Unpackaging Geschenke gekonnt auspacken

Die Freude am Auspacken steckt dem Menschen in den Genen. In Videos und Fotosequenzen wird der Enthüllungsvorgang als Pop-Art inszeniert.

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Christo:

Die Szene hat etwas vom Dilettantismus eines vermeintlich erotischen Amateur-Videos: Ein Sofa im schlecht ausgeleuchteten Wohnzimmer. Fahrige Kameraführung. Hohle Akustik. Angestrengter Atem aus dem Off. Nervöse Finger, die am Objekt der Begierde nesteln. Was hier mit zittriger Hand vor der Kamera gerade seiner letzten Hülle entkleidet wird, ist... ein iPhone.

Die Sequenz stammt aus einem von Tausenden von Videos, in denen überkommunikative Verbraucher das zeremonielle Auspacken ihrer neu erworbenen technischen Schätzchen für den Rest der Welt dokumentieren, indem sie die Clips ins Internet stellen. Dort wimmelt es inzwischen von Film- und Fotosequenzen.

Es sind allein bei YouTube mehr als 19 000 solcher Clips anzuschauen und mehr als 20 000 Diashows bei der Amateurfoto-Plattform Flickr anzuklicken. Dort werden Laptops und Handys, Computerdrucker und Fitnessgeräte, Fotoapparate, Playstations und Küchenmaschinen vor laufender Kamera zum ersten Mal aus der Schachtel geholt.

Unpacking oder Unboxing nennt sich dieses Konsumspektakel. Fast alles, was in eine Schachtel passt, scheint auch gut für ein Auspack-Video. Da befreit zum Beispiel ein Amerikaner in inbrünstiger Vorfreude seine bei Amazon erworbene Bibel aus dem Versandkarton, oder ein Computerfreak ergötzt sich am Unboxing des postfrisch eingetroffenen Ersatz-Akkus für seinen Laptop.

Das Gros der Filme folgt lediglich derselben öden Dramaturgie: Zuerst wird ein großer Versandkarton aufgeschnitten und jede Menge Verpackungsmaterial zutage gefördert, dann ein technisches Gerät von letzten Verpackungshüllen befreit, triumphal auf den Tisch gestellt, angeschaltet und von allen Seiten gefilmt. Basta.

Auspacken originell inszeniert

Aus der Masse des Mittelmaßes aber ragen kreative Ideen heraus, die das Auspacken ausgesprochen originell inszenieren: Da ist etwa jener unter seinem Flickr-Kürzel „ntr23“ angemeldete Tscheche, der die Auspack-Zeremonie für sein neues iPhone mit Lego-Figürchen akribisch darstellte und in einer Bildersequenz von Pop-Art-Qualität fotografierte.

Inzwischen genießt seine Diashow Kultstatus, den Link dazu versenden begeisterte Zuschauer in alle Welt. Die Qualität eines Monty-Python-Sketchs erreicht der Videoclip eines Engländers, der die ganze Auspackerei mit der Slapstick-Version einer Unboxing-Zeremonie für Halswehtabletten gehörig auf die Schippe nimmt.

Es scheint die vorläufig höchste Entwicklungsstufe des Warenkults zu sein: Das ritualisierte Auspacken und Filmen von Konsumgütern wird zur Kunstform stilisiert. Die Idee dazu hätte vom Pop-Art-Papst Andy Warhol stammen können. In Wirklichkeit ist die Auspack-Zeremonie aber eher aus der Subkultur rund um die Produkte des Computerherstellers Apple hervorgegangen.

Schon immer machten die Macintosh-Jünger viel Wind um den Kauf und die Inbetriebnahme ihres heiß ersehnten Computers. „Wenn die Maschine ankommt, werden gern Freunde eingeladen, die Schachtel steht mitten im Raum“, erzählt der Amerikaner Leander Kahney in seinem Bestseller „The Cult of Mac“, „dann werden erst mal Drinks serviert, die Lichter gedimmt, Kerzen angezündet, und endlich wird der neue Computer genussvoll und bei der richtigen Musik nach einem sorgfältigen Ritual ausgepackt.“

Das Ganze habe fast schon liturgischen Charakter. Und natürlich werde das Happening auch im Video dokumentiert und ins Web gestellt.

Auch Philip Torrone, Chefredakteur des US-Technologiemagazins „Make“, nahm schon öfter an solchen Konsum-Hochämtern teil und führt das Phänomen des Auspack-Rituals vor allem auf die raffiniert gestylten Apple-Verpackungen zurück. „Einen Mac packt man eben ganz anders aus als jede andere Maschine“, sagt Torrone, „es ist als würde man ein Kunstwerk enthüllen – das Ganze ist schon etwas rauschhaft.“

Aber was kann am Auspacken einer Schachtel so berauschend sein? Trendbeobachter wie Kahney sprechen in diesem Zusammenhang von „einer Art Technofetischismus“, der durchs raffinierte Verpackungsdesign noch potenziert wird. Die subtil und ästhetisch verhüllende Verpackung trägt eindeutig zur Wertigkeit und zur Faszination der Ware bei.

Wie sagt doch der Verpackungskünstler Christo: „Verhüllung ist Verheißung“ – je subtiler die Erstere, desto stärker die Letztere. Inzwischen haben die meisten Technologie-Markenartikler von den asiatischen Kamerabauern und Elektronikproduzenten bis zu den skandinavischen Handyanbietern ihre Lektion in Sachen Verpackung gelernt.

Als Marketing-Gag für sein i900-Omnia-Smartphone ließ der koreanische Elektronikkonzern Samsung sogar eigens ein Unpacking-Video produzieren, das mit raffinierten technischen Trickeffekten so sehr gespickt ist, dass es im Internet schon mehr als zwei Millionen Mal angeschaut und von Techno-Freaks als „Best unpacking video ever“ hochgelobt wurde.

Nach der ersten Berührung beginnt der graue Alltag

Techniker analysieren die Lust am Auspacken mit der ihrem Metier eigenen Nüchternheit und ziehen Parallelen zu menschlichen Beziehungen. Sie sagen, dass der unwiederbringliche und kurzlebige Reiz des Auspackens in der Unberührtheit, gleichsam der Jungfräulichkeit des neuen Technikprodukts liegt: Nach dem magischen Moment der ersten Berührung beginnt der graue Alltag des deflorierten Geräts mit allen seinen Bedienfehlern, Systemabstürzen, Softwareproblemen, Akkuschwächen und den ersten Kratzern.

Anthropologen wiederum vermuten, dass die Freude am Auspacken in den menschlichen Genen liegt, dass das lustvolle Entfernen der Verhüllung ein archaisches Grundbedürfnis des Menschen ist: die Geburt des Striptease aus der Lust am Auspacken. Die Erklärung der Philosophen schließlich fallen dichterisch überhöht aus.

Nehmen wir zum Beispiel die Definition des Kulturwissenschaftlers und Schriftstellers Ulrich Schödlbauer: „Die Lust an der Verpackung – das ist die Augen-Lust an der Schaufensterware, am Unberührten, gepaart mit der Lust am Aufreißen, am Zur-Sache-Kommen, am Demolieren und Verletzen – Letztere eine Vor-Lust, die im Vollzug ertrinkt, im Ärger über das unnütze Objekt, in der Selbstverletzung, die auf dem Grunde der Gier den Wunsch erfährt, in Ruhe gelassen zu werden, sich zu trollen.“

Das Auspacken mag also seine vielfältigen Reize haben, nicht zuletzt den exhibitionistischen Kitzel, wildfremde Menschen medial am eigenen Vergnügen teilhaben zu lassen. Und viele wollen es sehen, wie die hohen Klick-Raten der Auspack-Zeremonien beweisen. Inzwischen haben sich sogar schon einschlägige Web-Sites wie www.unboxing.com oder www.itsunboxed.com etabliert, die – nomen est omen – ausschließlich vom Unterhaltungswert des Auspackens leben.

Noch finanzieren sich solche Internet-Seiten über Anzeigen; doch die Initiatoren hoffen, dass ihre Zielgruppe eines Tages auch dafür zahlen wird, anderen beim Auspacken zuschauen zu dürfen. Immerhin, so argumentiert der Initiator von unboxing.com, Josh Bancroft, seien solche Spektakel unterhaltend und informativ.

Und schließlich würden die Menschen auch mit immer wachsender Faszination im Fernsehen anderen beim Kochen, Probieren und Genießen zuschauen, wo sie sich doch selbst an den Herd stellen und in den Töpfen rühren könnten.

Der eine oder andere Zuschauer hat beim virtuellen Auspacken zu Hause am Computermonitor dann sogar noch einen Lustgewinn, der tatsächlich die Nähe zur Erotik sucht. „Der Anblick eines halb ausgepackten Notebooks“, outete sich ein anonymer Chatter unlängst im amerikanischen Internet-Forum „MacNN“, „erregt mich eindeutig mehr als der einer halbnackten Frau."

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