unter Druck gesetzt.

Personalführung à la Kasernenhof? Online-Foren sind voll mit solchen Vorwürfen. Unternehmenschef Pröls verweist zwar darauf, dass es klare Überstundenregelungen gebe und in anonymen Foren, "vieles schnell mal geschrieben" werde. Doch so einfach kann Pröls es sich nicht machen. Die Arbeitsbedingungen rufen bereits die Gewerkschaft Verdi auf den Plan. "Es gibt immer wieder Beschwerden über Mitarbeiterdrill, unbezahlte Überstunden und falsche Bezahlung", sagt Ulrich Dalibor, Bundesfachgruppenleiter Einzelhandel bei Verdi. „Wir werden uns jetzt offensiver mit Netto befassen“, kündigt der Verdi-Funktionär an.

Brot-und-Butter-Geschäft

Keine Frage, Netto hat mit seinem Regime das Zeug, Lidl auch wegen des fragwürdigen Umgangs mit Beschäftigten Konkurrenz zu machen. So erhielten Verkaufsleiter aus der Region Verden in Niedersachsen im März eine E-Mail ihres Gebietsleiters mit der Betreffzeile: "Meldung kritisch beurteilter MA“, MA steht für Mitarbeiter. In dem Schreiben heißt es: "Sie hatten von mir die Aufgabe gestellt bekommen, Ihren Mitarbeiterstamm kritisch zu prüfen und mir die drei problematischsten MA in einer Übersicht zu melden." Und weiter: "Ergänzen Sie diese Meldung bitte um die konkret von Ihnen geplanten Schritte, wie Sie die Freisetzung erreichen wollen."

Wenig später folgte der nächste Brandbrief: "Die Personalkostenlage in unserem Gebiet ist nach wie vor katastrophal [...] Definieren Sie für Ihren Bezirk daher jeder 10 kurzfristig einzusteuernde Maßnahmen", um "die Kosten zu senken". Diese Maßnahmen würden Mitarbeitergespräche zur Stundenreduzierung beinhalten ("meist mehrfach nötig"), zudem sollten alle befristeten Verträge auslaufen, teure Überstunden von Marktleitern seien ohnehin "verboten!". Schließlich müsse die "Umbesetzung von Problemmitarbeitern in Filialen", erfolgen, "bei denen Sie die Unterstützung des ML (Marktleiters) haben, um eine Freisetzung zu unterstützen".

Mit dem Rücken zur Wand

Im Klartext: Zu teure oder unliebsame Mitarbeiter sollten in Märkte abgeschoben werden, in denen sie gezielt gemobbt werden können, bis sie aufgeben und gehen. So zumindest interpretiert einer der Empfänger den Inhalt der E-Mail.

Netto-Chef Pröls bestreitet dies. Es habe keine Anweisungen gegeben, Beschäftigte aus dem Unternehmen zu drängen. Dass "Vorgesetzte in Einzelfällen über die Stränge schlagen", sei bedauerlich, lasse sich bei der Größe des Unternehmens aber nicht immer vermeiden.

Offenbar aber stehen einige Gebietsverkaufsleiter selbst derart unter dem Druck der Zentrale, dass sie mit ihren Untergebenen alles andere als fein umgehen. "Wir stehen hier mit dem Rücken zur Wand und müssen uns massiv bewegen", schreibt einer von ihnen, "bevor wir keine Gelegenheit mehr dazu haben." Auch ein "Leitfaden" der Zentrale mit Datum 9. September 2009 deutet darauf hin, dass die Verkaufsleiter angehalten wurden, Filialmitarbeiter von einer "Reduzierung der vertraglichen Arbeitszeit" zu überzeugen. Weigerten sich Filialmitarbeiter, sollte ihnen die Arbeitszeitreduzierung "als Alternative zu Versetzungen" erklärt werden – eine klare Drohung, bei Ungehorsam vielleicht in einen entlegenen Laden versetzt zu werden.

Offenbar ist in der Zentrale in Ponholz von der miesen Stimmung inzwischen so viel angekommen, dass zumindest die Verkaufsleiter entlastet werden sollen. Sie sind künftig nur noch für sechs Läden zuständig, bisher waren es bis zu acht. Auch die Ebene der Gebietsverkaufsleiter, über deren Abschaffung im Unternehmen spekuliert wurde, werde nicht angetastet, versichert Netto.

Das ändert aber nichts daran, dass in den einzelnen Läden die Angst vor der Zentrale zum Greifen ist. Denn Netto-Chef Pröls stattet mindestens 20 Netto-Läden pro Woche persönlich einen Besuch ab, Alarmstimmung ist garantiert.

Zentrallager in Ponholz Quelle: Martin Hangen für WirtschaftsWoche

Nicht viel anders geht es zu, wenn Pröls’ Adlatus Rudolf Mauser, der nationale Vertriebschef von Netto, sich auf den Weg zur Regalvisite macht. Wie Napoleon stürme "Mausi", so sein Spitzname bei den Beschäftigten, in die Märkte und zücke seine Kamera, um mögliche Mängel akribisch festzuhalten, erinnern sich ehemalige Verkaufsleiter. Wird "Mausi" fündig, gebe es richtig Krach. Im Zweifel würden die zuständigen Verkaufs- und Gebietsverkaufsleiter samt ihrem Vorgesetzten, dem Regionalvertriebsleiter, in die Zentrale beordert – gerne auch am Samstag ab sieben Uhr.

"Frühstück in Ponholz" heißt das Ritual intern, wobei der Geselligkeitsgrad überschaubar bleibt. Aufgetischt werden bei den Treffen gerne Filial-Fotos von gammligem Obst oder nicht ganz so frischer Wurst. Die Phonstärken der Ansprachen der Netto-Top-Manager seien legendär, berichten die Vorgeladenen. Die Redner selber empfinden das offenbar anders. "Da geht es nicht lautstark zu", sagt Netto-Chef Pröls, "sondern in einem vernünftigen Ton."

Möglichkeiten zum Vergleich fehlen

Möglicherweise fehlt es den Netto-Spitzenmanagern inzwischen an Möglichkeiten zum Vergleich mit anderen Unternehmen. Seit Jahren verändert sich kaum etwas in der personellen Zusammensetzung der Geschäftsleitung. Auch aus dem Plus-Management rückte niemand auf, und so blieben die Herren aus Ponholz unter sich. Claus Leitl kümmert sich um das IT-System, Martin Schnellinger steuert die Logistik, und Manfred Karl darf sich mit dem Titel Expansionsverantwortlicher schmücken. Netto-Chef Pröls zeichnet im Führungsquartett für Einkauf und Vertrieb verantwortlich. Er ist ein echter Veteran im Unternehmen. Pröls wechselte vor 26 Jahren von Edeka zu Netto und war schon bei der Eröffnung der ersten fünf Geschäfte des Billigheimers in Regensburg dabei.

Pröls führt zwar das Tagesgeschäft, die Richtung gaben jedoch stets andere vor: Heute wachen offiziell neun Verwaltungsräte über Netto, darunter etwa Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub, der Edeka-Aufsichtsratsvorsitzende Adolf Scheck und sein Vorstandschef Mosa.

Eine undurchsichtige Rolle bei Netto spielt aber nach wie vor Rudolf Schels, 61, der Gründer von Netto. Selbst Branchenkenner müssen bei dem Namen meist passen. Schels gehört zur Spezies jener Geheimniskrämer, die sich – wie Lidl-Gründer Dieter Schwarz oder der Drogist Anton Schlecker – aus der Öffentlichkeit fernhalten, deren Einfluss aber kaum zu überschätzen ist. Jahrelang prägte Schels Netto, bestimmte den Expansionskurs und die Führungsstruktur. "Wenn Schels gesagt hätte, wir sollen Schlitten verkaufen, dann hätten wir das gemacht – egal, ob Sommer oder Winter", beschreibt ein früherer Manager das Klima.

Obwohl Schels seine Netto-Geschäftsanteile schon vor Jahren verkauft hat, ist er bei Netto weiter präsent. Er führt die Geschäfte der Immobiliengruppe Ratisbona, die ihren Sitz direkt in der Netto-Zentrale hat. Die Gruppe ist nach eigener Darstellung einer der "führenden" Bauträger im Handel. In einer knapp drei Jahre alten Unternehmenspräsentation heißt es stolz, Ratisbona habe insgesamt 800 der damals 1300 Netto-Standorte errichtet.

Konkurrent Netto-Nord Quelle: Laif

Für Schels ist das ein lukratives Geschäft: Netto unterschreibt in der Regel Mietverträge mit 15 Jahren Laufzeit, Ratisbona sucht das Grundstück, baut den Markt und verkauft die Immobilie anschließend mit Aufschlag an private Investoren weiter.

Zwar sorgt die Nähe zur Ratisbona selbst unter Mitarbeitern der Netto-Expansionsabteilung für Irritationen. Die Konstruktion genießt jedoch den offiziellen Segen, da Edeka an Ratisbona mit zehn Prozent beteiligt ist. Weitere Anteile hält der Kaufmann Erwin Gradl, der Rest gehört Schels und seiner Familie. Existenzsorgen brauchen sie sich nicht zu machen: Ein Ende der Expansion von Netto ist nicht in Sicht.

Per saldo sollen jedes Jahr rund 200 neue Läden dazukommen. Geht es in dem Tempo weiter, könnte Netto bei der Filialzahl bis 2012 selbst Discountprimus Aldi hinter sich lassen, 2015 wären es sogar mehr als 5000 Märkte.

Pikante Mission

Branchenkenner sehen die Pläne skeptisch. "Ob sich das jemals lohnt, steht in den Sternen", sagt ThomasRoeb, Handelsexperte der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Im Schnitt kann schon heute jeder deutsche Haushalt innerhalb von zehn Minuten drei verschiedene Discounter per Auto erreichen. Bei Aldi läuft die Expansion im Heimatmarkt daher schon "seit Jahren auf Sparflamme", hat Roeb beobachtet. Sein Wachstumsheil sucht der Kultdiscounter im Ausland und hat sich zur Finanzierung gerade erst von umfangreichem Immobilienbesitz in Deutschland getrennt.

In der Edeka-Kaufmannschaft wächst auch vor diesem Hintergrund die Skepsis gegenüber Netto. Die Plus-Übernahme war ohnehin von Anfang an umstritten. Teile der 4500 selbstständigen Edeka-Kaufleute ärgert, dass sie für den Aufbau eines Rivalen sogar indirekt zur Kasse gebeten werden. Die mächtigen Edeka-Regionalgesellschaften müssen in den kommenden fünf Jahren auf Gewinnausschüttungen in Höhe von insgesamt 600 Millionen Euro verzichten, um per Kapitalerhöhung die Bilanz der Edeka-Zentrale in Hamburg zu entlasten. Deren magere Eigenkapitalquote von 14,6 Prozent schreckte bereits Banken auf. Die Plus-Akquisition ist auch ein finanzieller Kraftakt.

Einen hohen dreistelligen Millionenbetrag soll der damalige Edeka-Chef Alfons Frenk bezahlt haben, um den Mitbewerber Rewe im Bietergefecht um Plus auszustechen. Ein stolzer Preis, zumal Tengelmann mit 15 Prozent an dem neuen Schwergewicht Netto beteiligt wurde. Hinzu kommen immense Umbau- und Logistikkosten. Allein die Umstellung der Filialen schlug mit knapp 300 Millionen Euro zu Buche. Ob und wann die gemeinsamen Einkaufsvorteile von Edeka und Netto und die Discountgewinne die Investitionen aufwiegen, ist offen.

Schon wächst in der Kaufmannsgilde die Sorge, dass sich der Edeka-Vorstand zu stark auf Netto konzentriert. Im Vorstand kümmert sich Edeka-Primus Mosa um den Discounter und pendelt regelmäßig nach Ponholz, um Pröls und seine Mannschaft auf Trab zu halten. Eine pikante Mission: Vor zehn Jahren durfte Mosa noch als einfacher Controller bei Netto das Zahlenwerk beaufsichtigen. In rekordverdächtiger Geschwindigkeit stieg Mosa in die Netto-Chefetage auf, wechselte im April 2007 in den Edeka-Vorstand nach Hamburg und beerbte ein Jahr später Frenk als Vorstandschef.

Auf alte Loyalitäten kann Pröls dennoch nur begrenzt vertrauen. Falls Netto floppt oder auch nur schwächelt, muss Mosa schleunigst reagieren, will er nicht selbst seinen Job riskieren. Intern wird längst über mögliche Thronfolger für den 60-jährigen Pröls spekuliert. Als Favorit gilt Insidern Stefan Rohrer. Der Manager sei nur für eine Übergangszeit als Geschäftsführer in der Edeka-Region Nordbayern geparkt worden, heißt es.

Die Personalie wäre nicht frei von Ironie: Rohrer arbeitete jahrelang für Lidl – zuletzt als Vertriebsvorstand und galt schon dort als aggressiver Reformer. Vielleicht wäre er der richtige Mann, um das System Netto aufzubrechen.

Womöglich könnte der Discounter dann sogar die Plakatgestaltung in den Filialen wieder ändern: frisches Obst und saftiger Wacholderschinken statt bärtiger Räuber.

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