
Jacob Krause ist spät dran. Der junge Zahnarzt hat einen Beratungstermin bei einem Düsseldorfer Allianz-Vertreter. Über seine Altersvorsorge will sich der Berufsanfänger informieren, um 14.30 Uhr soll es losgehen. Mit ein paar Minuten Verspätung betritt er die Generalagentur. Der Vertreter und zwei weitere Herren mittleren Alters – alle leicht ergraut, dunkle Anzüge, dezente Krawatten – erwarten ihn bereits. „Ein großer Auflauf für die 300 Euro, die ich im Monat anlegen kann“, denkt Krause, als er der Sekretärin seine Jacke reicht.
Der Zahnarzt wird in ein schlichtes Nebenzimmer geführt, wo ihn die drei Vertreter ohne Umschweife ins Kreuzverhör nehmen: Wie sind Sie rentenversichert? Wer ist Ihr Arbeitgeber? Haben Sie Schulden? Krause redet und redet, die Verkäufer bohren nach. Irgendwann taucht eine Unstimmigkeit auf: Er hatte angegeben, privat krankenversichert zu sein, doch dafür ist sein Einkommen zu niedrig. Minutenlang reiten die Vertreter auf diesem Widerspruch herum. Die Stimmung wird eisiger.
Nach weiteren zähen Minuten findet das skurrile Verhör ein jähes Ende. „Sie haben auch bei anderen Allianz-Vertretern in Düsseldorf Termine gemacht“, platzt es aus dem Generalvertreter heraus. „Sie sind doch irgend so ein Tester. Wahrscheinlich von der Presse!“ Jacob Krause ist enttarnt. In Wahrheit ist er kein Zahnarzt, sondern ein Medizinstudent im achten Semester. Für einen Test der Verbraucherzentrale Bremen und der WirtschaftsWoche sollte er sich unter Vorgabe einer bestimmten Vita von der Allianz beraten lassen. Deshalb hatte er mehrere Termine bei Düsseldorfer Allianz-Vertretern gemacht.
Dem Generalvertreter wird klar: Eine Allianz fürs Leben wird das nicht mehr. Er vergisst sich. „Leute wie Sie mögen wir nicht und wollen wir hier nicht sehen“, beschimpft er den Studenten. „Ihre Termine bei den anderen Vertretern habe ich schon mal für Sie abgesagt. Da brauchen Sie gar nicht mehr hingehen. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen.“ Krause ist schon fast an der Tür, da ruft der Vertreter: „Wollen Sie die nicht mitnehmen?“ und wirft ihm seine Jacke hinterher. „Hoffentlich auf Nimmerwiedersehen!“
Kaum ist der Student zu Hause, sagt ein anderer Vertreter den bereits vereinbarten Termin ab. Am nächsten Tag folgen weitere Stornos. Die Düsseldorfer Allianz-Vertreter hätten die Chance gehabt, ihre Beratungskompetenz einem breiten Publikum unter Beweis zu stellen. Stattdessen werfen sie den Tester aus der Agentur und erklären ihn im gesamten Stadtgebiet zur Persona non grata.
Einen kritischen Kunden überzeugen – das traut sich die Allianz nicht mehr zu. Die Nerven liegen blank. Die rund 10.000 Vertreter-Agenturen kämpfen gegen schrumpfende Einkommen und immer höheren Verkaufsdruck. Der Innendienst bekommt die volle Wucht des größten Konzernumbaus der Firmengeschichte zu spüren. Das Top-Management versucht, die Allianz halbwegs unbeschadet durch die schwerste Finanzkrise der Nachkriegszeit zu navigieren. Dabei wird die angeschlagene Konzerntochter Dresdner Bank jedoch immer mehr zum gefährlichen Klotz am Bein. Und als wäre das Debakel mit der Dresdner nicht schon abgeschreckend genug, denkt Allianz-Chef Michael Diekmann auch noch darüber nach, die Postbank zu kaufen.
Und das sind nur die akuten Brandherde im Konzern. Die noch größere Herausforderung für Diekmann: Er muss die Rolle finden, die die Allianz in Zukunft überhaupt spielen soll. Sie gilt als Premiummarke unter den Versicherungen. Doch „Premium“ ist die Allianz vor allem beim Preis, weniger bei der Leistung. Deshalb verlor sie allein seit 2002 über eine Million Kunden in Deutschland. Diekmann will mit einer Kundenbindungsoffensive gegensteuern, die ihresgleichen sucht in der Branche. Wenn es ihm gelingt, das Ruder in Deutschland herumzureißen, wird der Heimatmarkt das Modell für den weltweiten Umbau des Versicherers. Wenn nicht, wird es eng für die Premiummarke Allianz.
Eigentlich eine absurde Vorstellung – zumindest auf den ersten Blick. Denn der Konzern fährt Riesengewinne ein, im vergangenen Jahr waren es satte acht Milliarden Euro, der höchste Gewinn, den ein deutsches Unternehmen je erwirtschaftet hat. Auch im Heimatmarkt Deutschland erzielt die Allianz gute Gewinne. 2007 konnte sie den Jahresüberschuss um 9,1 Prozent auf zwei Milliarden Euro steigern.
Der wichtigste Grund dafür ist die schier übermächtige Vertriebskraft der Allianz. Mit über 10.000 hauptberuflichen Vertretern beackert der Versicherer den Markt. Sie sind seit Jahrzehnten darauf trainiert, besonders rentable Produkte unters Volk zu bringen. So ist die Allianz bei Versicherungsprodukten, die außergewöhnlich rentabel sind, auch besonders stark – zum Beispiel bei der Unfallversicherung. „Das sind reine Gelddruckmaschinen“, sagt Versicherungsexperte Manfred Poweleit. „Die Allianz fördert den Verkauf solcher Produkte mit hohen Provisionen. Das ist nicht im Sinne des Kunden, der diese Versicherungen oft gar nicht braucht, aber im Sinne der Unternehmensgewinne.“
Dass bei den Allianz-Vertretern und der Allianz-Tochter Dresdner Bank häufig nach diesem Schema verkauft wird, zeigt der Beratungstest der Verbraucherzentrale Bremen im Auftrag der WirtschaftsWoche. In vielen Fällen empfahlen die Berater nicht die für die Kunden optimalen Produkte, sondern jene, die offensichtlich die größte Provision bringen.
„Das Ergebnis ist erschreckend, das hätte ich bei einem Marktführer wie der Allianz nie erwartet“, urteilt Finanzexperte Arno Gottschalk von der Verbraucherzentrale. „Es wurde schlampig beraten oder provisionsgetrieben, aber fast nie so, wie es sein soll“, kritisiert Gottschalk. „Mit viel Wohlwollen konnten wir einmal die Note „gut“ und viermal die Note „befriedigend“ vergeben. Im Durchschnitt waren die Beratungen jedoch mangelhaft.“
Den Grund des Übels erklärt ein bayrischer Allianz-Vertreter. Seit Jahren, so klagt er, würden die Verkaufsvorgaben durch den Konzern immer weiter heraufgesetzt. Das führe zu Abstrichen bei den Bonifikationen. „Um unser Einkommen einigermaßen stabil zu halten, müssten wir immer mehr verkaufen“, sagt der Verkäufer. „Bei vielen Kollegen bleibt da die Fairness auf der Strecke.“
Die Folge: Das einst blendende Image der Vertreter verliert seinen Glanz. Versicherungsmakler, die nicht fest an einen einzigen Anbieter gebunden sind, laufen ihnen immer mehr den Rang ab. In einer repräsentativen Umfrage des Marktforschers Dialego im Auftrag der WirtschaftsWoche wählten die Befragten nicht den Marktführer als vertrauenswürdigsten Versicherer Deutschlands, sondern die im Vergleich winzige Huk-Coburg; die Hälfte der befragten Allianz-Kunden fühlte sich zwar zunächst gut versichert, wurde im Schadensfall jedoch von der Versicherung enttäuscht.
Dabei sollten die Beratungsprobleme eigentlich der Vergangenheit angehören, glaubt man den Ankündigungen der Allianz. Bereits 2006 sagte der damalige Allianz-Vorstand Jan Carendi beim „Allianz Capital Markets Day“ in München, der Konzern wolle wachsen – aber nicht mehr um jeden Preis. Die Allianz könne nicht länger hinnehmen, wenn im Geschäft mit den Kunden kurzfristige Umsatzziele im Vordergrund stünden: „Wir wollen kein schlechtes Wachstum mehr.“
Offenbar ein frommer Wunsch. Die Vertriebsmethoden der Allianz und die mittelmäßigen Leistungen bei Produkten und Service haben sich inzwischen herumgesprochen. Dem Versicherungsriesen laufen die Kunden davon: In fast allen Versicherungssparten gingen 2007 die Beitragseinnahmen zurück, nur in der Lebensversicherung profitierte die Allianz von der guten Entwicklung des Altersvorsorge-marktes. Und das war kein einmaliger Ausrutscher. Seit 2002 verlor die Allianz teilweise bis zu 1000 Kunden pro Tag an ihre Wettbewerber, insgesamt über eine Million. Nur in der Lebensversicherung stieg der Marktanteil der Allianz in den letzten zehn Jahren um 1,4 Prozent. In den Sparten Sach-, Unfall- und Krankenversicherung ging er deutlich zurück.
Investoren haben schon lange Zweifel daran, dass die Konzernführung das gewaltige Ertragspotenzial des Marktführers voll ausschöpft – der Aktienkurs ist seit Juli 2007 von fast 180 auf 120 Euro zusammengeschmolzen. Dabei hat die Allianz die Reißleine schon vor zwei Jahren gezogen: Sie kündigte den radikalsten Konzernumbau ihrer Geschichte an: 15 Prozent der Vollzeitstellen werden abgebaut, 10 von 22 Standorten geschlossen – mit dramatischen Konsequenzen: Aufruhr unter den Vertretern, internes Chaos und für Kunden schmerzliche Service-Engpässe beim Aufbau neuer Unternehmensabläufe.
Seit ihrer Gründung 1890 verkauft die Allianz nicht nur Sicherheit, jahrzehntelang ist sie selbst ein Inbegriff von Sicherheit und Zuverlässigkeit – auch für ihre Mitarbeiter. „Einmal Allianzler, immer Allianzler“, heißt es bei Millionen Kunden und auch in der Belegschaft. Viele Mitarbeiter schließen mit der Allianz einen Bund fürs Leben, von der Ausbildung bis zur Rente. Im Nachkriegsdeutschland ist die Allianz eine echte Industrie-Ikone, und mit ihren Unternehmensbeteiligungen ist sie ein Dreh- und Angelpunkt der alten Deutschland AG. Zudem: Einem Unternehmen, das im Keller seines Münchner Hauptsitzes eine Kegelbahn betreibt und die Mitarbeiter in firmeneigene Erholungsheime am Bodensee schickt, kehrt man nicht so schnell den Rücken.
Mit der Deregulierung des Versicherungsmarkts 1994 weht ein erster kühler Hauch der Globalisierung durch die Flure der zwei Dutzend Allianz-Standorte in Deutschland. Vorbei die Zeiten, in denen die Finanzaufsicht die Tarife der Versicherer absegnete und die Anbieter in Nichtangriffsstellung verharrten. Es keimt etwas bis dahin Unbekanntes in der Branche auf: echter Wettbewerb. Doch es wird noch fast ein Jahrzehnt dauern, bis dieser Wettbewerb Spuren bei dem Marktführer hinterlässt.
Zuvor verleibt sich die Allianz noch die Vereinte Krankenversicherung ein, die Dresdner Bank und dit, den Deutschen Investment Trust. Damit hat der langjährige Vorstandschef Henning Schulte-Noelle einen Allfinanz-Konzern geschmiedet, der vom Aktienfonds bis zur Zahnzusatzversicherung die gesamte Palette von Finanzdienstleistungen im Portfolio hat. IFDL heiß das Zauberwort intern, „Integrierter Finanzdienstleister“.