Spezial Logistik Weltweite Karawane

Mit dem Siegeszug der Globalisierung entdecken die Unternehmen Einkauf und Beschaffung rund um den Erdball als entscheidendes Instrument, um die Kosten zu drücken. Und die Konkurrenz auszustechen.

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Wenn Frank Haase an diesem Montag das Podium im Berliner Nobelhotel InterContinental erklimmt, wird die Stimmung bei einigen Zuhörern auf Gefriergrade sinken. Der Einkaufsleiter der chinesischen VW-Tochter Shanghai Volkswagen hat sich vorgenommen, nicht als Charmebolzen aufzutreten, sondern knallhart Klartext zu reden: „Wir sortieren die deutschen Anbieter aus“, wird der Volkswagen-Manager sagen – „die meisten werden nicht folgen können.“ So mancher Unternehmer und Chefeinkäufer, der Haase auf dem Jahressymposium des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) diese Woche in Berlin lauscht, muss fürchten, zu den Aussortierten zu gehören. Denn Europas größter Autobauer hat seinen beiden chinesischen Standorten Peking und Shanghai ein hartes Sanierungsprogramm namens „Olympic“ verordnet. Bis 2008, wenn im Reich der Mitte die Olympischen Sommerspiele laufen und VW als einer der Hauptsponsoren mitwirkt, will der Konzern die Gesamtkosten in China um 40 Prozent herunterfahren. Die Hauptlast werden die zahlreichen Zulieferer tragen, die mit ihren Teilen zusammen 80 Prozent der Fahrzeugkosten ausmachen. „Da die Chinesen um etwa ein Drittel günstiger liefern als die europäischen Wettbewerber, ist doch allen klar, was passieren muss“, sagt Haase. Schon jetzt kauft VW alle Werkzeuge für Shanghai und Peking nur noch direkt bei den Chinesen. Fast zwei Jahrzehnte tobt die Globalisierung nach Turboart jetzt schon, seit im November 1989 der Eiserne Vorhang fiel und mit ihm eines der goßen Hindernisse für den weltweiten ungehinderten Warenaustausch. Und trotzdem stoßen die Einkäufer der Unternehmen – ob Händler, Produzenten oder Dienstleister – immer noch in unentdeckte Bereiche und neue Größenordnungen vor. Kein Warenstrom bleibt, wie er war, keine Lieferbeziehung erweist sich als zu verzwickt, als dass am Ende nicht doch ein paar Euro Ersparnis herausspringen. „Bald wird es die Situation geben, dass ein malaysisches Unternehmen einen deutschen Lieferanten findet, der wiederum seine Vorprodukte aus Lateinamerika bezieht“, prophezeit Gerd Kerkhoff, Chef der Düsseldorfer Unternehmensberatung Kerkhoff Consulting, die sich auf Beschaffungsmanagement spezialisiert hat. „Global Sourcing“, so nennen Einkäufer schon länger die Bemühungen, den Erdball nach immer preiswerteren Bezugsquellen abzugrasen – getreu der alten Kaufmannsweisheit: Im Einkauf liegt der Gewinn. Doch erst seit die Globalisierung so ungebremst grassiert, sehen die Unternehmen in den weltweiten Unterschieden bei Lohn- und Lohnnebenkosten, bei Rohstoff- und Energiepreisen, bei Steuern und Abgaben einen entscheidenden Hebel, um die Kosten nachhaltig zu senken und Wettbewerber auszustechen. Eine kürzlich abgeschlossene Untersuchung des Beratungsunternehmens Arthur D. Little und des Kühne-Instituts für Logistik an der Universität St. Gallen untermauert diese Erkenntnis. Jedes dritte Unternehmen, das Vorprodukte und Zulieferteile nicht nur im eigenen Land, sondern weltweit einkauft, konnte – trotz des Mehraufwandes für Transport, Zoll und Versicherung – die Beschaffungskosten um deutlich mehr als zehn Prozent senken. Jede 20. Firma sparte sogar über 20 Prozent ein.

Wichtigster Beschaffungsmarkt der deutschen Unternehmen ist inzwischen China. Die gesamten Importe von dort, allen voran Büromaschinen, Informationstechnik (IT), Bekleidung und Nachrichtentechnik, werden im Jahr 2008 auf über 70 Milliarden Euro steigen, prognostiziert der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Damit werden die Fernöstlinge die Niederländer und Franzosen als Deutschlands Hoflieferanten von den ersten beiden Plätzen verdrängen. Immer stärker in den Fokus deutscher Einkäufer rückt auch Indien. Insbesondere die dortige IT-, Textil- und Nahrungsmittelindustrie sowie der Motoren- und der Maschinenbau entwickeln sich rasant. 2005 erhöhte das Riesenland den Export allein von Werkzeugmaschinen explosionsartig um über 80 Prozent. Doch je mehr die Unternehmen sich von den Lieferungen aus fernen Länder versprechen, desto mehr müssen sie zugleich selbst investieren, um den eigenen wachsenden Ansprüchen gerecht zu werden. Einfach billige Waren bestellen, in der Hoffnung, dadurch automatisch die Kosten zu senken, genügt nicht mehr. Das zeigt sich zum Beispiel beim Personal, das die neuen Einkaufsquellen erschließen soll. Tao Zhu, Senior Vice-President im Siemens-Geschäftsbereich Communication in Peking, warnt deutsche Einkäufer vor dem Irrglauben, größere Geschäfte selber und aus der Ferne machen zu können. „Eine Marktbearbeitung von Deutschland aus ist unmöglich“, sagt der Chinese. Wichtig seien gute Leute direkt aus dem Beschaffungsland. Dabei gelte es, zahlreiche große und kleine Probleme zu lösen. So seien erfolgreiche Einkäufer vor Ort meist stark gefragt, wechselten häufig zu anderen Arbeitgebern und wüssten um ihren Marktwert. „Wer sie länger binden will, muss entsprechende Löhne zahlen, die immer weiter steigen“, weiß Tao Zhu. Wer Pech habe, erwische manchmal auch Leute, die in die eigene Tasche wirtschafteten und einen großen Teil des erhofften Kostenvorteils einstrichen. Ähnliche Gefahren drohen den Unternehmen bei der Zollabwicklung in China. „Ohne Zollagenten sind Sie hier machtlos“, sagt Gerhard Blumensaat, General Manager bei der Deutsche-Bahn-Speditionstochter Schenker in Shanghai. Grund: Die chinesischen Zollstellen konkurrieren untereinander und verlangen nicht selten unterschiedliche Tarife. Viele Mittelständler, die in den vergangenen Jahren den Bezug von Teilen schleichend erhöhten, merken jetzt, dass sie nicht mehr so weiterwursteln können. „Sie nehmen mehr und mehr wahr, dass die eigene Wertschöpfungstiefe immer weiter abnimmt und der Anteil zugekaufter Produkte und Leistungen stetig wächst“, beobachtet Christian Heiss, Sourcing-Experte des US-Beratungsunternehmens Mercer. Nicht selten determiniere der Einkauf bereits zwischen 60 und 75 Prozent des Gesamtwerts des Endproduktes, ohne dass sich die Verantwortlichen über die gewachsene Abhängigkeit in puncto Preis, Qualität und Liefersicherheit bewusst seien.

Um die Handlungsfreiheit zu erhalten oder wiederzugewinnen, rät Mercer-Berater Heiss den Unternehmen, ausgefeilte Strategien für den Umgang mit ihren Zulieferern zu entwickeln: „Nur wer deren Leistung und Know-how optimal mit den eigenen Stärken verknüpfen kann, erzielt dauerhafte Wettbewerbsvorteile.“ Was sich hinter dem Berater-Deutsch verbirgt, zeigt der Bielefelder Maschinenbauer Gildemeister. Die Westfalen beschränken sich nicht darauf, bei ihren Zulieferern bloß einzukaufen. Stattdessen spannt Gildemeister diese bereits weit vor der Bestellung ein, indem die Verantwortlichen im Unternehmen mit den 50 wichtigsten Lieferanten, die 80 Prozent des Einkaufsvolumens repräsentieren, regelmäßige Produktentwicklungsgespräche führen. „Die frühe ganzheitliche Einbindung ist wesentlich effizienter als simplePreisverhandlungen im Nachhinein“, sagt Gildemeister-Vorstand Günter Bachmann. Die enge Zusammenarbeit minimiert die Beschaffungs- und Produktionskosten bei Gildemeister erheblich. So spüren die Teams preiswertere Materialien auf oder entwickeln Ideen, die helfen, die kostenträchtige Vielfalt an Varianten durch Standardisierung der Maschinenteile zu reduzieren. Dazu informiert ein sogenanntes Lieferanten-Coaching-Programm alle Zulieferer regelmäßig über den Stand ihrer Innovationskraft. Um die zu erfahren, kann sich jeder in ein passwortgeschütztes Web-Portal bei Gildemeister einloggen und auf einer Bewertungsskala prüfen, auf welchem Platz er rangiert. So weit scheinen insbesondere unter den Mittelständlern erst wenige zu sein. Unternehmen mit knappem Personal und geringen finanziellen Ressourcen befassen sich derzeit vor allem mit der elektronischen Beschaffung via Internet, dem sogenannten E-Procurement. Auf diese Weise versuchen sie, an erster Stelle Routineeinkäufe etwa von Standardschrauben oder Kugelschreibern zu automatisieren, um Freiraum für den komplexeren Einkauf rund um den Globus zu schaffen, sagt Ronald Bogaschewsky, Professor für Industriebetriebslehre an der Universität Würzburg. Der Sourcing-Experte erstellt mithilfe kontinuierlicher Umfragen bei rund 90 Unternehmen in Deutschland regelmäßig einen so- genannten Stimmungsbarometer Elektronische Beschaffung. Danach gehe durch die Unternehmen zurzeit eine „zweite Welle des E-Procurements“. Das heißt, nur noch 14 Prozent der Befragten sind der Überzeugung, etwa auf Bestellungen in elektronischen Katalogen verzichten zu können. Zwei Jahre zuvor glaubten das noch 32 Prozent. Bogaschewsky warnt allerdings, den Einstieg ins Global Sourcing überstürzt zu wagen. Viele Unternehmer seien von dem gegenwärtigen „China- und Indien-Hype so infiziert, dass sie den Aufwand unterschätzen, der notwendig ist, um in diesen Ländern erfolgreich Fuß zu fassen“. Wer den Preisvorteil auf dem Papier nicht genügend gegen die Risiken politischer Instabilität, kostentreibender Logistik und unberechenbarer Lieferanten abwäge, verkalkuliere sich schnell. „Einfach in die Märkte zu gehen, weil es dort günstig ist, reicht nicht aus, man muss die Risiken kontrollieren und die Gesamtkosten betrachten“, meint Beschaffungsberater Kerkhoff. „Dann kann es auch etwas bringen, mit dem alten heimischen Lieferanten noch mal neu zu verhandeln.“ Vor diesem Hintergrund rät Bogaschewsky Einkäufern, die Staaten Mittel- und Osteuropas stärker zu berücksichtigen. Diese „fast heimischen Märkte“ seien, „weil noch vor unserer Haustür, im Gegensatz zu China und Indien leichter zu beherrschen“. Besonders EU-Beitrittskandidat Rumänien biete „sagenhafte Lohnvorteile“. Ebenfalls zu Bogaschewskys Empfehlungen zählen Südafrika, Brasilien – und Singapur. Der Stadtstaat sei für Unternehmen weniger wegen der vergleichsweise kleinen Bevölkerung von vier Millionen Einwohnern von Interesse, sondern vielmehr aufgrund seiner günstigen geografischen Lage: In fünf Flugstunden sind von Singapur aus Beschaffungsmärkte mit insgesamt 2,8 Milliarden Menschen zu erreichen. Nicht von ungefähr will die Regierung den kleinen Fleck auf der Landkarte bis 2010 als Drehscheibe Südostasiens für Industrieprodukte etablieren.

Darauf setzt schon jetzt der deutsch-niederländische Kopiererhersteller Océ mit seinem Büro in Singapur. Ein Dutzend Einkäufer recherchiert von hier aus im gesamten asiatischen Raum nach günstigen Bezugsquellen. Profiteure sind die Ende 2005 eingeweihte Océ-Produktionsstätte in Malaysia sowie die Endfertigung im bayrischen Poing und im niederländischen Venlo. Die Standorte könnten dank des Büros in Singapur mit einer „Materialkosteneinsparung von 30 Prozent“ kalkulieren, sagt Anton Pietsch, Chefeinkäufer in Singapur. Aus ganz anderen Gründen wagt der Hamburger Lebensmittelhersteller Kühne den Einkauf in Fernost. Bisher orderte der Senf- und Gurkenabfüller Rohstoffe und Verpackungsmaterialien wie Gläser und Dosen zu 85 Prozent in Mitteleuropa, davon zur Hälfte in Deutschland. Doch nun wird es dem Familienunternehmen hier zu eng. Gab es in Deutschland vor zehn Jahren noch 15 selbstständige Glashütten, sind es heute in ganz Europa nur noch drei. Deshalb will Kühne-Einkaufsleiter Harald Feiling in dem Verkaufsbüro in Peking demnächst auch einen Einkäufer platzieren. Auf diese Weise sucht er dem doppelten Stress zu entkommen: hier die steigenden Einkaufspreise durch Konzentration bei den Lieferanten, dort der Druck auf die Verkaufspreise durch die mächtigen Handelskonzerne „Wenn die Einnahmen sinken“, stöhnt Feiling, „wird die Luft auf der Kostenseite immer dünner.“ Aus diesem Grund nutzt auch der Hausgerätehersteller Miele aus dem westfälischen Gütersloh die Segnungen der weltweiten Beschaffung. Firmenchef Reinhard Zinkann befahl 2004 nach Umsatzeinbußen im Vorjahr, die Kosten im Einkauf um mindestens fünf Prozent zu senken. Heute, gegen Ende der zweijährigen Laufzeit des Projektes „5 plus X“, meldet Chefeinkäufer Günther Reinelt „Übererfüllung des Ziels um 23 Prozent“. Reinelt gelang der Kostenschnitt um fast ein Viertel, indem er unter anderem die Bestellungen bündelte und die Zahl der Lieferanten reduzierte. Allerdings ging das Gütersloher Traditionshaus sehr vorsichtig zu Werke. Zwar sind die 130 Miele-Einkäufer weltweit auf Achse, von Osteuropa über China bis Japan. „Wir suchen aber nicht den billigsten, sondern den besten Lieferanten“, sagt Chefeinkäufer Reinelt. Das führt dazu, dass Miele manche Produkte zu 55 Prozent selbst baut, statt nur Lieferteile zu montieren. „Wir wollen nicht das Heft aus der Hand geben und ziehen der Karawane nicht einfach hinterher, weil ein Land in Mode ist“, sagt Reinelt. „Wir wollen nämlich nicht die Ersten sein, die dort einen Fehler machen.“

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