RWE-Chef Atomsaurier Jürgen Großmann kämpft um sein Erbe

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Fukushima starts health checks, Fukushima beginnt mit Reihenuntersuchungen der Bevölkerung, steht auf der Titelseite der Zeitung The Japan Times, die im Hotel in Tokyo jeden Morgen in einen Spalt neben den Zimmertüren geklemmt wird. Von einer unübersichtlichen Lage im Atomkraftwerk ist die Rede, von Tausenden Tonnen hochradioaktiven Wassers, das ins Meer fließen könnte. Die Zeitung bringt auch Fotos von Japanern, die in Tokyo gegen Atomkraft demonstrieren. Aber Jürgen Großmann interessiert das nicht. Er läuft durch die Stadt wie durch einen Tunnel. Er sieht, was er sehen will: gesunde, elegant gekleidete Geschäftsleute.

Es gibt während der Reise nur zwei Dinge, die Jürgen Großmann von der japanischen Katastrophe mitbekommt. Das eine ist die Spendenbox für die Opfer des Unglücks, die auf dem Tresen an der Hotelrezeption wartet. Das andere sind die Öffnungszeiten der Hotelrestaurants. Weil das Land jetzt Strom spart, werden die elektrischen Geräte und das Licht später eingeschaltet.

An einem Abend in Tokyo setzt sich Großmann in die Hotelbar Highlander, sein Rückzugsgebiet in dieser Stadt. Ein Ort voll schöner Erinnerungen. Vor der Tür dieser Bar fragte er seine Dagmar vor einer Ewigkeit, ob sie ihn heiraten wolle. Die Frage kam damals für beide überraschend.

Überraschungen wenden sich gegen ihm

Jetzt haben sich die Überraschungen gegen ihn gewendet. Der Aufsichtsrat des Konzerns wird am 8. August zu einer Sondersitzung zusammenkommen, um über die Energiewende zu beraten, auch über ihn, Jürgen Großmann. Er ist in diesen Zeiten das falsche Gesicht, meinen seine Gegner im Konzern. Aber niemand von ihnen traut sich, es ihm offen zu sagen. "Jürgen, du machst alles richtig", erzählen sie ihm ständig. Keiner der Leute, die hinter seinem Rücken flüstern, wird ihn noch auf Knien darum bitten, seinen Vertrag als RWE-Chef zu verlängern. Im kommenden Jahr läuft er aus. Wer Großmanns Nachfolger werden soll, ist noch nicht bekannt, aber man wird diesen Menschen ganz sicher mit Großmann vergleichen, das Tuscheln wird weitergehen, und man wird sagen: Was für ein blasser Typ – gemessen an Jürgen.

Jürgen Großmann hat sich vor wenigen Monaten mit einem alten Freund getroffen, um über letzte Dinge zu sprechen. Der Freund soll einmal Großmanns Testament vollstrecken.

"Ich bin doch Vergangenheit"

Großmann wird sich in Deutschland von enttäuschten Arbeitern in abgeschalteten Atomkraftwerken Vorwürfe anhören müssen, die eigentlich der Regierung gelten. Er wird seine Biografie aus den Trümmern von Fukushima retten müssen. Eine Atomruine droht auch sein Leben zu verstrahlen. Wenn doch nur diese verfluchte Schutzmauer in Fukushima ein bisschen höher gewesen wäre. Gerd Jäger, der Fachmann für Kraftwerke bei RWE, hat es im Fettdruck in ein internes Papier geschrieben: "Der Unfall von Fukushima wurde nicht durch ein Restrisiko verursacht!" Der Wall gegen Tsunamis war neun Meter zu niedrig. Aber wer in Deutschland will das wissen?

Großmann lässt sich in einen Sessel sinken, er sieht erschöpft aus. "Was wollen Sie eigentlich von mir?", fragt er. "Ich bin doch Vergangenheit. Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen." Großmann lässt sich vom Kellner ein Glas Whiskey bringen, nimmt einen Schluck und redet von Millionenbeträgen, die er seinem Land geschenkt habe. Es geht viel durcheinander in diesem Moment. Dann fängt er an zu weinen und sagt: "Ich bekomme Morddrohungen." Er ballt die Hände, presst sie unter seine Augen und baut mit den Fäusten einen Damm gegen die Tränen. Er setzt noch einmal an, er will noch etwas sagen, aber es kommt nichts mehr heraus. Wie erschlagen liegt er da. Er ist eingeschlafen.

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