Helvetia-Chef Gmür „Wenn der Strom einfach abgestellt wird, springen wir nicht ein“

Überflutungen, Corona-Pandemie, mögliche Energieknappheit – die Versicherungsbranche ist mit immer größeren Risiken konfrontiert. Philipp Gmür, Chef der Schweizer Helvetia, über eine mögliche Pflichtversicherung für Gebäude und anspruchsvolle deutsche Kunden. 

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WirtschaftsWoche: Herr Gmür, die Helvetia zählt seit Jahrzehnten zu den größten Versicherungen der Schweiz, ist zuletzt aber vor allem stark durch Übernahmen im Ausland gewachsen. Warum müssen Sie zukaufen?
Philipp Gmür: Wir sind auch in der Schweiz stark gewachsen, haben uns aber das Ziel gesetzt, in den Ländern, in denen wir aktiv sind, bei unseren Spezialitäten zu den Marktführern zu zählen. Die Schweiz ist ein kleines Land, das Potenzial ist begrenzt. Vor allem durch eine große Übernahme in Spanien haben wir unser Segment Europa als zweites Standbein gestärkt. Zudem haben wir unser Geschäft dank dem Zuwachs in der Nichtlebenssparte besser ausbalanciert: Vorher waren wir etwas zu stark abhängig von Lebensversicherungen, was angesichts der dauerhaft niedrigen Zinsen weniger attraktiv war.  

Was ist das Ziel des Wachstumskurses?
Wir müssen unser Unternehmen agiler, innovativer und kundenzentrierter machen. Versicherungen können sich nur sehr begrenzt über ihre Produkte differenzieren, deshalb wird die Art und Weise des Kundenkontakts immer wichtiger. Wir müssen präsent sein, wenn Bedürfnisse entstehen – beim Buchen einer Reise, beim Kauf eines Fahrrads, beim Erwerb einer Immobilie. Deshalb suchen wir ständig neue Kooperationspartner, mit denen wir unser Angebot erweitern.

Wie sehen Ihre Pläne für Deutschland aus?
Deutschland ist unser ältester Auslandsmarkt, wir beschäftigen hier aktuell rund 800 Festangestellte und arbeiten neben der Ausschließlichkeitsorganisation mit etwa 6000 Maklern zusammen. Wir wollen das Geschäft ausbauen, konzentrieren uns dabei aber vor allem auf Nischen, in denen wir bereits stark sind. Dazu zählen etwa Angebote für kleine und mittlere Unternehmen, Wohngebäude oder auch Tierkrankenversicherungen.

Zur Person

Das klingt so, als wäre der deutsche Markt besonders schwer?
Deutschland ist sehr attraktiv, aber gerade deshalb ist der Wettbewerb auch sehr hoch. Die Margen sind permanent unter Druck. Zudem vergleichen Kunden die Angebote besonders intensiv und sind bei der Regulierung von Schäden anspruchsvoll.  

Sie sprechen den großen Einfluss von Vergleichsportalen wie Check24 an. Sind diese zu mächtig?
Sie sind vor allem sehr erfolgreich. Für uns ist es wichtig, dass wir nicht nur über Portale Leads generieren, sondern auch aus eigener Kraft mit Kunden in Kontakt kommen. Das gelingt uns bereits über unsere Makler. In der Schweiz profitieren wir zunehmend von unserer Digitaltochter Smile.

Jede Versicherung will das Digitalgeschäft forcieren. Was machen Sie anders?
Wer sich die Smile-App herunterlädt, bekommt von uns das Angebot einer kostenlosen Versicherung für den Onlinehandel. Wir erstatten Schäden bis zu 300 Euro, falls ein Paket beschädigt zugestellt wird. Wir haben errechnet, dass wir mit diesem Angebot günstiger mit Kunden in Kontakt kommen als über die etablierten digitalen Aggregatoren. Und das Angebot kommt an: In der Schweiz haben sich schon mehr als 50.000 Menschen die App heruntergeladen.

Wie wollen Sie diese dazu bringen, Versicherungen abzuschließen?
Wir können mit ihnen anlassbezogen über relevante Themen im Kontakt bleiben. Ein einfaches Beispiel: Wenn der Wetterbericht Hagel voraussagt, erinnern wir sie daran, ihr Auto möglichst in die Garage zu fahren. Wenn sie dann ein Versicherungsbedürfnis haben, kommen sie idealerweise direkt zu uns.

Helvetia-Chef Philipp Gmür Quelle: imago images

Wollen Sie mit Smile auch nach Deutschland expandieren?
Anders als die Digitalangebote vieler Wettbewerber ist Smile profitabel. Wir werden das Angebot auch in anderen Ländern zugänglich machen, starten aber zunächst in Österreich, wo das digitale Versicherungsgeschäft noch weniger entwickelt ist als in vielen anderen Ländern. Danach werden wir nach Spanien gehen. In Deutschland ist das Digitalangebot schon groß, wir wollen hier kein Lehrgeld bezahlen, sondern mit einer bereits erprobten Lösung an den Start gehen.

Wie viele andere Versicherungen hat auch die Helvetia Prozesse wegen der Corona-Pandemie geführt. Was sind Ihre Lehren aus den Verfahren?
Versicherungen haben schon lange auf das Risiko einer Pandemie aufmerksam gemacht, ohne dass viel passiert wäre. In der Schweiz und Deutschland ging es für uns unmittelbar vor allem um die Frage, ob Versicherungen gegen Betriebsschließungen das Corona-Risiko abdecken. Wir haben unseren Kunden Vergleich angeboten, aber einige haben trotzdem geklagt. In der Schweiz haben wir den Musterprozess für die Branche geführt – und gewonnen. Auch in Deutschland hat der Bundesgerichtshof im Sinne der Versicherer geurteilt. Die fraglichen Vertragsbedingungen haben wir mittlerweile angepasst, sodass es keinen Spielraum für Interpretationen mehr gibt.     

„Wichtig sind für uns vor allem die indirekten Risiken“

Ist es nicht unbefriedigend, dass Versicherer solche existenziellen Großrisiken nicht abdecken können.
Es stimmt, dass es heute im Grunde keine Deckungen für das Risiko einer Pandemie gibt. Das ist aus Sicht unserer Branche natürlich unbefriedigend. Es sind schließlich noch weitere Szenarien denkbar. Auch Cyberangriffe können unabsehbare, existenzielle Folgen haben.

Was ist zu tun?
Die Versicherungsbranche allein kann Schäden dieser Dimension schlicht nicht tragen. In der Schweiz könnten alle Anbieter zusammen vielleicht fünf oder zehn Prozent eines Großereignisses wie Corona decken. Wir können aber enger mit dem Staat zusammenarbeiten: Das beginnt schon bei Themen wie der Schadensermittlung und -abwicklung. Diese Themen sind nicht die Kompetenz des Staates, der deshalb teilweise viel zu viel bezahlt hat.

Damit ist aber kein möglicher Schaden abgesichert.
Wir sollten auch über innovative Lösungen nachdenken. Warum soll es nicht möglich sein, Pandemierisken zu verbriefen und dadurch handelbar zu machen? Das ist bei Naturkatastrophen seit Jahren möglich. Dafür bräuchte es einen klaren politischen Rahmen.

Auch Naturkatastrophen wie die Flut im Ahrtal haben Ihre Branche zuletzt intensiv beschäftigt.
Das Hochwasser im vergangenen Jahr hat Schäden in Höhe von 20 Milliarden Euro verursacht, nur etwa die Hälfte der Kunden war versichert. Das Ergebnis ist unbefriedigend. Wenn die Politik einspringt, ist es ungerecht gegenüber jenen Menschen, die selbst vorgesorgt haben. Andererseits kann man auch schlecht hinnehmen, dass viele Familien einfach ihr gesamtes Hab und Gut verlieren.

In den meisten Kantonen der Schweiz gibt es eine Pflichtversicherung für Gebäude, über die auch in Deutschland diskutiert wird.  Wäre das eine Lösung?
Sie wäre eine Option, aber ich bin grundsätzlich skeptisch gegenüber solchem staatlichen Zwang. Es wäre schon viel geholfen, wenn wir gemeinsam noch mehr aufklären würden, sodass die Menschen aus eigener Einsicht eine Police abschließen.     

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine konfrontiert Unternehmen mit neuen Risiken. Wären sie versichert, wenn der Strom ausfällt?
Folgen des Stromausfalls sind nur gedeckt, wenn sie wiederum die Folge eines versicherten Ereignisses sind – also etwa eines Brandes oder eines Einbruchs. Wenn der Strom einfach abgestellt wird, springen wir nicht ein.   

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Welche Risiken hat der Krieg dann für Ihre Branche?
Wichtig sind für uns vor allem die indirekten Risiken: Die Inflation treibt womöglich die Schadenssummen in die Höhe, sodass wir sicherstellen müssen, dass wir bei den Beiträgen rechtzeitig reagieren. Die direkten Risiken sind dagegen überschaubar. Wir haben einige Kunden nach Russland und in die Ukraine begleitet, bei denen sich nun spezielle Fragen stellen: Etwa die, ob Lager in Russland noch versichert sind. Wenn eine Fabrik bombardiert wird, fällt das unter die Kriegsklausel, sodass wir nicht für den Schaden aufkommen.

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