
Postkartenwetter. Postkartenaussicht. Postkartenambiente. Aber keine Lust, eine zu schreiben. Auf der Alster schieben sich Ausflugsdampfer und Tretboote aneinander vorbei. Perfekte Idylle, die nicht einmal dadurch getrübt wird, dass der Steg mit schnulzigen Schlagern beschallt wird. Ich ignoriere die Postkartenständer in der Stadt und greife stattdessen zu meinem Smart-phone, einem Blackberry, wie ihn zahlreiche Geschäftsreisende von ihren Arbeitgebern mit auf die Wege bekommen. Damit kann ich auch twittern.
Twitter heißt Gezwitscher und ist der Name einer Web-Seite für Kurznachrichten mit maximal 140 Zeichen Länge. Meine knappen Beiträge sollen in einer Art Tagebuch mit Datum und Uhrzeit in diesem Urlaub das Postkartenschreiben ersetzen. Statt Bekannten und Verwandten je eine zu schicken, schreibe ich alles im Internet-Portal Twitter auf. Dort kann jeder meine Antworten lesen auf die Frage, die über allen Einträgen steht: „What are you doing?“ 140 Zeichen darf die Replik lang sein. Manchmal reichen auch 86: „Kampfsitzen im A.mora an der Alster. Wofür aufstehen? (Vielleicht wegen der Schnulzen)“
Fragen nach Doping beantworteet Lance Armstrong auch überTwitter nicht
Mit Kurznachrichten wie diesen hat der Schauspieler Ashton Kutcher, der vor allem durch seine Liaison mit Kollegin Demi Moore bekannt wurde, in der Woche nach Ostern seine Wette gegen den Nachrichtensender CNN gewonnen: Eine Million Menschen lesen mit, was Kutcher so schreibt, die magische Grenze übersprang Kutcher knapp vor CNN und brachte es damit in die Schlagzeilen. Der Rennradprofi Lance Armstrong glaubt gar, dass das schnelle Versenden von Nachrichten hilft, dass Demokratie und Freiheit gestärkt werden, weil Menschen sich rasch untereinander verständigen können. Armstrong selber schreibt Twitter-Einträge sogar während des Radtrainings auf seinem Smartphone – der Radfahrer schätzt Neuerungen im mobilen Internet, das immer mehr technische Möglichkeiten bietet.
Mehr als 660.000 Mitglieder von Twitter lesen laut seiner Homepage mit, wenn er berichtet, mit wem er essen war oder dass er die Kinder von der Schule abholt. Fragen nach den Dopingvorwürfen beantwortet er hingegen nicht. Für Prominente ist Twitter eine Möglichkeit, PR in eigener Sache zu betreiben und die Informationen über sich wenigstens auf Twitter selber zu steuern.
Auf viele Beobachter spekulieren die meisten der weltweit mittlerweile wohl mehrere Millionen Mitglieder, die sich per Kurznachricht der Welt mitteilen. Ob es nun private Erlebnisse am Frühstückstisch oder im Urlaub sind. Oder Erlebnisse von größerer Tragweite: Twitter hat binnen weniger Monate viel Aufmerksamkeit bekommen. Bei traurigen Anlässe wie den Attentaten in Bombay schrieben Mitglieder, um selbst Erlebtes oder auch Gerüchte weiter zu verbreiten.
Der Service ist kostenlos und von jedem Computer mit Internet-Zugang oder internetfähigem Telefon wie iPhone oder Blackberry aus zu nutzen. Aus dem Netzwerk, das es Nutzern erlaubt, Freunde und Kollegen über das eigene Tun zu unterrichten, ist ein virtueller Treffpunkt geworden, in dem sich Unternehmen, Zeitschriften oder Fernsehkanäle tummeln. Und nun mittendrin ich mit dem Selbstversuch, meinen Alltag in Häppchen à 140 Zeichen zu zerteilen, mit Bildern und für meine Leser hoffentlich interessanten Internet-Links.
Bei Twitter heißen diese Leser „Follower“ und wer mag, verfolgt von einem bis zu Zehntausenden anderen Teilnehmern, was sie so schreiben. Unter den engagiertesten Schreibern bei Twitter ist die Zahl der Follower, was den Golfern das Handicap ist, man raunt sie sich leise zu. Mir folgen seit der Anmeldung vor einigen Wochen bescheidene 95 Menschen. Teils Kollegen, teils Menschen, von denen ich nicht ahne, was sie an meinen Beiträgen interessiert, teils Menschen, die auf Begriffe stoßen, die sie als Suchbefehl bei Twitter eingegeben haben – erwähne ich Name von Uhrenherstellern oder Winzern, habe ich schlagartig neue Interessenten.