Digitale Versicherungsfahnder Künstliche Intelligenz soll Versicherungsbetrug aufdecken

Versicherungsbetrüger erschleichen sich jedes Jahr hohe Summen, vor allem im Bereich der Kfz- und Krankenversicherung. Zur Bekämpfung setzt die Versicherungsbranche auf Digitalisierung, Kollege KI soll sie schnappen.

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Die Frau soll Betrügern das Handwerk legen. Als Sabine Walch zum Mikrophon greift, um für ihr Projekt zu pitchen, ist die 27-Jährige ganz schön nervös. Doch die Vertreter der 13 Versicherungen, die an diesem Abend im Münchner InsurTech Hub am Ostbahnhof nach neuen Ideen für ihre angestaubte Branche suchen, sind gleich Feuer und Flamme. Denn Walch spricht über „AvoCard“. Mit der Krankenversicherungskarte für privat Versicherte sollen Papierrechnungen künftig der Vergangenheit angehören. Die schnellere, weil automatisierte Abwicklung hätte gleich zwei Vorteile: Der Patient erspart sich das lästige Einreichen der Arztrechnung. Und weil die Honorarforderungen papierlos per App aus der Praxis direkt an die Versicherungen verschickt werden, könnte sie ganz nebenbei auch manipulierte PDFs und völlig erfundene Rechnungen verhindern.

Solche etwa, mit denen sich Mitglieder mehrerer Amateur-Fußballvereine in Berlin und Brandenburg bereicherten. Nach einer Razzia Mitte März verdächtigt das Berliner Landeskriminalamt insgesamt 25 Spieler. Mit gefälschten Attesten sollen sie in mehr als 100 Fällen Leistungen für angebliche Verletzungen kassiert haben.

„Das ist ein riesen Thema für die privaten Krankenversicherer,“ sagt Manuel Holzhauer, Managing Director des InsurTech Hub Munich, den die in Bayern konzentrierte deutsche Assekuranz vor knapp zwei Jahren als Accelerator gründete. Und so bekommt Walch beim diesjährigen Selection Day einen der zehn begehrten Plätze auf dem ehemaligen Werksgelände des Knödel-Herstellers Pfanni. Acht Wochen lang können die BWL-Studentin aus Österreich und ihr Team hier an ihrem Konzept für die Versicherungsbranche von morgen feilen.

Betrugsbekämpfung birgt enormes Potenzial

Wäre die betrugsfrei, würde sich die Branche nach internen Berechnungen allein in Deutschland jährlich rund fünf Milliarden Euro sparen. Weltweit erschleichen sich Versicherte schätzungsweise im selben Zeitraum mehrere hundert Milliarden. Die Summen erklären, warum Anti-Fraud-Programme gerade zu den Rennern bei der Digitalisierung der Versicherungen gehören.

„Systematische Betrugsbekämpfung birgt ein enormes Potenzial für die Versicherer,“ bestätigt Wolfgang Hauner, Chief Data Officer beim Rückversicherer Munich Re. Vor allem in den Sparten Kfz- und Krankenversicherungen. Während bei der Privathaftpflicht und den Hausratsversicherungen mengenmäßig viele dubiose Bagatellschäden auftreten, hat das organisierte Verbrechen seit einigen Jahren teure Unfallschäden und fingierte Arztrechnungen als Geschäftsmodell entdeckt. Gerade hat die Essener Polizei mehrere Mitglieder eines Familienclans dingfest gemacht, die über Jahre mit provozierten Unfällen viele 100.000 Euro abkassierten. Es war nicht der erste Clan, der mit dieser Masche ans Werk ging.

Ein Fahrzeug, das in Flammen aufgeht, weil dann eine Entschädigung von 25.000 Euro winkt, ein Einbruchschaden, der womöglich zu teuer abgerechnet wurde, Wasserrohre, die nur in der Fantasie barsten: Wer im Internet nach dem Stichwort „Versicherungsbetrug“ sucht, findet schnell ein großes Trick-Arsenal. Doch öffentlich werden nur die aufgedeckten Fälle.

Besonders brutal ging ein Betrügerkartell auf Sizilien vor: Sie brachen bedürftigen Menschen gegen Geldversprechen die Knochen und fingierten anschließend Unfälle, um bei den Versicherern zu kassieren. Nach der Festnahme von 42 Verdächtigen sprechen die Ermittler in Italien von zwei Millionen Euro Schaden - allein 2018.

Weil Versicherte aber viele Wochen oder gar Monate auf eine Erstattung warten müssten, würden Schadensachbearbeiter jede einzelne Forderung auf unwahre Angaben abklopfen, ist Kollege KI hier ein willkommener Mitarbeiter. „Mit künstlicher Intelligenz können wir den Betrug zwar nicht verhindern. Aber wir helfen, ihn zu entdecken,“ sagt Jeremy Jawish, CEO des 2014 gegründeten Insurtechs Shift Technology. Für seinen Algorithmus zur Aufdeckung betrügerischer Schadenmeldungen hat das junge Unternehmen aus Paris in der vierten Finanzierungsrunde gerade weitere 53 Millionen Euro eingesammelt.

Axa fahndet mit Sherlock

Einer von vielen Kunden in der Versicherungswirtschaft ist Axa. Der französische Konzern hat parallel ein eigenes Programm - Axa Sherlock - zur Betrugsbekämpfung entwickelt und arbeitet mit externen Insurtechs zusammen. „Man sieht zum Beispiel, ob eine Handynummer, mit der ein Schaden gemeldet wurde, schon bei drei weiteren Schadensfällen in den vergangenen sechs Monaten benutzt wurde. Oder ob ein Foto, das vermeintlich an der Unfallstelle gemacht worden ist, eigentlich woanders entstanden ist“, sagt Johannes Dick, Global Head of Data Analytics and Data Innovation bei der Axa Gruppe.

Die Software ersetze keine Mitarbeiter, vielmehr erleichtere sie ihnen die tägliche Arbeit und schütze zugleich ehrliche Kunden, so Dick. „Ohne eine professionelle Betrugsabwehr würde der Schadenaufwand steigen, was sich in steigenden Prämien für die gesamte Versichertengemeinschaft niederschlagen könnte.“

Betrüger seien meistens einen Schritt voraus, räumt der Manager ein. „Wir glauben aber auch, dass man mit unserer Technologie schneller aufholen und Betrugsmuster erkennen kann“. So schlage das System auch Alarm, wenn ein Unfallopfer angeblich in einem Krankenhaus behandelt wurde, das in Wahrheit weit entfernt vom Unfallort entfernt sei. „Das sind einfach Begebenheiten, die man sehr gut visualisieren kann. Wirklich tätig werden wir aber nur dann, wenn wesentliche Anhaltspunkte für einen Versicherungsbetrugs vorliegen.“

Manipulierten Schäden auf der Spur - mit digitaler Hilfe

Die Klientel soll sich nicht unter Generalverdacht fühlen oder gar durch ungerechtfertigt abschlägige Antworten vergrault werden. Zwei Zahlen zeigen das Dilemma: Auch wenn in Deutschland durchschnittlich zehn Prozent der Schadenmeldungen auf falschen Angaben beruhen, kommen jedes Jahr lediglich rund 5000 Fälle zur Anzeige. Wolfgang Hauner von der Munich Re kennt zudem die Sorge der Versicherer, bei der Schadenschätzung nicht zu tief zu liegen. „Sonst fühlt sich der Versicherte verschaukelt. Durch die Digitalisierung der Prozesse werden auch Verwaltungskosten eingespart.“

Der Clan im Ruhrgebiet flog schließlich auf, weil ein und dasselbe Fahrzeug binnen nur zwei Wochen in zwei Unfälle verwickelt war. Ein früher Einsatz von KI hätte womöglich größeren Schaden verhindern können. „Wir haben in Deutschland knapp einhundert Autoversicherer. Deshalb fallen atypische Schadenhäufungen womöglich erst mal gar nicht auf,“ sagt Peter Holmstoel, beim Gesamtverband der Versicherungswirtschaft für Kriminalitätsbekämpfung zuständig. „Die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, ist relativ gering. Die Digitalisierung kann helfen, auffällige Schäden zu erkennen und auszusteuern.“

Ohne technische Unterstützung, bestätigt Shift-CEO Jawish, liege die Aufdeckungsquote bei lediglich 15 Prozent. Das hatten er und Co-Gründer Eric Sibony als Studenten bei einem Praktikum in der Schadenabteilung eines Versicherers erfahren. „Da haben wir uns gesagt, dass wir unser eigenes Unternehmen gründen müssen.“ Shift bringe es heute schon auf 75 Prozent. Dazu haben die inzwischen 200 Mitarbeiter eng mit den Versicherungsunternehmen zusammengearbeitet und die Rechner mit vielen Millionen Schadenfällen gefüttert.

Wettrennen mit Betrügern

Ironischerweise hat die Digitalisierung zum Teil dazu beigetragen, dass Betrug heute einfacher erscheint als zu analogen Zeiten. So mancher Schaden entsteht erst - und ausschließlich - durch die digitale Bildbearbeitung; Apps, über die Entschädigungen nach den Bedürfnissen einer auf Schnelligkeit getrimmten Gesellschaft in Windeseile abgewickelt werden, fordern das System Versicherung zusätzlich heraus. „Betrüger sind immer einen Schritt voraus,“ räumt Axa-Manager Dick ein. „Wir glauben aber auch, dass man mit Technologie schneller aufholen kann und schneller Betrugsmuster erkennen kann.“

Auch die Branche setzt sich deshalb digital zur Wehr. „Ein echter Kratzer sieht pixelmäßig anders aus als einer, der mit Hilfe einer App in ein Foto integriert wurde,“ sagt Munich Re-Manager Hauner. Bei der Bilderkennung sei die Technik dem menschlichen Auge inzwischen weit voraus. Forensikexperten professionalisieren die von Maschinen gestützte Analyse von Texten und Zahlen, so dass ähnliche oder sogar gleich lautende Schadenmeldungen und auffällige Zahlenhäufungen Alarm auslösen. Soweit es der Datenschutz erlaubt, überprüfen die Versicherer im Zweifelsfall auch mögliche Beziehungen zwischen Zeugen, Unfall-Beteiligten, Gutachtern, Anwälten und behandelnden Ärzten.

„Die digitale Schadensteuerung wird über die nächsten Jahre eines der großen Themen in der Versicherungsbranche sein“, ist auch Christian Krams überzeugt. Er ist Leiter Schaden für die Unternehmen im Konzern Versicherungskammer und zugleich Vorstand bei der BavariaDirekt. Als digitaler Versicherer im Konzern ist die BavariaDirekt so etwas wie ein Versuchslabor für zahlreiche Zukunftsthemen. „Was bei der BavariaDirekt funktioniert übertragen wir so bald wie möglich auf die anderen Konzernunternehmen.“

KI-Systeme böten dem Sachbearbeiter gute Vorschläge zur Regulierung an - im Kundeninteresse und auch im Interesse unserer Unternehmen. Die Entscheidung trifft am Ende aber immer noch der einzelne Sachbearbeiter auf Grundlage seiner Fachkenntnis. Künstliche Intelligenz und Data Analytics können nur unterstützende Komponenten sein.

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