Berlin, September 2004. Middelhoffs Arbeit beginnt mit einem Hilfeschrei. Per Interview gibt er die Tonlage für die kommenden Monate vor: Der Patient Karstadt liege „auf der Intensivstation“, es „geht ums Überleben“. Damit schockiert er Belegschaft und Politik und düpiert nebenher Vorstandschef Achenbach. Dass es schlimm steht, hatte man geahnt, aber so schlimm? Nach einem Essen mit Middelhoff poltert auch Kanzler Gerhard Schröder los, bei KarstadtQuelle sei „Managementversagen in seiner krassesten Form“ zu beobachten gewesen. Dieses Desaster dürfe der Politik „nicht einfach vor die Füße gekippt“ werden. Damit sind die Positionen klar – die Bundestagswahl ist noch ein Jahr hin, von der sozialdemokratischen Regierung ist keine Hilfe zu erwarten.
Gut möglich, dass der Konzern tatsächlich vor der Pleite steht. Möglich aber auch, dass Middelhoff die schlagzeilenträchtige Zuspitzung der Krise bewusst inszeniert hat. Denn erstmals frisst sich so die Insolvenz-Bedrohung in die Köpfe der Mitarbeiter. Betriebsrat und Gewerkschaft sind nun bereit, die Personalkosten bis 2007 um rund 760 Millionen Euro zu drücken. Die Anteilseigner schießen eine halbe Milliarde Euro frisches Kapital nach.
Hamburg, Oktober 2004. Alexander Otto meldet Interesse an den Filetstücken von Karstadt an. „Zehn bis zwölf Standorte könnten interessant sein“, sagt der Chef des Shoppingcenterbetreibers ECE.
Der Hamburger Konzern kann es sich leisten. Die anfängliche Skepsis der Branche gegenüber Otto ist längst der Überzeugung gewichen, dass er sein Unternehmen im Griff hat. Otto hat die Expansion nach Osteuropa vorangetrieben und damit ECE weniger anfällig für Konjunkturschwankungen im Inland gemacht. Dabei läuft es auch auf dem Heimatmarkt bestens. Während Karstadt ums Überleben kämpft, vermeldet ECE Umsatzzuwächse. Shoppingcenter hätten sich zum „Marktplatz einer Sonderkonjunktur entwickelt“, schreiben Fachmagazine.
Marktführer ECE profitiert davon besonders. Denn Ottos Strategie ist aufgegangen. Statt weiter auf der grünen Wiese zu wachsen, hat sich der ECE-Chef für neue Häuser die besten Innenstadtlagen gesichert. Das nimmt den örtlichen Bürgermeistern nicht nur die Angst vor verwaisten Citys, sondern erschließt auch ECE eine neue Zielgruppe: die Warenhaus-Kundschaft.
Denn vor allem die natürlichen Fressfeinde der Warenhäuser – Textilhändler wie H&M und Zara – siedeln in Ottos Einkaufskathedralen. Gegen die wendigen Konkurrenten, bei denen die Sortimente oft im Wochenrhythmus wechseln, haben die Kaufhausbunker aus den goldenen Sechzigern und Siebzigern keine Chance.
Achenbach wird öffentlich demontiert
Essen, Frühjahr 2005. Selten wurde ein Vorstandschef derart öffentlich demontiert wie Christoph Achenbach. Immer wieder entdeckt der Mann sein Konterfei in den Zeitungen, garniert mit Meldungen über neue Liquiditätsnöte und alte Fehler. Genüsslich wird vermerkt, dass Achenbach sich trotz aller Sanierungsaufgaben mehrfach Urlaub gegönnt hat. Als Quellen dienen „Unternehmenskreise“. Nach nicht einmal einem Jahr im Amt reicht es Achenbach, Anfang April quittiert er den Dienst. Middelhoff lässt sich nach kurzer Schamfrist vom Aufsichtsratsvorsitz auf den Vorstandsposten delegieren und managt selbst drauf los.
Desinvestitionen, Portfoliobereinigung, Freisetzung – solche Vokabeln beherrschen fortan die Zentrale. Ausgestattet mit einem permanenten Siegerlächeln, korrekt gescheiteltem Haar und reichlich Anglizismen im Sprachschatz gibt „Big T“ eher den kühnen Finanzinvestor als den bodenständigen Handelsmann ab. Innerhalb von drei Monaten schlägt er die Einzelhandelsketten SinnLeffers, Wehmeyer, Runners Point und Golf House los. Der wichtigste Deal ist der Verkauf von 75 kleineren Warenhäusern, die später den Traditionsnamen Hertie verpasst bekommen, an den britischen Finanzinvestor Dawnay Day. Für die maroden Häuser erzielt KarstadtQuelle die erstaunliche Summe von knapp 500 Millionen Euro.
Ein Taschengeld im Vergleich zu Middelhoffs Verkauf des Tafelsilbers ein Jahr später – den Warenhausimmobilien. Mit rund 1,3 Milliarden Euro steht das Paket in den Büchern. Doch mit der Investmentbank Goldman Sachs und später weiteren Geldgebern findet Middelhoff Investoren, die insgesamt 4,5 Milliarden Euro lockermachen. Auf den ersten Blick ein grandioses Geschäft, im Nachhinein ein toxischer Deal.
Denn durch den Immobilienverkauf wächst die Mietbelastung immens. Und Karstadt wird der Möglichkeit beraubt, unrentable Standorte dichtzumachen. Die neuen Verträge laufen über Jahrzehnte – Schließungen werden nun schlicht unbezahlbar.