Telekom-Prozess Die T-Aktie vor Gericht

Zweiter Prozesstag, erster Rückschlag für die Kleinaktionäre: Heute hat das Gericht im Musterprozess gegen die Deutsche Telekom klar gemacht, dass es die umstrittene Gruppenbewertung der Telekom-Immobilien für rechtens hält. Das größte Wirtschaftsverfahren aller Zeiten zeigt: Das Gesetz bietet Privatinvestoren in Deutschland wenig Schutz. Was T-Aktionäre erwartet und wie Anleger sich selbst schützen können.

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Das Logo an der Deutschen Quelle: AP

Für Trödel-Liebhaber ist der Flohmarkt im Frankfurter Stadtteil Bornheim eine wahre Fundgrube, die Veranstaltung lockt alljährlich Hunderte Schnäppchenjäger in den rot verklinkerten „Saalbau Bornheim“. Wo sonst Flohmärkte, Familienfeste oder Esoterikmessen laufen, beginnt heute Deutschlands größtes Wirtschaftsverfahren aller Zeiten: der Telekom-Prozess. Scharen enttäuschter T-Aktionäre, noch immer ist das Magenta-Papier die häufigste Aktie in deutschen Depots, halten die Aktie bestenfalls noch für Ramsch – und fordern Wiedergutmachung.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat den großen Saal des Mehrzweckbaus in einen Gerichtssaal verwandelt, weil die eigenen Räume viel zu klein sind. Der Mammutprozess stößt in neue Dimensionen vor: Rund 17.000 Aktionäre, vertreten von 900 Anwälten, fordern zwischen wenigen hundert und einigen Millionen Euro Schadensersatz. Es sind Anleger wie Horst G. aus dem rheinischen Langenfeld. Im Jahr 2000 kaufte der Angestellte T-Aktien – und sah fortan wie gelähmt zu, wie deren Kurs abschmierte. Er ist wütend auf die Telekom-Manager, auf den Bund, auf die Banken. Die Verbitterung sitzt tief: „Die Herren haben Menschen getäuscht und unsere Ersparnisse verzockt.“ Selbst wenn er kein Geld zurückbekäme, so wolle er doch wenigstens „die feinen Herren der Telekom“ im Zeugenstand schwitzen sehen.

Rekordverdächtig ist nicht nur die Zahl der Beteiligten, sondern auch die Verfahrensdauer: Das Gericht wird wohl frühestens 2010 urteilen, zehn Jahre nach dem Beginn des Sinkflugs der T-Aktie. Und das ist noch längst nicht der Schlusspunkt, danach hat der Bundesgerichtshof das letzte Wort. Unter den Klägern sind viele Rentner, so mancher dürfte den Ausgang des Prozesses gar nicht mehr erleben. Gerechtigkeit, meinen viele, sieht anders aus.

Der Justiz-Marathon belegt: Deutsche Anleger sind trotz etlicher Gesetzesnachbesserungen noch immer schlecht geschützt. Ob nach New-Economy-Skandalen wie Comroad oder EM.TV, dem Desaster um deutsche Filmfonds oder eben dem Absturz der T-Aktie – ohne zermürbende juristische Grabenkämpfe gibt’s keinen Cent zurück, oft gehen geprellte Investoren selbst in himmelschreienden Betrugsfällen leer aus. Auch das 2005 eigens für den Telekom-Prozess geschaffene Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) hat da keine Abhilfe geschaffen. Doch auch wenn die Regeln zum Anlegerschutz zu oft versagen, gibt es trotzdem einige Tricks und Kniffe, die geschädigte Anleger beachten müssen.

Der Hauptvorwurf der Kläger: Die Telekom soll ihre Immobilien deutlich zu hoch bewertet und so den Aktienkurs in die Höhe getrieben haben. Investoren, die 1999 und 2000 zur zweiten und dritten Tranche des T-Börsengangs zu hohen Kursen eingestiegen sind, fühlen sich angesichts des späteren dramatischen Kursverfalls um ihr Erspartes betrogen.

Die Saat des Streits wird zum Jahreswechsel 1994/1995 gelegt. Als der damalige Telekom-Aufsichtsratschef Rolf-Dieter Leister am 1. Januar aufwacht, kann er sich über einen nächtlichen Wertzuwachs von fast 13 Milliarden D-Mark freuen. Statt mit 22,95 Milliarden Mark wie am 31. Dezember 1994 schlagen die Immobilien des Staatskonzerns plötzlich mit 35,68 Milliarden Mark zu Buche. Sehr zur Freude von Postminister Wolfgang Bötsch (CSU), der die Telekom just an jenem 1. Januar 1995 in eine Aktiengesellschaft umwandelt – da kommt die höhere Bewertung gerade recht.

Laut Gutachten der Münchner Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Wollert-Elmendorff sei die Aufwertung der Immobilien um fast 60 Prozent „zulässig“ gewesen, argumentierte die Telekom 1999, als die Bilanzkosmetik – die während des ersten Börsengangs 1996 noch niemanden gestört hatte – erstmals die Öffentlichkeit bewegte. Im Februar 2001 eskalierte der Streit: Nachdem die Telekom ihr Immobilienvermögen um zwei Milliarden Euro abwerten musste, zogen Tausende Aktionäre vor Gericht. Die Aktie war inzwischen von ihrem Allzeithoch bei 104,87 Euro im März 2000 auf 24,40 Euro abgestürzt und befand sich weiter im freien Fall. Der Traum von der neuen Volksaktie – aus, vorbei, begraben unter den Trümmern des magentafarbenen T. Vom Allzeithoch bis heute haben sich 267 Milliarden Börsenwert in Luft aufgelöst.

Neben den hohen Immobilienwerten kritisieren Anleger, die zum dritten Börsengang im Juni 2000 die Aktie zeichneten, dass die Telekom damals nichts von der geplanten Übernahme des US-Mobilfunkers Voicestream gesagt hat – obwohl die Übernahmeverhandlungen nach Ansicht der Kläger schon weit fortgeschritten waren. Weil der beabsichtigte Milliarden-Deal von eminenter Bedeutung für den Konzern und damit auch für die künftigen Aktionäre war, so der Vorwurf, hätte er im Börsenprospekt erwähnt werden müssen.

In der Tat meldete der Bonner Konzern bereits am 25. Juli 2000 – nur einen Monat nach dem dritten Börsengang – den Kauf des US-Mobilfunkers. Der Kaufpreis lag bei fast 40 Milliarden Euro. Das war selbst in New-Economy-Zeiten enorm teuer, heute wirkt es geradezu absurd. Voicestream war mit 2,3 Millionen Kunden nur die Nummer sechs auf dem US-Markt, die Telekom zahlte mit 17.400 Euro je Voicestream--Kunde weit mehr als üblich. Der irrsinnige Deal belastete die Geschäfte des Telefonriesen auf Jahre hinaus.

Das Gericht muss jetzt klären, ob die Verhandlungen in den USA im Frühsommer 2000 schon so weit fortgeschritten waren, dass die Telekom die Anleger hätte informieren müssen. Und es muss darüber urteilen, ob der Konzern Immobilien zu hoch bewertet hat. Der Kläger in dem am Montag beginnenden Musterverfahren ist ein Pensionär aus Baden-Württemberg, der beim dritten Börsengang investiert und dadurch 1,2 Millionen Euro verloren hat. Sein Fall wird stellvertretend für 8500 Kläger verhandelt, die im Jahr 2000 eingestiegen sind. Die Musterklage eines Anlegers, der 1999 T-Aktien gekauft hat, wird in einem noch nicht terminierten Parallelverfahren verhandelt. „Wir lassen das liegen, bis wir sehen, wie es im ersten Verfahren vorangeht“, heißt es beim Oberlandesgericht.

An den bisher angesetzten 17 Verhandlungstagen bis Ende Mai geht es zunächst um den Voicestream-Komplex. Der Vorsitzende Richter Christian Dittrich hat dazu eine Reihe prominenter Zeugen geladen. Besonders eng dürfte es im Saalbau Bornheim mit seinen 782 Sitzplätzen am 14. April um 10 Uhr werden, wenn Ex-Telekom-Chef Ron Sommer in den Zeugenstand tritt. Ebenfalls aussagen müssen Ex-Chef Kai-Uwe Ricke, der amtierende Finanzvorstand Karl-Gerhard Eick, Ex-Aufsichtsratschef Hans-Dietrich Winkhaus und hochrangige Vertreter des Bundesfinanzministeriums.

Erst wenn die Richter sich ein Bild von der Voicestream-Übernahme gemacht haben, dürfte es ans Eingemachte gehen: die Immobilienbewertung. Theoretisch könnten die Richter bereits auf Basis der Voicestream-Vorwürfe eine Schadensersatzpflicht der Telekom konstatieren. Daran glaubt aber kaum jemand. „Die Immobilienbewertung ist auch im Verfahren zur dritten Tranche des Börsengangs die Kernfrage“, meint Rechtsanwalt Wolf von Buttlar von der Kanzlei Dr. Steinhübel & Buttlar, die 25 Telekom-Aktionäre vertritt. Und deshalb wird sich das Verfahren wohl in die Länge ziehen. „Ich nehme an, dass die Richter ein Gutachten in Auftrag geben und die Immobilien nachträglich bewerten lassen“, sagt von Buttlar. Das ist äußerst kompliziert und wird deshalb teuer. Experten schätzen die Gutachterkosten auf 20 Millionen Euro. Immerhin, hier kommt der entscheidende Vorteil des Musterverfahrens zum Tragen: Verliert der Kläger, muss er das Geld nicht allein aufbringen – die Kosten werden auf alle 17.000 Kläger aufgeteilt. Entscheiden die Richter für die Aktionäre, muss die Telekom zahlen.

Wie die Chancen der Kläger stehen, ist schwer zu sagen – das dürfte vor allem vom Gutachter abhängen. Klar ist nur, dass bis zu einem finalen Votum noch Jahre vergehen. Denn nach dem Oberlandesgericht ist der Bundesgerichtshof dran, der Telekom-Prozess dürfte die Justiz also bis weit ins nächste Jahrzehnt beschäftigen.

Meinrad Wösthoff schwante bereits im November 2004 Böses. Gut und gerne 15 Jahre werde es dauern, bis alles abgearbeitet sei, stöhnte der für den Telekom-Prozess zuständige Richter am Landgericht Frankfurt. „Das Gericht leidet. Wir sind auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet.“ Ein Jahr später, am 1. November 2005, trat zwar das für den Telekom-Prozess erdachte Musterklagen-Gesetz in Kraft, das eine deutsche Variante der US-Sammelklagen erlaubt. Statt die Klagen einzeln abzuarbeiten, konnte Wösthoff sie jetzt nach einer Vorabprüfung ans Oberlandesgericht schicken.

Trotzdem hat es bis zum Beginn des Telekom-Prozesses weitere 29 Monate gedauert. Die Telekom-Juristen hätten die Schwächen des Gesetzes „gezielt genutzt“, um das Verfahren in die Länge zu ziehen, moniert Peter Gundermann von der Kanzlei Tilp, die den vom Gericht ausgewählten Musterkläger vertritt. Auch andere Anwälte kritisieren das Vorgehen des ehemaligen Staatskonzerns. „Die Telekom hat versucht, das Landgericht trotz des Musterklagen-Gesetzes zur Prüfung jeder einzelnen Klage zu zwingen“, sagt von Buttlar. Es sei immer wieder beantragt worden, Kläger nicht zum Musterverfahren zuzulassen, etwa weil ihre Ansprüche angeblich verjährt waren.

Telekom-Anwalt Bernd Wilhelm Schmitz wollte zu den Vorwürfen nicht Stellung nehmen. „Der führende Prozessanwalt in Deutschland“, wie die internationale Kanzlei Latham & Watkins ihren Frankfurter Partner beschreibt, sei „zur Vorbereitung auf den Prozess abgeschirmt“. Die Telekom bestreitet die Verzögerungstaktik: „Wir sind natürlich am schnellen Prozessverlauf interessiert, zumal wir fest überzeugt sind, dass die Vorwürfe haltlos sind“, sagt Andreas Leigers, Leiter der Telekom-Finanzkommunikation.

Telekom-Prozess: Quelle: dpa-dpaweb

Die von Anwälten kritisierten Verzögerungsmöglichkeiten sind keineswegs das einzige Problem der neuen Musterverfahren. Für Anleger ähnlich ärgerlich: Mit einem positiven Urteil wäre die Schlacht noch immer nicht gewonnen. „Das Landgericht Frankfurt muss danach bei jedem einzelnen Kläger prüfen, ob er wegen der falschen Informationen im Börsenprospekt oder aus anderen Gründen investiert hat“, sagt der Münchner Rechtsanwalt Peter Mattil. „Kausalitätsnachweis“ heißt das im Juristenkauderwelsch.

Immerhin, die T-Aktionäre würden von einer „Beweislastumkehr“ profitieren, sagt Rechtsanwalt Klaus Rotter, der 200 von ihnen vertritt. Laut Börsengesetz seien hier nicht die Anleger in der Pflicht, stattdessen müsse die Telekom beweisen, dass Anleger nicht wegen der falschen Angaben im Prospekt gekauft haben. „Und das ist kaum zu schaffen.“ Die Beweiserleichterung gelte für alle Aktionäre, die binnen sechs Monaten nach dem jeweiligen Börsengang Aktien kauften, so Rotter.

Geprellte Anleger, die nicht auf der Basis eines zweifelhaften Börsenprospekts, sondern nach falschen Ad-hoc – oder anderen Unternehmensnachrichten investiert haben, stehen vor dem Gesetz dagegen schlechter da – bei ihnen gilt die wichtige Beweislastumkehr nicht. Zahlreiche Aktionäre von New-Economy-Skandalfirmen wie EM.TV oder Comroad haben das in den vergangenen Jahren am eigenen Leib erfahren, ihre Schadensersatzklagen scheiterten daran, dass sie keine Beweise für ihr Kaufmotiv präsentieren konnten.

Der Bundesgerichtshof hat vor einigen Wochen in einem Comroad-Urteil bekräftigt, dass der Kausalitätsnachweis in solchen Fällen unverzichtbar sei – und zwar „selbst bei extrem unseriöser Kapitalmarktinformation“ (II ZR 229/05). Das Urteil zeigt das Dilemma: Die deutschen Vorschriften zum Anlegerschutz sind für logisch denkende Menschen nicht nachvollziehbar. Wer wann was beweisen muss, hängt unter anderem davon ab, ob das Börsengesetz, das BGB oder ein ganz anderes Paragrafenwerk greift, ob Emittenten, Anlagevermittler oder „Hintermänner“ auf der Anklagebank sitzen und ob die einjährige oder die dreijährige Verjährungsfrist greift. Da steigen selbst ausgewiesene Experten oft nicht mehr durch, zumal die Regeln in schöner Regelmäßigkeit geändert werden.

Der Kläger im Comroad-Verfahren hatte die Telematik-Firma und deren Gründer Bodo Schnabel auf Schadensersatz verklagt, weil das Management im Börsenprospekt und in Ad-hoc-Mitteilungen weit überhöhte Umsatzzahlen verbreitet hatte. » Mehrere Oberlandesgerichte waren der Ansicht, dass Anleger in derart eindeutigen Betrugsfällen nicht in der Beweispflicht seien – eine schöne Idee, doch die klaren und leicht verständlichen Urteile stehen laut Bundesgerichtshof nicht in Einklang mit dem komplizierten Gesetzen.

Viele Finanzkrisen-Opfer müssen sich vermutlich schon bald in den Paragrafendschungel wagen. Beispiel IKB: Das Institut hatte am 20. Juli 2007 seine Gewinnziele bestätigt und damit auf Gerüchte um eine Schieflage reagiert – woraufhin der Aktienkurs sich erholte. Nur zehn Tage später schockte das Management die Märkte mit einer deftigen Gewinnwarnung. Zahlreiche Aktionäre, die zwischen dem 20. und 30. Juli eingestiegen sind, verlangen Schadensersatz; einige Anwälte sammeln bereits Kläger ein und streben ein Musterverfahren an. Zu einem solchen Prozess könnte es auch gegen die Hypo Real Estate kommen, deren Aktien am 15. Januar um mehr als 30 Prozent abgestürzt waren, nachdem der Vorstand die Börsianer mit hohen Abschreibungen geschockt hatte.

Das Problem auch hier: Anleger müssen belegen, dass sie nicht eingestiegen wären, wenn die Unternehmen rechtzeitig mit offenen Karten gespielt hätten. Klingt logisch, ist in der Praxis aber oft heikel. Anwälte raten zu einem legalen Kniff: „Betroffene können ihre Schadensersatzansprüche abtreten, zum Beispiel an einen Verwandten, und dann selbst als Zeugen aussagen“, sagt Anwalt Mattil. „Die Gerichte akzeptieren das.“

Um im Fall der Fälle möglichst gut dazustehen, sollten Anleger aber schon beim Aktienkauf einige Regeln beachten. „Wer aufgrund eines Börsenprospekts oder einer Ad-hoc-Mitteilung investiert, sollte die Unterlagen ausdrucken und archivieren“, empfiehlt von Buttlar. Für Finanzkrisen-Geschädigte besonders wichtig: Die Verjährungsfrist für Ansprüche wegen Falschinformationen in Börsenprospekten oder Ad-hocs beträgt nur ein Jahr. Die Uhr tickt, sobald Anleger wissen oder wissen konnten, dass sie falsch informiert wurden oder dass ihnen wichtige Informationen vorenthalten wurden. Um den genauen Zeitpunkt gibt es immer wieder Streit. Für IKB-Aktionäre begann die einjährige Frist „schlimmstenfalls im August 2007“, glaubt Mattil. Schließlich habe die Presse seitdem ausgiebig über die IKB und die Finanzkrise berichtet.

Mancher Anleger dürfte angesichts der komplizierten deutschen Regeln neidisch über den großen Teich blicken. Die dortigen Sammelklagen („class actions“) lassen Managern das Blut in den Adern gefrieren. Denn die Gerichte in den USA sind für ihre Anlegerfreundlichkeit bekannt und verdonnern Konzerne immer wieder zu hohen Zahlungen. Das Beste ist: In den USA müssen nicht alle Geschädigte selbst vor Gericht ziehen – es reicht, wenn einer klagt, der Rest kann in Ruhe abwarten. Auf die Bilanzskandale der vergangenen Jahre folgten die bisher höchsten Vergleichszahlungen: Worldcom-Aktionären wurden 6,2 Milliarden Dollar zugesprochen, der Fall Enron lieferte gar die Rekordsumme von 7,2 Milliarden Dollar. Aktionäre von Unternehmen wie Tyco, Motorola und AOL durften sich zuletzt ebenfalls über positive Gerichtsentscheidungen freuen.

Auch deutsche Anleger können profitieren, wenn bei einer Sammelklage eine Vergleichszahlung herausspringt. Es reicht, wenn sie innerhalb einer mehrmonatigen Frist ein Formular namens „proof of claim“ ausfüllen und samt Belegen für den Aktienkauf an das beklagte Unternehmen schicken. Das kostet nur das Porto in die USA, einen Nachweis für den Aktienkauf gibt’s bei der eigenen Bank gratis.

Im Fall Enron beispielsweise läuft die Frist noch bis zum 30. April 2008, Ansprüche anmelden können Anleger, die zwischen dem 9. September 1997 bis 2. Dezember 2001 Enron-Papiere gekauft haben. Welches Stück sie vom großen Kuchen abbekommen, hängt davon ab, wie viele Anleger sich bis Ende April noch dranhängen. Die Besonderheit des US-Rechts: Vergleichszahlungen orientieren sich nicht am Schaden, sondern sind eine von den Gerichten festgesetzte Strafe. In der Regel führt das dazu, dass Anleger nicht ihren kompletten Schaden ersetzt bekommen – aber wenigstens erhalten sie einen ordentlichen Teil zurück.

Angesichts der Finanzkrise hofft die Anwaltsriege in den USA wieder auf gute Geschäfte mit Sammelklagen. Dubiose Kreditvergaben an Hauskäufer und die miese Aufklärung über die Risiken der aus den Darlehen gebastelten Finanzvehikel lassen die Zahl der Klagen emporschnellen. Allerdings sind die auf Sammelklagen spezialisierten Kanzleien vorsichtiger geworden. Der Grund: Eine angesehene Firma geriet 2007 selbst ins juristische Minenfeld. Mehrere Anwälte, darunter der als „Mister Class Action“ bekannte 72-jährige Melvyn Weiss, haben sich inzwischen für schuldig erklärt, Sammelklagen inszeniert zu haben, indem sie potenzielle Kläger mit heimlichen Zahlungen zur Klage animierten.

Auch Telekom-Aktionäre haben schon von einer US-Sammelklage profitiert: Anders als in Deutschland hatte sich die Telekom in den USA bereit erklärt, einer Klägergruppe 120 Millionen US-Dollar zu zahlen. Pikant: Deutsche durften sich nicht anschließen. Das deutsche Justizministerium habe interveniert und dem US-Gericht mitgeteilt, dass in dem Verfahren „hoheitliche Rechte der Bundesrepublik betroffen seien“, erinnert sich Anwalt Gundermann. „Der Eingriff der Bundesregierung hat verhindert, dass deutsche Anleger die gleichen Rechte bekommen wie US-Anleger.“

Der Skandal illustriert die zweifelhafte Doppelrolle des Staates. Einerseits sitzt er als früherer Mehrheitsaktionär mit auf der Anklagebank, andererseits strickte er an einem Gesetz, das den Anlegerschutz gerade im Fall Telekom verbessern sollte. Die Intervention zeigt, dass dem Staat im Zweifelsfall -Einnahmen wichtiger sind als Anlegerrechte oder die in Sonntagsreden beschworene „Aktienkultur“.

Immerhin, Besserung ist in Sicht, zwar nicht aus Berlin, aber aus Brüssel: Die EU-Kommission will Sammelklagen in Europa erleichtern und lässt derzeit verschiedene Modelle checken. Anwalt Mattil rechnet damit, dass per EU-Richtlinie Stellvertreterklagen eingeführt werden. Dabei klagt ein Verband, etwa eine Verbraucherschutzorganisation, andere Geschädigte müssten sich nur registrieren lassen. Die EU-Regeln könnten 2010 in Kraft treten – und kämen wie gerufen, um das bis Oktober 2010 befristete Musterklagen-Gesetz abzulösen.

Das erste Verfahren, dass unter dem auch als „Lex Telekom“ bekannten Gesetz abgeschlossen wird, dürfte die Klage gegen den Automobilkonzern Daimler sein. Anleger behaupten, dass die Stuttgarter den kurstreibenden Rücktritt des früheren Vorstandschefs Jürgen Schrempp zu spät bekannt gegeben haben. Als Musterkläger hat das Oberlandesgericht Stuttgart einen Mann ausgesucht, der im Namen seines Vaters klagt. Dieser hatte am 28. Juli 2005 um 9 Uhr 800 Daimler-Aktien zu 36,50 Euro verkauft. Um 10.02 Uhr verkündete der Konzern den Schrempp-Rücktritt, in der Folge stieg der Kurs bis auf 42,95 Euro.

Der Kläger moniert, dass Schrempp den Aufsichtsratschef Hilmar Kopper bereits im Mai von seinen Rücktrittsplänen informiert habe. Somit wäre damals eine Ad-hoc fällig gewesen. Das OLG wies die Klage überraschend fix ab, wurde dafür aber jetzt vom BGH gerügt (II ZB 9/07). Die schwäbischen Richter hätten die Sache intensiver prüfen müssen, stellten die Bundesrichter fest – und verwiesen den Fall an einen anderen OLG-Senat zurück. In den nächsten Wochen werden deshalb nicht nur im Frankfurter Telekom-Prozess, sondern auch in Stuttgart Promis aussagen, darunter neben Schrempp und Kopper womöglich auch Daimler-Chef Dieter Zetsche.

In Sachen Telekom bereiten Anwälte schon die nächste Klagewelle vor. Sie stört, dass sich kein einziges Fondshaus ihren Klagen angeschlossen hat – obwohl die T-Aktie in fast allen deutschen Aktienfonds lag. Zudem seien den Klagen von höchster Stelle Erfolgsaussichten bescheinigt worden. Tatsächlich verdonnerte der BGH die Rechtsschutzversicherer 2003, Prozesskosten von versicherten Telekom-Anlegern wegen eines zumindest möglichen Erfolgs zu übernehmen. „Spätestens nach diesem Urteil hätten die Fondshäuser die Verjährung hemmen oder eventuell klagen müssen“, sagt Rechtsanwalt Andreas Tilp und droht mit Schadenersatzklagen gegen Fonds.

Wird demnächst also der Fondsanbieter DWS die Telekom vor Gericht zerren, wegen eines Börsengangs, den die DWS-Mutter Deutsche Bank maßgeblich mitgestaltet hat? So richtig vorstellbar ist das nicht. Aber Anlegeranwälte sind eben Berufsoptimisten. Und der Druck wird wachsen – auf die Fonds und auf die Telekom.

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