
Die Erwartungen sind hoch, als sich die Aufsichtsräte von Siemens an jenem Dienstag vor zwei Wochen zur Quartalssitzung treffen. Fast alle sind gekommen, nur eines der 20 Mitglieder fehlt: Allianz-Chef Michael Diekmann muss einer anderen Aufsichtsratspflicht nachgehen und auf der Lufthansa-Hauptversammlung in Köln Präsenz zeigen. So aufregend wie bei der Zusammenkunft der Siemens-Kontrolleure ging es da nicht zu. Auf die wartete schließlich in der Münchner Konzernzentrale am Wittelsbacherplatz ein Zwischenbericht der US-Kanzlei Debevoise & Plimpton – und der sollte Licht ins Dunkel des gigantischen Schmiergeldskandals bei Siemens bringen. Endlich sollten die Anwälte die Verantwortlichen für den größten Korruptionsfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte präsentieren.
Doch die große Enthüllung blieb aus. Viele neue Details erfuhren die Aufsichtsräte, doch die entscheidenden blieben ebenso verhüllt wie das – sonst altrosa leuchtende – Palais der Siemens-Zentrale, das gerade wegen Renovierung hinter riesigen weißen Planen tief verhüllt ist. Sechs Stunden lang, bis sieben Uhr abends, brüteten die 19 Aufsichtsräte im vierten Stock der Siemens-Zentrale über den neuesten Erkenntnissen von Debevoise.
Konkrete Namen von mutmaßlich Verantwortlichen aber? Fehlanzeige. Verdachtsmomente gegen ehemalige Vorstände – darunter auch Ex-Konzernchef Heinrich v. Pierer – wurden, so berichtet ein Teilnehmer, eher insinuiert denn ausformuliert. „Auch wir waren über das vorsichtige Vorgehen überrascht“, sagt der Aufsichtsrat. Einige „Klarnamen“ seien zwar tags zuvor dem Aufsichtsratspräsidium und dem so- genannten Compliance-Ausschuss präsentiert worden. Allerdings hätten diese wenigen Siemens-Kontrolleure eine Verschwiegenheitserklärung abgeben müssen.
Zu einer riskanten Hängepartie wird die Aufklärung des Korruptionsskandals dadurch. Beinahe täglich kommen neue Details über schwarze Kassen und ein weltweites Schmiergeldsystem heraus. Intern machen die Debevoise-Anwälte Druck und vernehmen Aussagewillige wie Verdächtige in der Manier von US-Staatsanwälten – teilweise mit von den Betroffenen als unfair und hart an der Grenze empfundenen Mitteln. Zugleich ist die für Siemens so wichtige außergerichtliche Einigung mit der amerikanischen Börsenaufsicht SEC in weite Ferne gerückt – und damit auch die Frage, » ob das an der New Yorker Börse notierte Unternehmen milliardenschwere Strafzahlungen leisten muss oder nicht. Die Verzögerung in den Verhandlungen mit der SEC hat ihren Grund offenbar auch darin, dass sich die Siemens-Kontrolleure bislang noch immer nicht zu Schadensersatzklagen gegen die Verantwortlichen des Korruptionssumpfs durchringen konnten.
Einen Schritt in diese Richtung hätte die Aufsichtsratssitzung Ende April bringen können. Schließlich fanden die von Siemens beauftragten US-Anwälte, wie der Konzern auch offiziell bestätigte, „in nahezu allen untersuchten Geschäftsbereichen und in zahlreichen Ländern Belege für Fehlverhalten im Hinblick auf in- und ausländische Korruptionsvorschriften“. Und dennoch: Konkrete Schlussfolgerungen seien „derzeit noch nicht möglich und Konsequenzen für Einzelpersonen noch nicht entscheidungsreif“ – sprich: Für Schadensersatzansprüche gegen einstige Spitzenmanager sei es zu früh.
Dabei, so berichtet ein Aufsichtsrat, sei klar, dass mehrere frühere Vorstände „nicht mehr weit weg“ von Schadensersatzklagen sind, das sei inzwischen „eher eine Frage des Wanns, weniger des Obs“. Denn Debevoise habe dem Aufsichtsrat vier Schmiergeldfälle in aller Ausführlichkeit dargestellt. „Der damalige Vorstand hätte bei jedem dieser Fälle auf vollständige Aufklärung drängen und das interne Anti-Korruptionssystem auf Wirksamkeit prüfen müssen“, so der Siemens-Kontrolleur. „Doch dies geschah nicht – ein deutliches Indiz, dass zumindest Teile des Ex-Vorstands hier versagt haben.“ Die letzten Details in Sachen Schadensersatz soll jetzt die Düsseldorfer Anwaltskanzlei Hengeler Mueller klären.
Ohne Schadensersatzklagen bleibt ein Vergleich mit der SEC und dem US-Justizministerium wohl Wunschdenken. Noch auf der Hauptversammlung Ende Januar hatte sich Aufsichtsratschef Gerhard Cromme optimistisch gegeben: „Diese Gespräche, so hoffe ich, könnten schon im Februar beginnen.“ Bei der Präsentation der Halbjahreszahlen einen Tag nach der Aufsichtsratssitzung Ende April waren die Verantwortlichen weitaus vorsichtiger. „Wir sind dabei, Verhandlungen mit der SEC zu initiieren“, so der für die Korruptionsbekämpfung zuständige Vorstand Peter Solmssen. Zwar gebe es Gespräche, deren Qualität wolle er aber nicht weiter charakterisieren. Auf gut Deutsch: Derzeit passiert nicht viel.
Das sieht man im Aufsichtsrat ähnlich. „Solange keine Schadensersatzklagen gegen Ex-Vorstände erhoben sind, wird die SEC keine Vergleichsverhandlungen beginnen“, sagt ein Kontrolleur. Denn die SEC stütze sich in ihrer Einschätzung weitgehend auf die Ermittlungsergebnisse der von Siemens beauftragten amerikanischen Kanzlei: „Letztlich fungieren die Debevoise-Anwälte wie eine Untersuchungsinstanz der Börsenaufsicht“, sagt der Aufsichtsrat. Da Debevoise die Hauptverantwortlichkeit im früheren Siemens-Vorstand sehe, mache sich auch die SEC diese Sichtweise zu eigen. Erst wenn Siemens eine bedingungslose Aufklärung inklusive Schadensersatzklagen betreibe, werde die SEC offener sein.
Die Zeit drängt auch aus einem anderen Grund: Je länger die amerikanischen Anwälte im Unternehmen sind, desto mehr wächst der Unmut über sie; die Untersuchungen werden für Siemens zur inneren Zerreißprobe. Schaffen die Debevoise-Anwälte in den Befragungen gerichtsverwertbare Fakten? Diese Frage stellen sich zur- zeit die verängstigten Siemens-Manager, die zum Termin mit der amerikanischen Rechtsanwaltskanzlei gerufen werden.
Viele sehen sich als Darsteller eines B-Movies aus dem Wall-Street-Milieu. Platz nehmen zur Vernehmung. Oder zum Gespräch? Nach allem, was jetzt aus dem Konzern sickert, sieht es eher nach Verhörkrieg aus. Lähmendes Entsetzen breitet sich unter leitenden Angestellten bei der Aussicht aus, Debevoise-Anwälten vom Schlag eines Bruce Yannett gegenüberzusitzen. Der war früher US-Staatsanwalt und Ermittler in der Iran-Contra-Affäre der Reagan-Regierung.
Siemens-Manager führen als Beleg für ihre Wehr- und Hilflosigkeit in den Befragungen an, dass sie nur auf ausdrücklichen Wunsch einen Übersetzer zur Verfügung gestellt bekommen. Was von den Ermittlern zu Protokoll gebracht wird, sehe der Befragte nicht. Gleichwohl werde das Protokoll zum Bestandteil etwaiger Prozessakten. Ein Antikorruptionsexperte bei Siemens erklärt zwar, dies sei „doch eher ein Vor- als ein Nachteil“. Denn wenn ein Befragter das Protokoll zu Gesicht bekäme oder gar unterschriebe, billigte er die darin gemachten Angaben. Vor Gericht könne er sich ohne Kenntnis dieses Dokuments viel besser verteidigen. Das jedoch wird von Siemens-Managern als Schutzbehauptung für ein viel zu brutales Vorgehen der Debevoise-Leute angesehen: „Hier werden in den Protokollen Fakten geschaffen, die gerichtsverwertbar sind“, heißt es im Umfeld des Siemens-Aufsichtsrates.
Bei Siemens wird Debevoise folglich mehr gefürchtet als die Staatsanwaltschaften München und Erlangen, die nach Aussagen eines Aufsichtsrats eher betulich zu Werke gehen. Die Folge: Unter dem Druck der bohrenden Fragen, so heißt es bei den Ermittlern, werden in den Verhören Namen genannt, von Siemens-Top-Managern, angeblich auch der von Pierer – dem einstigen Allstar der deutschen Wirtschaft.
Während jener Aufsichtsratssitzung vom 29. April fiel dagegen sein Name nicht explizit im Zusammenhang mit mutmaßlichen Verfehlungen. Nur indirekt sei von ihm die Rede, berichtet ein Teilnehmer: Eine der Kernaussagen von Debevoise sei gewesen, so erinnert sich ein Aufsichtsrat, dass der frühere Vorstand – mithin auch Pierer, der bis Ende Januar 2005 Vorstandschef war – von Schmiergeldzahlungen gewusst habe. Die Anwälte hätten Protokolle von Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen der Berichtsjahre 2003 und 2004 „in Ausrissen“ gezeigt, die belegen sollen, dass der Vorstand „sehr ausführlich“ von der Praxis der Schmiergeldzahlungen informiert worden sei. Pierer selbst hat bisher stets die Kenntnis von schwarzen Kassen bestritten.
Überdies soll Pierer zu Siemens-Mitarbeitern gesagt haben, dass ihn „solche Details“ nicht interessierten – so wird der Debevoise-Vortrag in Konzernkreisen widergegeben. Das wird von Pierers Anwalt Winfried Seibert zurückgewiesen: „Mein Mandant hat (solche) Aussagen nie gemacht.“ Bei Siemens heißt es zu den Ermittlungen offiziell: „Keine Angaben.“
Diese Ungewissheit setzt Pierer merklich zu. „Er wirkt wie ein gehetztes Tier“, beschreibt ihn ein Weggefährte. Der über ein Jahr dauernde Ermittlungsakt bei Siemens geht an dem sonst so nervenstarken Franken nicht spurlos vorüber. Denn schon keimen neue Vorwürfe auf: In Ermittlerkreisen, aber auch im Umfeld des Siemens-Aufsichtsratspräsidiums heißt es, dass Altvorstände und Altaufsichtsräte von Siemens massiven Einfluss auf die gefürchteten Gespräche mit den US-Anwälten genommen haben. Ein Wochenende vor den von Debevoise angesetzten Terminen könnten sich Siemens-Mitarbeiter bei diesen Altvorderen Rechtsrat holen, sogar das Frage- und Antwortspiel vorher üben. Dem Team um Debevoise-Anwalt Yannett, so wird berichtet, war die Einförmigkeit der Antworten aufgefallen. „Hat man sie vorher eingesungen, damit sie nichts Falsches sagen?“, fragt ein Siemens-Mitarbeiter. Pierer wehrt sich über seinen Anwalt Seibert auch hier massiv. Er habe „nie an einem Coaching teilgenommen“, wird gekontert. „Herr v. Pierer weiß auch nicht, ob es etwas Derartiges überhaupt gegeben hat.“
Die Einflussnahme selbst ist jedoch bei den Debevoise-Ermittlern schriftlich niedergelegt. Unter dem Druck der Gespräche mussten Manager laut Anwaltskreisen zugeben, dass sie in Coachings von ehemaligen Siemens-Aufsichtsräten und -vorständen präpariert worden seien.
Weitere verhüllende Planen legen sich so über die Schmiergeldaffäre. Gut möglich, dass das Palais am Wittelsbacherplatz nach der Renovierung längst schon wieder in Altrosa leuchtet – und die US-Anwälte drinnen immer noch zum Verhör bitten.