
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist am 8. Juni 2009 erstmals erschienen und wird nochmals zu Dokumentationszwecken gezeigt. Nach dem Erscheinungsdatum wurden keine Akutalisierungen vorgenommen.
1999–2000: Die Fusion
Düsseldorf, 30. Juli 1999. Walter Deuss hat es geschafft. 93 Seiten Manuskript hat er verlesen, hat Kritik abperlen lassen und ist Fragen ausgewichen. Nun sind auch die letzten Nörgler verstummt, das Gros der Kleinaktionäre ist schon vor Stunden geflüchtet. Deuss sitzt unverdrossen auf dem Podium und lächelt sich dem Höhepunkt seiner Karriere entgegen. Gegen 23 Uhr ist es so weit: Der Karstadt-Chef kann die Entstehung eines neuen Handelsgiganten verkünden.
Seine Aktionäre haben der Verschmelzung von Karstadt und Quelle zugestimmt und damit einen Koloss geschaffen, der 16,5 Milliarden Euro umsetzen soll, 116.500 Mitarbeiter beschäftigt und mit einem Unternehmenswert von 4,5 Milliarden Euro zu den 30 Titeln im Deutschen Aktienindex Dax zählt. Nicht nur die Kernmarken Karstadt und Quelle, auch die Hertie-Warenhäuser, der Neckermann-Versand, die Runners-Point-Filialen, die Textilkette Wehmeyer und die WOM-Musikgeschäfte gehören zum fusionierten Unternehmen, das Deuss nun in die Zukunft führen soll.
Karstadts Krisen-Chronik
Mit seinem früheren Mutterkonzern Arcandor war Karstadt 2009 in die Insolvenz gerutscht. Im Juni 2010 stieg Investor Nicolas Berggruen ein. Von seinem Einspringen wurde die Wende erhofft. Die Chronik der Krise.
Für die wichtigsten Arcandor-Gesellschaften - darunter die Karstadt Warenhaus GmbH - wird am 1. September 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet.
Am 1. Dezember wird bekannt, dass zehn Karstadt-Standorte mit teils mehreren Häusern nach Angaben der Insolvenzverwaltung geschlossen werden sollen. Etwa 1200 Mitarbeiter sind betroffen.
Beim Essener Amtsgericht wird am 15. März ein Insolvenzplan vorgelegt. Am 12. April stimmen die Gläubiger dem Plan zu. Am 1. Juni haben von bundesweit 94 Kommunen bis auf drei bereits alle einem Verzicht auf die Gewerbesteuer zugestimmt. Die im Insolvenzplan geforderte Zustimmungsquote von 98 Prozent gilt damit als sicher. Nur sechs Tage später erhält die Berggruen Holding vom Gläubigerausschuss den Zuschlag zur Übernahme. Einen Tag später unterschreibt Berggruen den Kaufvertrag unter Vorbehalt. Berggruen fordert vom Karstadt-Standortvermieter Highstreet deutliche Mietsenkungen. Am 14. Juni endet eine erste Verhandlungsrunde zu den künftigen Mieten ohne Ergebnis. Am 20. Juni lehnt Berggruen ein Angebot von Highstreet über Mietsenkungen von mehr als 400 Millionen Euro ab.
Am 26. August hat sich Berggruen mit der Essener Valovis-Bank geeinigt: Die Bank hatte Highstreet ein Darlehen über 850 Millionen Euro gewährt und dafür im Gegenzug 53 Waren-, Sport- und Parkhäuser als Sicherheit erhalten. Man habe sich unter anderem darauf verständigt, dass Berggruen dieses Darlehen bis 2014 ablösen könne, heißt es. Am 2. September stimmen die Highstreet-Gläubiger den geforderten Mietsenkungen zu.
Am 30. September hebt das Essener Amtsgericht das Insolvenzverfahren auf. Damit erhält Berggruen zum 1. Oktober die Schlüsselgewalt für die Karstadt Warenhaus GmbH. 40.000 Gläubiger verzichten auf zwei Milliarden Euro. Die Belegschaft verzichtet auf 150 Millionen Euro.
23. November: Der frühere Woolworth-Manager Andrew Jennings wird zum neuen Karstadt-Chef bestellt. Er beginnt Anfang Januar 2011.
Jennings legt am 6. Juli das Konzept „Karstadt 2015“ vor: Modernisierung der Warenhäuser, stärkeres Online-Geschäft und Expansion der Sporthäuser sind der Kern.
Am 16. Juli kündigt Karstadt die Streichung von 2000 Stellen an.
Karstadt kündigt am 13. April 2013 eine „Tarifpause“ für die Beschäftigten an. Am 9. Juni bestätigt das Unternehmen, dass der Vertrag von Karstadt-Chef Jennings zum Jahresende ausläuft.
Im Februar kommt Ikea-Managerin Eva-Lotta Sjöstedt nach Essen und übernimmt den Geschäftsführerposten. Am 7. Juli legt Sjösted nach nur fünf Monaten alle Ämter nieder. Als Grund dafür nennt sie, dass die „Voraussetzungen“ für den von ihr angestrebten Weg nicht mehr gegeben seien.
Der Österreicher René Benko kauft Karstadt im August für nur einen Euro. Der bisherige Eigentümer Nicolas Berggruen zieht sich komplett zurück. Die Sanierungsaufgaben bleiben gewaltig.
Wohl niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass der Zusammenschluss der Auftakt zu einem in der deutschen Handelshistorie beispiellosen Drama um Managementversagen, strategische Fehler und Interessenkonflikte ist, dass mit der Fusion die Kernschmelze eines Konzerns beginnt.
Zehn Jahre später steht Arcandor, wie das Unternehmen nun heißt, vor dem GAU. Das Management bettelt in Berlin um Staatsbürgschaften und -kredite, ansonsten drohen Pleite oder Abwicklung. Doch selbst mit millionschweren Staatshilfen ist ein Kahlschlag unabwendbar – zu gründlich wurde der Konzern von seinen Spitzenkräften ruiniert.
Wenig Gegenliebe für den „Kuschelkurs“
Dass KarstadtQuelle innerhalb einer Dekade auf dem Grabbeltisch landen könnte, ist 1999 undenkbar. Das frisch fusionierte Unternehmen soll Online- und Auslandsmärkte erobern und die Marktführerschaft im Warenhausgeschäft verteidigen. Der Zusammenschluss sei ein „Geschenk des Himmels“, jubelt Deuss. Vor allem für ihn selbst.
Deuss ist ein Mann barocker Lebensart. Der 64-Jährige liebt Zigarren, geht mit seinem Aufsichtsratschef regelmäßig zur Jagd und führt die Firma, als gehöre sie ihm. Seit 1965 arbeitet Deuss bei Karstadt, 1982 übernimmt er das Vorstandszepter für 17 Jahre, in denen er sich meist auf das Verwalten beschränkt. Bei seinen Mitarbeitern ist „Papa Deuss“ beliebt. Denn mit Sparmaßnahmen oder gar Schließungen unrentabler Häuser mag der Handelsveteran seine sorgsam austarierten Beziehungen zu Gewerkschaften und Betriebsräten nicht belasten.
Bei den bisherigen Anteilseignern stößt der Kuschelkurs von „Mister Karstadt“ jedoch auf immer weniger Begeisterung, seit die Umsätze schwinden. Wohl auch deshalb treibt Deuss die Karstadt-Quelle-Fusion voran: Der Konzern bekommt mit dem fränkischen Schickedanz-Clan einen Großaktionär, der auf Deuss’ Dienste nicht verzichten mag. Immerhin ist er ein Garant für Ruhe im Unternehmen. Mit der Beförderung des Karstadt-Mannes an die Konzernspitze vermeiden die Quelle-Erben Schickedanz zudem den Eindruck einer feindlichen Übernahme. Um der Liaison aber Tempo mitzugeben, wird Deuss der Schickedanz-Manager Wolfgang Urban zur Seite gestellt. Während Deuss über das Gesamtgebilde wacht, soll sich Urban um die Warenhäuser kümmern.
Hersbruck, August 1999. In der fränkischen Kleinstadt Hersbruck nimmt man das „Geschenk des Himmels“ kaum wahr. Deutschland fiebert der großen Sonnenfinsternis entgegen, der Sommerschlussverkauf geht in die zweite Woche, es gibt Wichtigeres als KarstadtQuelle. Ein bisschen stolz sei man aber schon, dass der Name Schickedanz jetzt so oft in den Zeitungen stehe, hören die 68 Mitarbeiter des Schickedanz-Kaufhauses von ihren Kunden.
Die 12.500 Einwohner Hersbrucks können in dem zweistöckigen Gebäude am Markt Wäsche und Kleidung kaufen, ohne dafür ins 30 Kilometer entfernte Nürnberg zu fahren. Viel Geld verdient der Betreiber – der Quelle-Versand – zwar nicht. Doch das Haus hat nostalgischen Wert. Das „Lädle“, wie das Geschäft bei den Hersbruckern heißt, war einst die Lebensversicherung der Quelle-Inhaber. Gustav Schickedanz hatte den Versandhandel 1927 gegründet. Nach dem Krieg wurde er von den Amerikanern wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft kaltgestellt. Das ist die Stunde seiner Frau Grete. Sie eröffnet in Hersbruck ihr „Lädle“, ein kleines Textilgeschäft, mit dem sie die Familie über Wasser hält, bevor sie 1948 mit dem Quelle-Versand in Fürth neu startet. Die Tochter des Gründerpaars, Madeleine Schickedanz, hat noch immer einen Wohnsitz in der elterlichen Fachwerkvilla in Hersbruck.